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Schliemann – dem Helden?

Titelthema - Schliemann – dem Helden?
1876 fand Heinrich Schliemann diese Begräbnismaske. Er glaubte, die Leiche des legendären Herrschers von Mykene, Agamemnon, entdeckt zu haben. © Mauritius Images/Worl Book Inc.

Heinrich Schliemann war Geschäftsmann, Archäologe, Getriebener. Eine Annäherung zum 200. Geburtstag an den Selfmademan, der Troja und Mykene entdeckte.

Matthias Wemhoff01.05.2022

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Heinrich Schliemann nach seiner Rückkehr aus Mekka © American School of Classical Studies at Athens/Archives/Heinrich Schliemann Papers

Leidenschaft, unbedingter Wille, Leidensfähigkeit und große Belastbarkeit sind Eigenschaften, die auch die größten Kritiker Heinrich Schliemann nicht absprechen werden. Sein Erfolg war ihm nicht in die Wiege gelegt. Zur Ausgangssituation des Mecklenburgers, der am 6. Januar 1822 in Neubukow geboren wurde, hätte die dauerhafte Anstellung in einem Krämerladen besser gepasst. Dass er diesen vorgezeichneten Weg verließ und mit hohem Risiko sich immer wieder neu erfand, prägte sein Leben. In Amsterdam erkannte er, dass die russische Sprache ihm eine deutlich verbesserte Ausgangsposition im auf den Russlandhandel spezialisierten Kaufmannskontor verschaffte, seitdem war das Sprachenlernen – bis zu 13 Sprachen hat er mehr oder minder beherrscht – ein Schlüssel für seinen Erfolg in fremden Ländern und ebenso für das Studium der antiken griechischen Literatur. Als Kaufmann zeichnete ihn der unbedingte Wille zum wirtschaftlichen Erfolg aus, er kalkulierte das einzugehende Risiko genau, er nutzte auf der Basis aller ihm verfügbaren Informationen sich abzeichnende Geschäftsmöglichkeiten konsequent und kompromisslos aus, ein Verhalten, das er auch am Beginn der Ausgrabungen in Troja nicht ablegte.


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Als erfolgreicher Kaufmann hätte er auch in St. Petersburg ein von Wohlstand geprägtes, angenehmes Leben führen können. Doch die innere Spannung, die sein Leben prägte, zeigte sich in Ruheund Rastlosigkeit. Den Tod des Bruders im kalifornischen Sacramento nutzte er zu einer Reise, die ihn mitten in den Wilden Westen des Goldrauschs führte und neben großem wirtschaftlichem Erfolg im Goldhandel mit erheblichen Gefahren für Leib und Leben verbunden war. Schliemanns Gold befand sich zunächst in Amerika!

Schliemanns Interesse galt der Keramik

Reisen wurde immer stärker zu einem Grundelement seines Lebens, Ruhephasen waren ihm fremd, und wenn er länger an einem Ort blieb, dann auf äußeren Druck, wie die längeren Anwesenheiten wegen verschiedener Prozesse in St. Petersburg oder Athen zeigen. Auch sein Tod ist letztlich auf ein solches Getriebensein zurückzuführen. Anstatt sich, wie von den Ärzten empfohlen, auszuruhen, reiste er durch halb Europa und brach schließlich in Neapel zusammen.

Die Leidenschaft zeigt sich in seiner Arbeitsweise. Zunächst konnte es ihm nicht schnell genug gehen, den „Schliemanngraben“ durch den Hügel von Troja zu treiben. Keine noch so große Mauer konnte stehen bleiben. Der Erfolg wurde in Kubikmetern gemessen. Trotzdem galt seine Aufmerksamkeit von Anfang an den kleinen Funden, die vorher in dieser Region kaum jemanden interessiert hatten. Er beschrieb seitenweise kleine tönerne Objekte, er nannte sie Vulkane oder Kreisel, um ihnen ihre Botschaft zu entlocken; dabei handelte es sich, wie wir heute wissen, um Spinnwirtel, also einen damals ziemlich alltäglichen Gebrauchsgegenstand. Auch wenn der „Schatz des Priamos“ – also das Gold – die öffentliche Wahrnehmung bestimmte, so setzte Schliemann später ganz andere Prioritäten. Sein wirkliches Interesse galt der Keramik, und der deutsche Gesandte in Athen, der immer wieder hochrangige Besucher zum Hause Schliemanns zu begleiten hatte, fürchtete die lang gezogenen Erläuterungen des Hausherrn über die Gefäße seiner Sammlung.

Stoff für mehr als ein Leben

Selten hat der Ausspruch des Romanciers Umberto Eco besser auf ein gesamtes Leben gepasst: „Ein Erzähler kann nichts erfinden, was der Dramatik und Komik der Wirklichkeit auch nur annähernd gleichkäme. Je tiefer wir die Geschichte erforschen, auf umso mehr unglaubliche, romanhaft anmutende Situationen stoßen wir; auch der kreativste Kopf könnte sich so etwas nicht ausdenken.“

Leben und Wirken von Schliemann benötigen keine erzählerische Überzeichnung, keine die Grenzen des Geschehens überspannende Zuspitzung, es ist Stoff genug vorhanden. Es sind gerade die dramatischen Wendungen, die Spannung erzeugen. Wessen berufliches Leben beginnt schon mit einem Schiffbruch? Wer kommt nach Amsterdam, wenn er nach Venezuela auswandern möchte? Wer traut es sich schon, sich mit Mitte 40 völlig neu zu orientieren und ein Studium zu beginnen?

