Vom Auflösen einer Bibliothek
Mein letztes Buch
Kann man ohne Bücher leben? Unser Autor Malte Herwig beginnt vor der Leipziger Buchmesse mit einem Selbstversuch und löst seine Bibliothek auf.
Ich habe nichts gegen Bücher. Überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich lese gern und viel: Sachbücher, Belletristik, Thriller, Gedichte – was mir unter die Finger kommt. Und ich liebe meine Bibliothek. Aber ich lege keinen Wert darauf, vor dicken Lederbänden fotografiert zu werden.
Die bürgerliche Buchtapete kenne ich aus meiner Kindheit. Auf den Regalen meines Vaters stehen noch immer Enzyklopädien, Kunstbände, Briefeditionen von Goethe bis Adenauer. In keines dieser Bücher hat er je hineingeschaut. Dafür hat er jeden Abend mit Hingabe Kriminalromane gelesen. Die stehen in der zweiten Reihe – hinter den Lederbänden versteckt. Auch bei mir stehen die Bücher in zwei Reihen, aber aus Platznot. Auf halsbrecherische Weise übereinander gebaute Billy-Regale türmen sich im Flur unserer Wohnung 3,40 Meter hoch bis zur Decke. Ich habe gezählt: neun Regale, jedes hat zehn Fächer mit ungefähr 50 Büchern in zwei Reihen. Das macht rund 4500 Bücher. Bei jedem Umzug werden sie ein-, aus- und umgepackt. Aber nicht gelesen. Und bei Bedarf liegt das richtige Buch immer irgendwo in der hintersten Kellerecke.
Damit ist nun Schluss. Vor ein paar Monaten habe ich mir eine Guillotine besorgt. So nennt man in England Geräte, mit denen man große Mengen Papier schneiden kann. In Deutschland heißen sie „Stapelschneider“ und sind irrsinnig teuer. Das Ding wiegt 25 Kilogramm, und der Paketbote hatte Mühe, es hoch in meine Wohnung zu schleppen. Jetzt steht es da in einer Ecke und riecht nach Öl und Metall. Kein Qualitätswerkzeug, sondern ein Massenprodukt. Aber das Messer ist scharf, sehr scharf.
Der erste Versuch: Ich nehme ein Taschenbuch von 300 Seiten aus meinem Bücherregal und spanne es in den Rahmen. Die Guillotine gleitet durch das Papier wie durch Butter und trennt den Rücken vom Buchblock. Ich stecke die losen Blätter in einen schnellen Scanner, der pro Minute zwanzig Doppelseiten einliest. Nach weniger als zehn Minuten taucht der Text auf dem Bildschirm des angeschlossenen Computers wieder auf. Das Papier werfe ich fort, der abgeschnittene Buchrücken wandert in einen Karton. Eine Software zur Texterkennung wandelt die Scans wieder in Buchstabenfolgen um und zaubert sie im letzten Schritt drahtlos auf den Bildschirm meines E-Book-Readers.
Einspannen, abschneiden, einscannen, konvertieren. Wie leicht das war. Kein Widerstand, kein Laut außer dem Schmatzen der Guillotine und dem Surren des Scanners. Beim ersten Hardcover habe ich noch ein mulmiges Gefühl: Ich muss den Einband vom Buch reißen, bevor ich es auf die Guillotine lege. Aber zerstört wird ja nur der Träger, nicht der Text. Noch am gleichen Tag erlöse ich ein halbes Dutzend weiterer Bücher aus ihrer irdischen Existenz und schicke sie ins virtuelle Jenseits. In meine neue, meine entleibte Bibliothek.
So geriet ich unter die Revolutionäre. Aber nicht aus Neigung, sondern aus Neugier. Ich habe beschlossen, meine Bibliothek innerhalb eines Jahres bis auf ein Buch aufzulösen, zu verschenken, zu spenden – oder eben einzuscannen. Die Revolution, die ich meine, hat ja längst begonnen: Das Buch ist tot, es lebe das E-Book, tönt es immer wieder aus Internetforen und Blogs. Der Internet-Buchhändler Amazon verkauft mehr elektronische als gedruckte Bücher. Aber mich interessieren weniger Statistiken und Branchenzahlen. Ich will wissen, wie sich für uns Leser die Welt von morgen anfühlen wird, wenn gedruckte Bücher so selten sind wie heute Telefonzellen. Bei Zeitungen und Magazinen haben wir uns schon daran gewöhnt, Artikel online zu lesen. Aber Romane, Gedichte, dicke Wälzer? Wie fühlt sich das an, wenn man auf einmal mehr Hemden im Schrank hat als Bücher an der Wand?
