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Peter Handke in seiner „Niemandsbucht“ in Chaville bei Paris © Laura Stevens/Camera Press/ddp, primages

Die Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke löste eine weltweite Debatte aus. Im Zentrum der Kritik steht das Engagement des österreichischen Schriftstellers für Serbien seit den neunziger Jahren. Persönliche Gedanken seines Biographen.

Malte Herwig01.11.2019

Nicht jeder Preis macht glücklich, selbst ein Nobelpreis nicht. „Der Teufel hole den verfluchten Kram“, fluchte Hermann Hesse in einem Brief an seine Frau, nachdem er 1946 eben jenen Nobelpreis für Literatur bekommen hatte.

„Ich kann nicht sagen, dass ich mich freue“, sagte mir Peter Handke am Telefon, kurz nachdem die Schwedische Akademie ihm den Literaturnobelpreis für das Jahr 2019 zugesprochen hatte. Dann folgte ein typischer Handke-Satz: Er fühle sich, als ob die Last des eigenen Ichs von ihm abgefallen sei. Erleichtert. „Unschuldig“.

Handke und sein Ich — das ist eine der produktivsten Zweierbeziehungen in der Gegenwartsliteratur. Seit mehr als einem halben Jahrhundert hält der österreichische Autor die literarische Welt in Atem, indem er sich an sich selbst abarbeitet. Dabei ist Handkes Beziehung zu sich selbst alles andere als harmonisch. Sie gleicht eher einer über die Jahre geretteten Ehe, in der Hauskrach und Harmonie einander die Waage halten. Handke selbst nennt sich gern einen „Irrläufer“ und „Idioten“. Bis heute sind so rund hundert Erzählungen, Theaterstücke und andere Werke entstanden, die öffentlichen Wutausbrüche des Dichters nicht gezählt.

Ein Grundschrecken von Geburt an
Die Wut ist ihm in die Wiege gelegt. Als Peter Handke am 6. Dezember 1942 in einem kleinen Dorf in Kärnten zur Welt kommt, begleiten Dämonen seine Geburt – keine echten, sondern als Teufel verkleidete Dorfbewohner, die nach altem Brauch am Vorabend des Nikolaustags mit Gerassel und Gebrüll um die Häuser ziehen. Noch heute glaubt Handke, „dass mein Grundschrecken von den Stunden vor der Geburt herrührt, wo diese Teufel, die als Teufel verkleideten Typen, mit den Ketten und Ruten durch das Dorf gegangen sind und alles niedergemacht und gebrüllt haben“. Nur folgerichtig, dass sich auch Handkes literarischer Durchbruch 1966 in Form einer Reihe von Wutausbrüchen vollzieht. Erst wirft er den auf einer Tagung der Gruppe 47 versammelten Großschriftstellern „Beschreibungsimpotenz“ vor. Dann debütiert er wenige Monate später in Frankfurt mit dem Theaterstück „Publikumsbeschimpfung“. Das Stück, in dem vier Schauspieler das Publikum am laufenden Band beleidigen („Ihr Versager, ihr Katzbuckler, ihr Leisetreter, ihr Nullen“), wird zur Theatersensation der Saison.

Handke bricht sein Jurastudium ab, trägt Beatles-Stiefeletten und Pilzkopf und wird als Popstar der deutschen Literatur gefeiert. Es folgen Ruhm, Geld und die ersten Preise; und der einzige, den sein rasanter Aufstieg in den Literaturhimmel nicht zu überraschen schien, war Handke selbst, der es schon lange geahnt zu haben schien. Es gibt einen Satz aus einem Brief an seine Mutter von 1963: „Du brauchst Dir über mich keine Sorgen machen, ich bin schon ziemlich zäh, und außerdem werde ich sicher weltberühmt.“

Selbst wer die Bücher nicht gelesen hat, die Handke in den folgenden Jahren schreibt, kennt ihre Titel. Sie sind längst sprichwörtlich geworden: „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ (1970), „Der kurze Brief zum langen Abschied“ (1972), „Die Unvernünftigen sterben aus“ (1973), „Die Stunde der wahren Empfindung“ (1975).

1971 nimmt sich Handkes Mutter Maria das Leben. Ihr Sohn reagiert, wie es sich für einen Schriftsteller gehört: Er verarbeitet den Selbstmord schreibend. „Wunschloses Unglück“ (1972) wird Handkes erfolgreichstes Buch, ein weltweiter Bestseller. Manch einer behauptet, dass in jedem Kärntner Haushalt neben der Bibel auch ein Exemplar von Handkes Buch stehe – so eindringlich wird darin das Leid einer Frau auf dem Land geschildert, ihre Unterdrückung durch die Tradition und den Ehemann: „Sie war; sie wurde; sie wurde nichts.“ Wer noch nie etwas von Handke gelesen hat, kann mit diesem Buch einen Anfang machen.