Schliemanns Leben war voll von diesen unglaublichen Geschichten, er entkam oft denkbar knapp gefährlichen Situationen. In Memel verloren fast alle Kaufleute bei einem großen Stadtbrand ihre Waren, nur Schliemanns wertvolle Güter überstanden das Feuer in einem abseits gelegenen Schuppen. Aus St. Petersburg führte ihn sein Weg zu den Goldgräbern nach Sacramento, an einen der damals gefährlichsten Orte der Welt, er überlebte und verdoppelte sogar noch sein Vermögen.

Am letzten Tag fand er ihn, ganz unten

Könnte man sich sein Leben als Ausgräber ausdenken? Welcher Romanautor wäre so vermessen, seinen Protagonisten gleich zwei der bis heute spektakulärsten Fundkomplexe der Archäologie entdecken zu lassen? Troja und Mykene, wahrlich zu viel für ein Archäologenleben. Auch das Ausgrabungsgeschehen benötigt keine weitere dramatische Zuspitzung. Der Graben in der Mitte des Hügels von Hissarlik wurde mit jedem Tag tiefer, die Wände steiler, die Gefahr für Leib und Leben wuchs täglich. Und ganz unten im Graben barg der Ausgräber persönlich am letzten Grabungstag einen ungeheuren Schatz, so romanhaft kann die Wirklichkeit klingen – wenn es denn so war.

Was geschieht, wenn der „kreativste Kopf“ nicht ein unbeteiligter Erzähler, sondern der darzustellende oder zu erforschende Protagonist selbst ist? Bei Schliemann müssen wir mit dieser „Kreativität“ rechnen. Die Neigung zur dramatischen Zuspitzung scheint ein Wesenszug von ihm gewesen zu sein. Den Schiffbruch vor Texel 1841, der seine Auswanderung nach Venezuela verhinderte und ihn nach Amsterdam führte, schilderte er als junger Mann unmittelbar nach dem Geschehen in einem Brief an seine Schwester wesentlich dramatischer, als sich das Ereignis in den offiziellen Quellen niederschlug. In seinem Bericht zum Schatz des Priamos kam seiner Frau So phia eine wesentliche Rolle zu, doch sie war nicht dabei. In seiner Selbstbiografie hört sich sein Leben geradezu vorherbestimmt an. Er behauptete, dass er schon als Kind ein Bild des aus Troja fliehenden Aeneas in einem Buch gesehen und gleich geäußert habe, dass es seine Absicht sei, einst Troja zu entdecken. Sein Leben spiegelte eine solche Planmäßigkeit nicht wider.

Im Puschkin-Museum tauchte er wieder auf

Ist ein solcher Dramaturg der eigenen Selbstbiografie nun ein notorischer Lügner, ein moralisch zu verurteilender Mensch, wie eine Quintessenz der Schliemannforschung der 1970er Jahre lauten könnte? Oder bildet sich hier eine weitere Facette einer Persönlichkeit ab, die in verschiedenen Welten agiert hat?

Die dramatische Verknüpfung haftet auch den Objekten an. Der Schatz des Priamos wird immer so heißen, obwohl er nicht dem Priamos und seiner Zeit zugeschrieben werden kann, sondern bereits im 3. Jahrtausend vor Christus verborgen wurde. Der Schatz ist selbst noch heute ein Objekt der Begierde. Schliemann entwendete den für das Selbstverständnis der sich gerade neu formierenden griechischen Nation so wichtigen Schatz aus Troja, wurde dafür vom osmanischen Staat verklagt, sein Vermögen wurde beschlagnahmt, es kam zum Prozess. Gegen eine hohe Geldzahlung bekam er das Eigentum zugesprochen, schließlich schenkte er seine Sammlung Trojanischer Altertümer „dem deutschen Volke zur ewigen und ungeteilten Aufbewahrung in seiner Hauptstadt“. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Schatz fast 50 Jahre verschwunden, bevor bekannt wurde, dass er im Puschkin-Museum in Moskau verborgen war. Heute ist der Schatz des Priamos das bekannteste Ensemble der vielen Tausend Objekte aus deutschen Museen, die noch immer in Russland zurückgehalten werden. Wem gehört der Schatz des Priamos? Diese Frage wird je nach Standpunkt in Deutschland, Russland, in der Türkei oder in Griechenland auf unterschiedliche Antworten treffen. Dieser Umstand trägt dazu bei, dass das Interesse an diesem Stoff ungebrochen ist.