Vor ein paar Monaten habe ich damit angefangen. Zuerst heimlich. Das Bücherzerschneiden, fürchtete ich, gilt unter Bildungsbürgern als Frevel. Die Bibliothek aus Papier und Tinte gehört da zum guten Ton. Dann offenbarte ich mich einem guten Freund. Das hier ist mein Coming-Out.
Auf meinen E-Book-Reader passen bis zu 3000 Bücher. Im Bett ist es besonders bequem, das leichte Ding in der Hand zu halten. Dank der elektronischen Tinte hat man nicht das Gefühl, auf einen Bildschirm zu starren. Sogar in der Badewanne kann ich damit lesen – ein verschließbarer Gefrierbeutel, in den ich das Gerät stecke, macht es möglich.
Als erstes lese ich die amerikanische Originalausgabe von Jonathan Steinbergs grandioser Bismarck-Biografie. Auf deutsch ist sie da noch gar nicht erschienen, und das gedruckte Buch hätte mit der Post zwei Wochen von den USA aus gebraucht. Als nächstes nehme ich mir Banesh Hoffmanns Einstein-Buch vor, das ich gerade eingescannt habe. Meine Taschenbuchausgabe hatte nicht mal ein Register, im E-Reader kann ich auf den Volltext und sogar auf das eingebaute Wörterbuch zugreifen.
Die bürgerliche Buchtapete kenne ich aus meiner Kindheit. Auf den Regalen meines Vaters stehen noch immer Enzyklopädien, Kunstbände, Briefeditionen von Goethe bis Adenauer. In keines dieser Bücher hat er je hineingeschaut. Dafür hat er jeden Abend mit Hingabe Kriminalromane gelesen. Die stehen in der zweiten Reihe – hinter den Lederbänden versteckt. Auch bei mir stehen die Bücher in zwei Reihen, aber aus Platznot. Auf halsbrecherische Weise übereinander gebaute Billy-Regale türmen sich im Flur unserer Wohnung 3,40 Meter hoch bis zur Decke. Ich habe gezählt: neun Regale, jedes hat zehn Fächer mit ungefähr 50 Büchern in zwei Reihen. Das macht rund 4500 Bücher. Bei jedem Umzug werden sie ein-, aus- und umgepackt. Aber nicht gelesen. Und bei Bedarf liegt das richtige Buch immer irgendwo in der hintersten Kellerecke.
Damit ist nun Schluss. Vor ein paar Monaten habe ich mir eine Guillotine besorgt. So nennt man in England Geräte, mit denen man große Mengen Papier schneiden kann. In Deutschland heißen sie „Stapelschneider“ und sind irrsinnig teuer. Das Ding wiegt 25 Kilogramm, und der Paketbote hatte Mühe, es hoch in meine Wohnung zu schleppen. Jetzt steht es da in einer Ecke und riecht nach Öl und Metall. Kein Qualitätswerkzeug, sondern ein Massenprodukt. Aber das Messer ist scharf, sehr scharf.
Der erste Versuch: Ich nehme ein Taschenbuch von 300 Seiten aus meinem Bücherregal und spanne es in den Rahmen. Die Guillotine gleitet durch das Papier wie durch Butter und trennt den Rücken vom Buchblock. Ich stecke die losen Blätter in einen schnellen Scanner, der pro Minute zwanzig Doppelseiten einliest. Nach weniger als zehn Minuten taucht der Text auf dem Bildschirm des angeschlossenen Computers wieder auf. Das Papier werfe ich fort, der abgeschnittene Buchrücken wandert in einen Karton. Eine Software zur Texterkennung wandelt die Scans wieder in Buchstabenfolgen um und zaubert sie im letzten Schritt drahtlos auf den Bildschirm meines E-Book-Readers.
