https://rotary.de/kultur/eine-welt-im-schwebezustand-a-23165.html
Forum

Eine Welt im Schwebezustand

Forum - Eine Welt im Schwebezustand
Raphaela Edelbauer im Café Ritter in Wien. Ihr Roman „Die Inkommensurablen“ war nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023 © Wolfgang Paterno/picture alliance picturedesk

Raphaela Edelbauers „Die Inkommensurablen“ hat zweifelsfrei Schwächen, doch die Stärken überwiegen – als Roman und als Theater.

Michael Hametner01.02.2024

Ich möchte Ihnen einen Roman empfehlen, der beileibe nicht ohne Schwächen ist, der mir aber auf ganz besondere Weise am Herzen liegt. Manchmal lieben wir etwas trotz seiner Schwächen. Ich möchte Ihnen den Roman und das Theaterstück „Die Inkommensurablen“ der 1990 in Wien geborenen Schriftstellerin Raphaela Edelbauer vorstellen. Bevor Sie jetzt nachschlagen: Inkommensurabel bedeutet so viel wie nicht messbar oder nicht vergleichbar, unwägbar. In der Mathematik, die im Roman eine nicht unbedeutende Rolle spielt, ist das Verhältnis inkommensurabler Größen irrational. Die Kreiszahl Pi als Verhältnis vom Umfang eines Kreises zu seinem Durchmesser ist ein Beispiel dafür. Im Roman, der genau am 30. Juli 1914 spielt, muss Klara Nemec, eine junge, recht selbstbewusste Frau, ihre Promotion im Fach Mathematik an der Wiener Universität mit dem Rigorosum verteidigen, und wir Leser sind dabei. Ich will diesen Umstand – eine Frau promoviert 1914 im Fach Mathematik – nicht anfechten und vertraue der Autorin. Das Frauenstudium an der Uni Wien gab es ab 1897, sagt mir die Wiener Uni im Internet. Ob und ab wann Mathematik für Frauen geöffnet wurde, ist eigentlich unerheblich, denn natürlich hat die Autorin alle Möglichkeiten zur Fiktion.

Klaras Diss – ich zitiere – „beschäftigt sich mit der Geschichte der Beweise von Irrationalzahlen wie jenen von Euler, Lambert, Lagrange, Riemann oder Cantor“. Diesem ersten Satz folgen zehn Seiten harte Mathematik-Philosophie. Ob Klara das Rigorosum besteht, bleibt offen, nicht weil ihr dazu Wissen fehlt, sondern weil andere Studenten den Hörsaal stürmen und sofortiges Aufhören mit wissenschaftlicher Beschäftigung verlangen. Auf den Straßen von Wien entscheidet sich gerade der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der deutsche und der österreichische Kaiser erwarten in dieser Stunde Nachricht aus Russland, ob der Zar die Mobilmachung verkündet hat und den ihm erklärten Krieg annimmt, was auf beiden Seiten den Bündnisfall in Gang setzen würde. Dazu kam es am Tag nach dem 30. Juli 1914. Vier Jahre später, am Ende des Ersten Weltkriegs, damals Großer Krieg genannt, waren 40 Staaten in den Krieg verwickelt gewesen, 17 Millionen Menschen aller Länder tot und das österreichisch-ungarische Kaiserreich aufgelöst.

Wie in einem Roadmovie

Nicht um diese Folgen geht es im Roman, sondern um den 30. Juli 1914, als Wien und mithin das halbe Europa im Schwebezustand waren. Raphaela Edelbauer interessiert sich für den Moment, wo sich Möglichkeitsräume geöffnet und „die Leute“, sagt sie in einem Interview, „den fatalistischen Untergang, den sie heraufbeschworen hatten, selbst noch nicht begriffen“ hatten. Wie sich in der „scheinbaren Zivilisation in kürzester Zeit ein gewaltbereiter Mob bilden kann“, erweist sich als hochbrisantes und aktuelles Thema ihres Romans. Dass es in ihrem Roman um vier spannende Persönlichkeiten geht, ist der Grund, aus dem ich ihn so mag und gern empfehle.