Alles erarbeitet, rast- und ruhelos

Heinrich Schliemann war kein strahlender Held ohne Verfehlungen und Makel. Seine persönliche Disposition war vielschichtig und widersprüchlich. Ihn zeichneten eine große Willenskraft, eine ungeheure Energie und eine gewisse Leidensfähigkeit aus. Nichts war ihm in den Schoß gefallen, alles hat er sich erarbeitet, rast- und ruhelos. Seine spezielle Methode des Spracherwerbs setzte großen Fleiß voraus. Seine unzähligen Briefe zeugen davon, wie er jede nach der Arbeit noch verbleibende freie Minute zur Kommunikation nutzte. Er war auch hart gegen sich selbst. Das frühmorgendliche Schwimmen im Meer war ihm wichtig, auch dabei nahm er keine Rücksicht auf seine körperlichen Kräfte.

Schliemann sah sich als liebender Familienvater und treu sorgender Ehemann. Doch seine erste Ehe in St. Petersburg war von Beginn an von Streit und Auseinandersetzung geprägt und er scheute keine Mühe, um über den Umweg der amerikanischen Staatsbürgerschaft eine Scheidung zu erreichen. Auch die zweite Ehe, die er im bereits fortgeschrittenen Alter mit der 17-jährigen Sophia aus der alten griechischen Familie Engastroménos einging, schien bei diesen ungleichen Ausgangsvoraussetzungen unter keinem guten Stern zu stehen. Er erwartete von seiner jungen Frau, dass diese seinen Lebensstil und seine Interessen bedingungslos teilte. Dass Sophia in diesem Bund eine wichtige Rolle spielte, ist heute besonders an der großen Wertschätzung zu erkennen, die Sophia in Athen noch immer entgegengebracht wird. Auf den ersten Blick scheint Schliemann kein Mensch zu sein, der Freundschaften pflegen würde. Doch auf den zweiten Blick fällt auf, dass er Bindungen durch zahlreiche Briefkontakte zum Teil lebenslang gepflegt hat, so zu seinem ersten Lehrherrn in Amsterdam oder ganz besonders zu Rudolf Virchow. Schliemann war auf Anerkennung und Bestätigung aus, dies scheint ein nicht zu unterschätzender Antrieb für ihn gewesen zu sein. Kritik an seinen Ausgrabungs- und Forschungsergebnissen und an seiner Person traf ihn hart, aber er ging dabei keiner Auseinandersetzung aus dem Weg.

Konsequent inkonsequent

Konsequent inkonsequent, dieser aristotelische Ansatz könnte auch die Entwicklung seiner Entdeckungen in Troja erklären. Mit aller Konsequenz las er seinen Homer, nahm jede Beschreibung wörtlich, maß die Entfernungen zwischen der Stadt und dem Meer und die Zeit, die Hektor und Achill für eine Umrundung der ummauerten Stadt benötigt hätten. Und doch relativierte er in seinen Schriften immer wieder genau diese Passagen und stellte, wenn etwas nicht so genau passte, fest, dass Homer ja nicht dabei gewesen sei. Die Absicht, den Wahrheitsgehalt eines Buches durch die Lokalisation des Ortes zu bestätigen, führte anstelle klarer Antworten zu einer unerwarteten Komplexität des historischen Geschehens und wurde so letztlich zur Geburtsstunde einer prähistorischen Archäologie in der Ägäis.

Der Entdecker, der auf dem schnellsten Wege die Schichten des Hügels durchdringen und die Zeugnisse des homerischen Trojas freilegen wollte, wird zum Archäologen, der auf einmal ein Verständnis für Schichten und Bauabfolgen entwickelte und sein Augenmerk auf unscheinbare Keramikfragmente richtete; lernfähig war er allemal.

Schliemann erkannte wie kaum ein anderer in dieser Zeit die Notwendigkeit, über seine Erkenntnisse umfangreich und zeitnah zu informieren, sowohl in den Berichten der Tagespresse als auch in umfangreichen Publikationen. Heute hätte er sicher die neuen Medien intensiv genutzt.

Schliemann hat ganz bewusst und sehr erfolgreich auch für sein Nachleben vorgesorgt. Das imposante Grabmal auf dem Athener Friedhof ziert ein Fries, der Szenen aus der Ilias mit Darstellungen seiner Grabungen verbindet, zu den Göttern und Helden der griechischen Mythen tritt ein weiterer hinzu: Seine Büste über dem Portal wird von der Inschrift begleitet: „Dem Helden Schliemann“.


Ausstellung


Die Ausstellung Schliemanns Welten findet vom 13. Mai bis zum 6. November im Museum für Vor- und Frühgeschichte, James-Simon-Galerie, Berlin, statt.

Katalog:

Schliemanns Welten Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos.

320 Seiten, 356 Abbildungen,

E. A. Seemann Verlag, Mai 2022, 36 Euro

Matthias Wemhoff

Prof. Dr. Matthias Wemhoff (RC Berlin-Brandenburger Tor)ist seit 2008 Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte im Neuen Museum auf der Museumsinsel Berlin. Zu den Beständen des Museums gehört die von Heinrich Schliemann geschenkte Trojasammlung.

smb.museum

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