Eine Epoche geht zu Ende
Zum Tode von Günter Grass
Mit dem Tode von Günter Grass geht eine Epoche zu Ende. Der Danziger Schriftsteller gehörte einer Generation an, die das Schicksal Deutschlands über Jahrzehnte geprägt hat. Der Publizist Malte Herwig hatte erst vor kurzem im Rotary Magazin über diese „Flakhelfer“ geschrieben:
Was muss das für ein Sommer gewesen sein vor siebzig Jahren. Der Krieg war vorbei, Deutschland war zertrümmert und Hitler tot. Hunderttausende Väter, Brüder und Söhne in Kriegsgefangenschaft. Schuld und Scham der Überlebenden angesichts der deutschen Verbrechen, deren Ausmaß sich immer deutlicher abzeichnete. In den Erinnerungen der Eltern und Großeltern folgten harte Winter und Hunger bis zur Währungsreform.
Doch für eine Generation war 1945 der Sommer des Jahrhunderts. Er habe den ganzen heißen Sommer lang gelesen, erinnert sich der Schriftsteller Martin Walser, Jahrgang 1927: „Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen heute, was für eine Explosion an Lebensfreude das war, und da hat man sich überhaupt nicht gekümmert um das, was vorher war. Da ging es nur: jetzt, jetzt, jetzt, jetzt“.
Der Schriftsteller Erich Loest, Jahrgang 1926, versteckte sich im Mai 1945 mit seiner Wehrwolf-Einheit in einer Scheune, als ihn die Nachricht von Hitlers Tod überrascht und zu neuem Leben erweckt: „Da lag ich und dann hörte ich, wie auf dem Bauernhof das Leben losging. Da wurde eine Türe geschlagen, da klapperte ein Melkeimer. Und ich musste dringend schiffen. Also bin ich aufgestanden und habe den Balken runtergeschifft. Und das war Leben, die erste Form. Ich lebte weiter.“
Auch der Kriegsgefangene Günter Grass, Jahrgang 1927, erlebte im amerikanischen Lager trotz Hunger und Mangel eine Art Wiederauferstehung, wie er in seinen Erinnerungen „Beim Häuten der Zwiebel“ schreibt: „Unsere totale Niederlage setzte Kräfte frei, die sich während des andauernden Krieges eingekellert hatten und nun zum Zuge kamen, als gelte es, doch noch – wenn auch auf anderem Feld – zu siegen.“
Eine historische Generation
Alle drei sind Angehörige einer Generation, die bis heute tonangebend in der Bundesrepublik ist. Diese Generation hat viele Namen, man hat sie „Fünfundvierziger“ genannt, die „skeptische“ oder die „verratene“ Generation. Was sie eint, ist die Tatkraft und Durchsetzungsfähigkeit, mit denen sie sich bis in die Spitzen von Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft emporarbeiteten.
Sie sind die Engagierten. Erst sollten sie im „Dritten Reich“ als Helden für den Führer engagiert werden, dann engagierten sie sich für die Demokratie. Noch heute sind sie rastlos und umtriebig und melden sich energisch zu Wort. Ob sie sich über Atomausstieg oder die Flüchtlingsproblematik, über Putins Russland oder den Zustand der Gegenwartsliteratur äußern – am nächsten Tag sind die Worte eines Grass, Walser oder auch Hans-Dietrich Genscher, Jahrgang 1927, Schlagzeilen in den Zeitungen.
Aus Jungen, die übrig blieben, wurden Überväter, die ewig blieben. Oft wurden sie dafür kritisiert oder als „Großschriftsteller“ verspottet. Der Talkshowmoderator und Publizist Richard David Precht warf Grass, Walser und Siegfried Lenz gar vor, ein „Literatursyndikat“ gebildet zu haben, das einer ganzen Generation nachfolgender Autoren den Erfolg blockierte. Das mag tatsächlich zutreffen, wirft aber die umso interessantere Frage nach dem Warum auf. Es ist ja nicht so, dass nachfolgende Generationen den Fünfundvierzigern auf literarischem und geistigem Gebiet nichts eigenes entgegenzusetzen hätten. Der Vorwurf an die Adresse junger deutscher Literaten, ihre Bücher seien aus Mangel an Erlebtem weniger existentiell als die der Älteren, ist ein Trugschluss. Vom Fall der Mauer über den 11. September 2001 bis hin zu digitaler Revolution und demographischem Wandel findet eine aufregende Gegenwart Eingang in die Romane unserer Zeit.
Der entscheidende Unterschied zwischen den Fünfundvierzigern und den nachfolgenden Generationen ist der Wille zur Macht, das existentielle Erbe einer frühkindlichen Erziehung durch Diktatur und Krieg – jäh unterbrochen und geläutert durch die Zäsur im Jahr 1945, die sie im Alter von ungefähr 18 Jahren erlebten und sich so noch einmal neu orientieren konnten. Sie wurden auch deshalb zu geistigen Repräsentanten eines neuen, demokratischen Deutschlands, weil ihre Lebensläufe die Geschichte der Bundesrepublik spiegeln. Der Aufstieg aus Ruinen, schreibt der Soziologe Heinz Bude, habe „eine Art Wahlverwandtschaft von individueller und kollektiver Geschichte“ begründet. Der totale Zusammenbruch ermöglichte erst die Fiktion einer nationalen wie individuellen Stunde Null. Aus Ratlosigkeit wurde Rastlosigkeit, die eigene Kompromittierung der im Dritten Reich Dabeigewesenen wurde überspielt und verdrängt. So zivilisierten sich die Nimmermüden selbst zu Demokraten und gingen mit ihrem Beispiel der Bundesrepublik voran.