Einspannen, abschneiden, einscannen, konvertieren. Wie leicht das war. Kein Widerstand, kein Laut außer dem Schmatzen der Guillotine und dem Surren des Scanners. Beim ersten Hardcover habe ich noch ein mulmiges Gefühl: Ich muss den Einband vom Buch reißen, bevor ich es auf die Guillotine lege. Aber zerstört wird ja nur der Träger, nicht der Text. Noch am gleichen Tag erlöse ich ein halbes Dutzend weiterer Bücher aus ihrer irdischen Existenz und schicke sie ins virtuelle Jenseits. In meine neue, meine entleibte Bibliothek.
So geriet ich unter die Revolutionäre. Aber nicht aus Neigung, sondern aus Neugier. Ich habe beschlossen, meine Bibliothek innerhalb eines Jahres bis auf ein Buch aufzulösen, zu verschenken, zu spenden – oder eben einzuscannen. Die Revolution, die ich meine, hat ja längst begonnen: Das Buch ist tot, es lebe das E-Book, tönt es immer wieder aus Internetforen und Blogs. Der Internet-Buchhändler Amazon verkauft mehr elektronische als gedruckte Bücher. Aber mich interessieren weniger Statistiken und Branchenzahlen. Ich will wissen, wie sich für uns Leser die Welt von morgen anfühlen wird, wenn gedruckte Bücher so selten sind wie heute Telefonzellen. Bei Zeitungen und Magazinen haben wir uns schon daran gewöhnt, Artikel online zu lesen. Aber Romane, Gedichte, dicke Wälzer? Wie fühlt sich das an, wenn man auf einmal mehr Hemden im Schrank hat als Bücher an der Wand?
Vor ein paar Monaten habe ich damit angefangen. Zuerst heimlich. Das Bücherzerschneiden, fürchtete ich, gilt unter Bildungsbürgern als Frevel. Die Bibliothek aus Papier und Tinte gehört da zum guten Ton. Dann offenbarte ich mich einem guten Freund. Das hier ist mein Coming-Out.
Kultureller Wandel
Bald entdeckte ich Gleichgesinnte. Im Internet entdeckte ich Foren von Scan-Aktivisten, die ihre Erfahrungen beim Digitalisieren von Büchern austauschen. Professionelle Buchscanner kosten mehrere tausend Euro. Aber auf Webseiten wie DIY Bookscanner gibt es Baupläne zum Selberbasteln. Mit kostenloser Software wie dem Programm „calibre“ kann man die eingelesenen Daten dann ins passende E-Book-Format umwandeln. Wer verstehen will, wie schnell sich die Buchkultur verändert, muss sich nur die Regalhersteller anschauen. Der IKEA-Katalog ist ja das verlässlichste Kursbuch gesellschaftlichen Wandels. Und IKEA hat seit kurzem das „Billy“, den Klassiker aller Buchregale, in einer tieferen Version im Programm – für Leute, die keine gedruckten Bücher mehr haben, sondern Vasen, Designobjekte und anderen Krimskrams.Auf meinen E-Book-Reader passen bis zu 3000 Bücher. Im Bett ist es besonders bequem, das leichte Ding in der Hand zu halten. Dank der elektronischen Tinte hat man nicht das Gefühl, auf einen Bildschirm zu starren. Sogar in der Badewanne kann ich damit lesen – ein verschließbarer Gefrierbeutel, in den ich das Gerät stecke, macht es möglich.
Als erstes lese ich die amerikanische Originalausgabe von Jonathan Steinbergs grandioser Bismarck-Biografie. Auf deutsch ist sie da noch gar nicht erschienen, und das gedruckte Buch hätte mit der Post zwei Wochen von den USA aus gebraucht. Als nächstes nehme ich mir Banesh Hoffmanns Einstein-Buch vor, das ich gerade eingescannt habe. Meine Taschenbuchausgabe hatte nicht mal ein Register, im E-Reader kann ich auf den Volltext und sogar auf das eingebaute Wörterbuch zugreifen.
Dr. Malte Herwig ist Reporter und Autor. Zuletzt erschien „Die Frau, die Nein sagt. Rebellin, Muse, Malerin - Françoise Gilot über ihr Leben mit und ohne Picasso “ (Ankerherz Verlag 2015). Für das Rotary Magazin befragt er regelmäßig Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Gesellschaft. malteherwig.com
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