Dafür sehe ich über zehn Seiten mathematische Philosophie hinweg, über Ausrufe wie „degoutanter Arsch“ (mich stört nicht das Wort Arsch, sondern die Verbindung mit degoutant) oder den Dialog eines 17-jährigen Bauernburschen mit einer Psychoanalytikerin, als sie ihrem Fach wegen seiner Beliebigkeit abschwört. In diesem Dialog tritt Hans, Bauernbursche aus einem der Täler Tirols, mit folgendem Satz zur Verteidigung der Psychoanalyse an: „Es geht um ein Werkzeug, etwas eigentlich Unbeschreibliches zu beschreiben.“ Und fügt als Argument an: „Um in einer Selbstbetrachtung eine Umstrukturierung zu erwirken. Sie sprechen ja, als handle es sich um Astrologie.“

Diese sprachlichen Unwahrscheinlichkeiten und gelegentlich auch Unzumutbarkeiten sind für mich Schwächen des Romans, aber nicht seine Figuren und nicht sein Thema. Sie begeistern mich: der 17-jährige Hans Ranftler, der am Morgen des 30. Juli 1914 mit dem Zug in Wien eintrifft, Klara, die am Tag danach ihr Rigorosum über mathematische Philosophie zu bestehen hat, der wenig ältere Adam Jesenky, Spross von k. u. k. Offiziersadel, von dem die Familie erwartet, dass er umgehend einrückt und nicht weiter ein Konzert von Arnold Schönberg einstudiert. Diese drei bewegen sich in einer Art Roadmovie durch das Wien des 30. und 31. Juli 1914 und durch geheime Klubs, die man nur über die Kanalisation erreicht, in denen man Jazz hört und sich Drogen einwirft. Die Vierte im Bunde ist Helene Cheresch, die Psychoanalytikerin, die Sigmund Freud mit einem Angriff auf das „fundamentale Missverständnis“ abschwört, wonach das „einzig Wunderbare auf dieser Erde das Übernatürliche ist“. Bei diesem ketzerischen Gedanken gehe ich als Leser sofort mit der Autorin Raphaela Edelbauer. Ich deute mir die Inkommensurablen als jene, die sich dem Irrationalen und Unwägbaren hingeben, womit sie der Welt heute nichts Gutes tun.

Hoher Aufwand, keine Pannen

Ich liebe den Roman wegen seiner mich begeisternden Figuren und seines – leider! – aktuellen Themas. Dagegen prallen für mich vorhandene Schwächen einfach ab. Für Kollegen meines Faches allerdings nicht. Ich setze mich diesmal von ihnen ab und bekenne, dass man nicht deshalb Literaturkritiker ist, weil man immerzu kritische Spitzen zu verteilen hat. Man darf auch bekennen, was einem gefällt. Und Raphaela Edelbauers Roman gefällt mir.

Wie mir mag es auch dem Volkstheater in Wien gegangen sein, das am 7. Dezember den Roman auf die Bühne gebracht hat. Inszeniert vom Künstlerkollektiv Sputnic um Nils Voges, das für die Umsetzung eine spezielle Form nutzt. Sie nennt sich „Live Animation Cinema“. Jeder der vier Darsteller bedient einen Overheadprojektor. Zuletzt gesehen in Schule und Uni, wo er eingesetzt wurde, um beschriftete Folien an die Wand zu projizieren. In der Wiener Inszenierung sind es Comics, gezeichnet von Karl Uhlenbrock. Bei den Zeichenfiguren lassen sich Münder und Augen von den Darstellern synchron zum Text bewegen. So entstehen schon mal zwei Ebenen: die der Graphic Novel und die der realen Schauspieler, die miteinander interagieren. Die Regie handhabt ihre Mittel – und das sind viele! – souverän, und die Akteure, die selbst die Folien auflegen, tun ein Gleiches. Es hätte in dieser analogen (außer von Projektor und Tongebern nicht technikgestützten) Versuchsanordnung viele Pannen geben können. Aber es gab keine. Im Zusammenspiel aus gezeichneter Linie, Hörspielelementen, gekonntem Lichteinsatz und realem Spiel wurde viel kreative Kraft investiert. Sie galt ohne Regietheaterflausen der Bühnenumsetzung des Romans. Offensichtlich weil auch das Theaterkollektiv ihn liebte – wie ich.


Infos


Raphaela Edelbauer

Die Inkommensurablen

Klett-Cotta, 350 Seiten,

25 Euro (in Österreich 25,70 Euro)