Ein wacher Blick auf die Welt
Das Besondere an Handkes Werken ist seine unvergleichliche Art, die Welt zu sehen und zu beschreiben. Sein Blick ist unverstellt, originell, hellwach. Davon zeugen auch die Notiz- und Tagebücher, die der Dichter seit den siebziger Jahren führt und in Auszügen veröffentlicht hat (u.a. „Das Gewicht der Welt“ 1977, „Am Felsfenster morgens“ 1987, „Gestern unterwegs“ 2005).

Die Aufzeichnungen zeugen davon, dass Schreiben für Handke existentiell, ja überlebensnotwendig ist. Wann immer er etwas Bemerkenswertes sieht, zückt er das Notizbuch und hält seine Beobachtungen und Gedanken fest. Das sei „wie eine Sportart“, erzählte Handke mir einmal, „wie die Westernhelden den Revolver ziehen, so habe ich manchmal meine Notizbücher gezückt und losgeschossen – natürlich allein, wenn auch insgeheim manchmal gegen andere.“ Als Handke mitten in einer Schreibkrise im März 1976 wegen Verdachts auf Herzinfarkt im Krankenhaus liegt, kritzelt er im Bett wie besessen in sein Notizbuch: „Überall in, neben, unter meinem Bett suche ich die Spuren früherer Toter … rasiert habe ich mich, vage sichtbar in dem Blechtablett, wirklich wie zum letzten Mal mit eigener Hand.“

Innere und äußere Widerstände
Handkes Tagebücher zeigen einen großen Einzelgänger und Literaturbesessenen bei der Arbeit, sie geben Einblick in die inneren und äußeren Widerstände, denen der Dichter sein Werk abringen muss. Oft macht ihm die „schreckliche Grenzenlosigkeit der Depression“ zu schaffen, dann wieder ganz profane Alltagsprobleme, mit denen sich der Schriftsteller konfrontiert sieht — vor allem in Zeiten, in denen er sich allein um die 1969 geborene Tochter Amina kümmern muss. Handkes empfindliche, „immer trockene, eingetrocknete Hausarbeitshände“ müssen schreiben, aber auch abwaschen: „Immer lecke ich mir am Abend über die Handflächen.“ Manchmal sind sie so klamm, dass ihm sogar das kalte Leitungswasser warm vorkommt.

Mit dem Ruhm kommt die Last der Repräsentation. Österreich ist ein kleines Land mit großer Kultur. In seiner Staatskritik ist Handke von Anfang an kompromisslos. Er nimmt es hin, wenn seine Landsleute dafür über ihn herfallen. Als er im österreichischen Fernsehen verkündet, in der Alpenrepublik gingen sowieso nur alte Nazis ins Theater, glühen bei der Beschwerdestelle des Senders die Telefonleitungen. Sechshundert erzürnte Anrufer wollen den aufmüpfigen Nestbeschmutzer „teeren, federn, verbrennen, lynchen, zur Zwangsarbeit verurteilen, deportieren oder schlicht nur beschimpfen“, berichten die Zeitungen. 

Solche Kontroversen ziehen sich bis heute durch Leben und Werk des Dichters, der sich gegen jede Vereinnahmung durch den Staat wehrt. „Ich habe keine Heimat. Meine Heimat sind die Bücher“, bekundet er noch heute gern gegenüber österreichischen Journalisten, für die ihre Dichter so selbstverständlich ins eigene Land gehören wie die Lipizzaner in die Hofreitschule.

Handke verlässt sein Geburtsland schon bald in Richtung Paris. Nur in den achtziger Jahren kommt er noch einmal zurück und lebt in Salzburg, bis er 1990 nach Chaville bei Paris zieht. Dort, in seiner „Niemandsbucht“, lebt er bis heute. Sie ist Rückzugsort und Ausgangspunkt für Expeditionen in die ganze Welt, von denen er stets ein neues Buch mitbringt. Immer wieder führen ihn seine Reisen auch auf den Balkan. Seine Mutter hat slowenische Wurzeln, und Handke fühlt sich schon lange hingezogen zum Vielvölkerstaat Jugoslawien, dem „Neunten Land“, das fortan einen geradezu mythischen Status in seinem Schreiben haben wird.

