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Eliteunis in den USA

Schlaue Schafe

Malte Herwig15.05.2015

Achtung, Quizfrage: Von wem stammt folgendes Zitat: „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“? Seneca sagen Sie? Tut mir leid: Damit wären Sie jetzt schon durchgefallen, wenn Sie am Aufnahmeverfahren einer der großen amerikanischen Eliteuniversitäten teilgenommen hätten. Tatsächlich schrieb der römische Philosoph genau das Gegenteil: „Nicht für das Leben lernen wir, sondern für die Schule“. Der Satz stammt aus einem Brief Senecas und ist als beißende Kritik an den Philosophenschulen des alten Rom gemeint.

Zweitausend Jahre später hat der alte Seneca in William Deresiewicz einen würdigen Nachfolger gefunden. Der amerikanische Schriftsteller hat vor kurzem eine vernichtende Kritik der amerikanischen Elite-Universitäten veröffentlicht. Sein Buch „Excellent Sheep. The Miseducation of the American Elite“ (Hervorragende Schafe. Die falsche Erziehung der amerikanischen Elite) kletterte sogleich auf die Bestsellerliste der New York Times und löste eine hitzige Debatte über die Vor- und Nachteile des Systems von Spitzenuniversitäten aus.

Falsche Elitenbildung

Der Ivy League – die aus Harvard, Yale, Columbia, Princeton und anderen führenden Universitäten an der amerikanischen Ostküste besteht – wirft Deresiewicz vor, aus Hochbegabten angepasste Hochleister ohne Vision und moralischen Kompass zu züchten. „Unser elitäres Erziehungssystem produziert junge Menschen, die schlau, talentiert und ehrgeizig sind, jedoch gleichzeitig ängstlich, zögerlich und verwirrt, ohne große intellektuelle Neugier und ohne inneres Ziel. Gefangen im goldenen Käfig ihrer Privilegien streben sie allesamt brav in die gleiche Richtung. Was sie tun, beherrschen sie perfekt, ohne zu wissen, warum sie es tun.“

Deresiewicz weiß, wovon er spricht. Er promovierte in den 1990er Jahren an der renommierten Columbia University in New York und unterrichtete dann zehn Jahre lang als Professor an der Yale University. Er ist ein Insider. Unter anderem war er auch als Mitglied von Aufnahmekommissionen tätig, die über die Wohl und Wehe der Kandidaten entscheiden. Klar ist bei solchen Veranstaltungen: Nur die wenigsten kommen durch. Die Universität Harvard in Cambridge, Massachusetts, zum Beispiel nahm 2013 nur sechs Prozent aller Bewerber auf.

Um die „besten“ Kandidaten herauszufiltern, bedienen sich die Aufnahmekommissionen eines ausgeklügelten Bewertungssystems, mit dessen Hilfe die Qualitäten der angehenden Studentinnen und Studenten in Zahlen und Leistungsindizes übertragen werden. Die erste Hürde sind natürlich die Schulnoten sowie standardisierte Leistungstests wie der SAT. Doch es reicht längst nicht mehr, einfach Top-Noten zu haben und intellektuell zu brillieren. Ein halbes Dutzend außerschulische Aktivitäten und nachweisbares gesellschaftliches Engagement gehören zur Mindestanforderung. Da genügt es nicht, in der Theater-AG der Schule mitzuspielen, man muss sie schon geleitet oder am besten noch eigene Stücke geschrieben haben.

Edukatives Wettrüsten

Das totale Leistungsprinzip scheint auf den ersten Blick fair: Nicht Herkunft oder Vermögen entscheiden über die Zulassung, sondern messbare Leistung wie im Sport. Tatsächlich, lautet Deresiewiczs Kritik, sei das Zulassungssystem alles andere als meritokratisch.

Da sich inzwischen längst herumgesprochen hat, dass nicht nur Wissen, sondern auch Kriterien wie Auftreten, Schlagfertigkeit und Geschmeidigkeit erforderlich sind, um einen Platz an einer der Topuniversitäten zu ergattern, hat sich inzwischen eine private Bildungsindustrie herausgebildet, die für teures Geld die Kinder wohlhabender Eltern mit Coachings und Repetitorien in Form für die Ivy League bringt. Von klein auf werden zukünftige Studenten darauf gedrillt, ihre Prüfungsleistungen zu perfektionieren. Die Folge: ein „Wettrüsten der Bewerbungsschreiben“ – und Rüstung kostet bekanntlich viel Geld.

Kooptierung von Gleichgesinnten

Das US-Bildungssystem ist zwar horizontal durchlässiger geworden, seit die Zulassung von ethnischen Minderheiten und der Ausgleich zwischen den Geschlechtern gefördert wird. Doch die wirtschaftliche Ungleichheit, kritisiert Deresiewicz, sei so groß wie seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts nicht mehr – mit drastischen Folgen für die Gesellschaft.

Dass die Chance auf sozialen Aufstieg in den USA geringer ist als in fast allen anderen entwickelten Ländern, legt Deresiewicz vor allem den Spitzenuniversitäten zur Last. Je prestigeträchtiger eine Hochschule, desto homogener ist ihre Studentenschaft – mit steigender Tendenz. An den besten Universitäten kommen lediglich 15 Prozent der Studentenschaft aus der untersten Hälfte der Einkommensverteilung. „Eliteuniversitäten stehen dem Problem einer immer ungerechter werdenden Gesellschaft nicht nur hilflos gegenüber, ihre Methoden fördern diese Ungerechtigkeit aktiv“.