Nachgeholte Triumphe
Seine Generation hat, wie Günter Grass es andeutet, doch noch auf einem anderen Feld gesiegt, auf dem der Demokratie, und so die Scham der ersten Niederlage im Kriege wettzumachen versucht, die sie auch als ihre Schande empfanden. „Sie konnten sich sagen, dass sie als Kinder verführt und als Jugendliche verraten worden waren”, schreibt der Soziologe Bude, „untergründig wussten sie jedoch, dass ihre Schuldlosigkeit nur die halbe Wahrheit war.“
Kein Zufall, dass Grass von seiner Generation auch als einem „verruchten Jahrgang“ sprach und noch 2004 in seinem Roman „Im Krebsgang“ feststellte: „Nichts spricht uns frei. Man kann nicht alles auf Mutter oder die bornierte Paukermoral schieben“. Die zwei Jahre später Schlagzeilen machenden Enthüllungen seiner SS-Mitgliedschaft oder der NSDAP-Mitgliedschaft zahlreicher bisher unverdächtiger Jahrgangsgenossen konnte nur denjenigen wirklich überraschen, der sich nicht klar macht, was es bedeutet, in einer totalitären Diktatur aufzuwachsen.
In seiner berüchtigten Reichenberger Rede von 1938 machte Hitler deutlich, wie er die neue deutsche Jugend für den neuen Staat zu „dressieren“ gedachte: „Und wenn diese Knaben und Mädchen mit ihren zehn Jahren in unsere Organisationen hineinkommen und dort nun wie so oft zum ersten Mal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standes-Erzeuger, sondern dann nehmen wir sie wieder fort in die Partei und die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK... und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben“.
Erich Loest beschreibt am Beispiel einer Parteimusterung im Jahr 1943 anschaulich, wie selbstverständlich sich persönlicher Ehrgeiz mit den Zukunftsvorstellungen einer nationalsozialistischen Weltmacht verband. Die Klügsten, Aufgewecktesten, Fleißigsten und Härtesten wurden ausgewählt, um aus ihnen die künftige Elite des Reichs zu formen: „die Gau- und Kreisleiter der Jahre 1970 und 1980, die Reichskommissare für Krim und Kaukasus, Burgund und Brabant“. Wenn die Korruption der Jugend durch die Macht im Führerstaat so selbstverständlich funktionierte, wie Loest und Grass sie beschreiben – ist es dann ein Wunder, dass der Zusammenbruch 1945, der totale Perspektivverlust einer auf Führertreue gedrillten Generation, auch die seelischen Uhren wieder auf Null zurückstellte?
Bleibender Ehrgeiz
Ihr Ehrgeiz aber blieb und suchte sich ein anderes Betätigungsfeld: Sie übertrugen ihr eigenes Bedürfnis nach Umkehr und Wiedergutmachung auf die junge Republik und demokratisierten die korrumpierte deutsche Gesellschaft mit stellvertretendem Eifer. Auch das erklärt ihren Willen zur Meinungsführerschaft: Sie wussten, dass sie, die junge Generation, gleichzeitig sich selbst und die Gesellschaft entnazifizieren mussten.
Die Anmaßung, mit der die Generation Grass ihre moralische Urteilshoheit beansprucht, hat einen existentiellen Grund: Ihre Väter und Mütter waren diskreditiert, das nationalsozialistische Weltbild, dass ihnen als alleiniges Heil eingeimpft worden war, von einem Tag auf den anderen für ungültig erklärt worden – nicht nur von den alliierten Siegern, sondern auch von den eigenen „Volksgenossen“, die es bis zuletzt propagiert hatten und nun auf einmal gar nichts mehr damit zu tun haben wollten. Wie sollten die Jungen jemals wieder irgendjemandem vertrauen? Sie waren dazu verdammt, sich selbst als Vorbilder neu zu erfinden. Fortan würden sie an allem zweifeln, außer an sich selbst.
Der Bruch von 1945 schuf eine erschütterte Generation, die den Zweifel zur unanfechtbaren Tugend erhob – nicht nur in Deutschland. Auch in Frankreich rüttelten Denker wie Michel Foucault (geboren 1926) und Jacques Derrida (geboren 1930) an gesellschaftlichen Gewissheiten und sind bis über ihren Tod hinaus einflussreich.
In seinem gerade erschienenen Buch „1945. Die Welt am Wendepunkt“ zitiert der Journalist Ian Buruma aus dem Leserbrief eines japanischen Schülers, der die zwiespältige Stimmung zwischen Skepsis und Aufbruch seiner kriegsmüden Generation bezeugt. Alles früher Gelernte erweise sich jetzt als falsch, „wie sollten sie je ihrer Regierung trauen oder überhaupt irgendwelchen Erwachsenen?“. Vielleicht wurde gerade deshalb seine Generation zur politisch engagiertesten der jüngeren japanischen Geschichte. Der totale Zusammenbruch war auch eine Chance. Sie seien, fährt der Leserbriefschreiber fort, „hervorgetreten aus tiefer Dunkelheit in blendendes Sonnenlicht“.
Für die Nachgeborenen ist der Jahrhundertsommer 1945 ein historisches Ereignis. Für die Generation Grass dauert er bis heute an.
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