Der jugoslawische Bürgerkrieg
Als dort in den neunziger Jahren der Bürgerkrieg ausbricht, fühlt Handke sich persönlich betroffen. Die erste große Reise in das aufgrund eines UN-Embargos isolierte Serbien unternimmt er im November 1995 und beginnt nach der Rückkehr, einen großen Bericht über die Reise zu schreiben. Obwohl ihm alle Pariser Freunde dringend von der Veröffentlichung abraten, gibt Handke den Bericht an die Süddeutsche Zeitung, die ihn im Januar 1996 in zwei Teilen unter dem Titel „Gerechtigkeit für Serbien. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“ veröffentlicht.

Der Text ist kein gewöhnliches Reisefeuilleton, sondern eine Sammlung von Beobachtungen, die Handke in Serbien gemacht hat und mit einer scharfen Kritik am Umgang westlicher Medien mit den Serben verknüpft. Scharf sind auch die Reaktionen. Was die Öffentlichkeit gegen ihn aufbringt, sind seine genauen, poetischen Beobachtungen des Lebens der Serben, die Handke dem Jargon und den Phrasen, den „Empörungslippenbewegungen“ der Zeitungsschreiber und der anderen Kritiker entgegensetzt. Obwohl er die auch von Serben verübten Kriegsgreuel nicht ausspart, sind es die „andersgelben Nudelnester“, die im öffentlichen Bewusstsein hängenbleiben und ihm als (Aus-) Flucht in idyllische Beobachtungsprosa vorgeworfen werden.

Warum aber stellt sich Handke ausgerechnet an die Seite der Serben, deren Anführer Radovan Karadžic und Slobodan Miloševic für Kriegsverbrechen wie das Massaker von Srebrenica 1995 verantwortlich sind? Vor den Fernsehkameras nimmt Handke die „tragischen Menschen hier, die nicht anders konnten, als in den Krieg getrieben zu werden“, in Schutz und fordert: „Alle, sozusagen jeder müßte vor Gericht stehen. Wenn, dann muß man alle bestrafen oder eine allgemeine Amnestie erlassen.“ Handke besucht Miloševic sogar im Gefängnis in Den Haag und hält im März 2006 bei dessen Begräbnis eine kurze Rede. Darin verteidigt er den jugoslawischen Expräsidenten zwar nicht, sondern bekennt sich lediglich dazu, als Augenzeuge dort zu sein. Doch seine Teilnahme allein genügt den meisten Kritikern, um den Dichter als „Apologeten des Völkermords“ zu verurteilen. Buchhändler boykottieren seine Bücher. Die Zeitungsschlagzeilen verurteilen ihn fast unisono: „Wahn von Krieg und Blut und Boden“, „Handke: Mimose und Trampeltier“, „Der undichte Dichter“, „Der serbische Kolibri“, „Ein blinder Seher“ und „Geben Sie Ruhe, Peter Handke!“.

Als die Stadt Düsseldorf Handke im Juni 2006 den Heinrich-Heine-Preis verleihen will, endet dies in einem Fiasko. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung erklärt er: „Ich wiederhole aber, wütend, wiederhole voller Wut auf die serbischen Verbrecher, Kommandanten, Planer: Es handelt sich bei Srebrenica um das schlimmste ,Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘, das in Europa nach dem Krieg begangen wurde.“ In den folgenden Jahren veröffentlicht er dann mehr als ein halbes Dutzend Werke, in deren Zentrum seine Kritik an der einseitigen und kriegerischen Sprache der Medien im Jugoslawien-Konflikt steht.

Die Verleihung des Literaturnobelpreises hat die Debatte um Handkes Engagement für Serbien nun ins Zentrum der Weltöffentlichkeit gerückt und seine Kritiker mobilisiert, die – oft mit Unterstellungen und falschen Zitaten – gegen die Preisvergabe protestieren. Nicht jeder Preis macht jeden glücklich. Dieser aber bietet die Gelegenheit, sich neu und genauer mit dem Werk des umstrittenen Nobelpreisträgers Peter Handke zu befassen, der nie Kriegsberichterstatter sein wollte, sondern Friedenserzähler: „Meine Arbeit ist eine andere. Die bösen Fakten festhalten, schon recht. Für einen Frieden jedoch braucht es noch anderes, was nicht weniger ist als die Fakten”. 

Malte Herwig
Dr. Malte Herwig ist Reporter und Autor. Zuletzt erschien „Die Frau, die Nein sagt. Rebellin, Muse, Malerin - Françoise Gilot über ihr Leben mit und ohne Picasso “ (Ankerherz Verlag 2015). Für das Rotary Magazin befragt er regelmäßig Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Gesellschaft.  malteherwig.com