Eliteinstitutionen arbeiten weniger meritokratisch als vielmehr durch Kooptierung von Gleichgesinnten. Wer zu uns passt, den nehmen wir. Daran kann auch das ausgeklügeltste Aufnahmeverfahren nichts ändern, solange die Voraussetzungen für den Erfolg schon viel früher in Elternhaus, Kindergarten und Schule geschaffen werden.

Rund ein Drittel aller US-Präsidenten absolvierten eine der Elitehochschulen des Landes. Die prestigeträchtigen Institutionen verstehen sich also nicht zu Unrecht als Kaderschmieden, und die Studenten, die horrende Studiengebühren zahlen müssen, hoffen auf einen möglichst guten return on investment. Am Ende, so Deresiewicz, zähle für Universität wie Absolvent nur die eigene Karriere: „Führung bedeutet nichts mehr als sich zur Spitze emporzukämpfen“. So wird eine Generation von egoistischen, risikoscheuen und anpassungsfähigen Technokraten gezüchtet.

Wer sich auf dem Lebenslauf keinen Fehler leisten kann, versucht von vornherein jede Fehlermöglichkeit auszuschließen. Wagemut und Experimente sind nicht vorgesehen, obwohl genau sie nicht nur in den Naturwissenschaften zu den größten Errungenschaften der Menschheit beigetragen haben. Kein Zufall, dass rund ein Drittel aller Elite-Absolventen schnurstracks in die Finanzbranche oder Wirtschaftsberatung gehen. Eine Laufbahn als einfacher Mediziner, Rechtsanwalt oder Lehrer scheint den meisten längst nicht mehr finanziell attraktiv genug. Damit drohe, warnt Deresiewicz, ganzen Berufszweigen wie Kirche, Wissenschaft oder Militär der talentierteste Nachwuchs zu entgehen.

Jenseits des Vorgegebenen

Deresiewicz kritisiert die Elite-Zöglinge als extrem risikoscheu und verspottet die Mehrheit seiner ehemaligen Studenten gar als „bionische Hamster“ und „Zombies“: „Die meisten schienen damit zufrieden zu sein, sich innerhalb des vorgegebenen Rahmens ihrer Erziehung zu bewegen. Sehr wenige brannten leidenschaftlich für irgendeine Idee. Sehr wenige sahen ihr Studium als Teil eines größeren Projekts geistiger Entdeckungen und persönlicher Bildung. Alle kleideten sie sich, als müssten sie jederzeit für ein Jobinterview zur Verfügung stehen”.

Man könnte Deresiewicz nun vorwerfen, dass seine Vorstellung von einem Studium für ein besseres „bedeutungsvolles“ Leben recht nebulös und altmodisch klingt. Der leutselige Hinweis an junge Studierende, auch „mal rechts und links“ zu schauen, kommt ja meist von Leuten, die alle Prüfungen (der Universität, nicht des Lebens) schon hinter sich haben.

Erkenntnisse für Deutschland

Doch auch wenn wir in Deutschland keine etablierten Eliteuniversitäten haben, können wir von der amerikanischen Debatte lernen, die Deresiewicz angestoßen hat. Dabei geht es weniger um soziale Ungerechtigkeit – obwohl es auch die im deutschen Bildungssystem gibt – als vielmehr um die Frage, welche Ziele die Ausbildung an unseren Universitäten im 21. Jahrhundert haben soll.

Mit der Einführung von Bildungs-Credits, Evaluationsprogrammen und zunehmender Verschulung des Bachelors laufen wir auch in Deutschland und Europa Gefahr, eine Generation von risikoscheuen, leistungsoptimierten Lemmingen zu erzeugen. Den heutigen Studierenden kann man keinen Vorwurf daraus machen, sie müssen sich durch das System von Zulassungsprüfungen, „Modulen“ und „Leistungskrediten“ kämpfen, das ihnen von der europäischen Bildungsbürokratie vorgesetzt wurde. Gleichzeitig hat sich die Betreuungsrelation zwischen Studenten und Lehrkräften verschlechtert. Die Zeitschrift „Forschung und Lehre“ berichtet, dass 2013 auf einen Hochschullehrer 65 Studierende kommen.

Die durchgetakteten dreijährigen Bachelor-Kurse machen den Wechsel in ein anderes Studienfach schwierig. Die Verschulung sorgt für konstanten Prüfungsdruck. Für die meisten Studenten bedeutet das: Nur was berufsqualifizierend ist, kann ich mir zeitlich leisten. Der beruflichen Selbstoptimierung der Studierenden entspricht die zunehmende unternehmerische Ausrichtung von Universitäten, die ihre Ressourcen von der Grundlagenforschung abziehen und auf wirtschaftsnahe Forschungsfelder verlegen, um mehr Drittmittel einzufahren.

Universitäten sind teuer – auch für den Steuerzahler. Wollen wir all das Geld wirklich in ein System stecken, damit es am Ende „schlaue Schafe“ produziert? Es wäre nicht schlecht, bei zukünftigen Hochschulreformen daran zu denken, dass die Maximierung des wirtschaftlichen Nutzens nicht das alleinige Ziel universitären Lehre und Forschung sein kann. Die Chemie wurde als Wissenschaft erst dann erfolgreich, als sie nicht mehr aus Blei Gold zu machen versuchte, sondern sich der Grundlagenforschung verschrieb. Wir sollten dafür sorgen, dass aus zukünftigen Studenten keine Bleisoldaten, sondern Goldkinder werden.