https://rotary.de/kultur/der-konflikt-war-die-ausnahme-a-2667.html
Historische Spurensuche

Der Konflikt war die Ausnahme

Matthias Wemhoff11.01.2013

Die Aufgabe war eine echte Herausforderung: Es galt, eine Ausstellung zur Geschichte der Begegnungen von Deutschen und Russen zu konzipieren, die vor allem die älteren Epochen in den Fokus rücken sollte. Die folgende Suche nach Objekten und Geschichten hat Erstaunliches über diese Beziehungsgeschichte zu Tage gebracht.

Frühe Handelsbeziehungen

Es sind die kleinen und unauffälligen Funde, die erste Beziehungen zwischen dem Norden des späteren Deutschlands und den sich in der Wikingerzeit formierenden Gebieten der Rus belegen. Die Archäologen finden in Deutschland Schieferwirtel aus einem Schiefer in der Ukraine oder tönerne Kiewer Eier, ein Ostersymbol der orthodoxen Liturgie. Die Grundlagen schufen wikingische Händler. Diese nutzten die russischen Fluss-Systeme als Verkehrsachsen nach Byzanz und zur Seidenstraße. Unter den Mongolenstürmen brachen diese Verbindungen zusammen, der russische Norden wurde mit seinen Waren dafür aber für das europaweite Netz der entstehenden Hanse umso interessanter.

Dieser Handel ist fest mit einer Stadt verbunden, der mittelalterlichen Großstadt Nowgorod, die auf dem Landwege über das Baltikum und Pleskau (Pskow) ebenso wie zu Wasser über den Ladogasee und den Wolchow gut zu erreichen gewesen ist. Hier gründete die Hanse eines ihrer vier Kontore und hierhin lieferten die russischen Großgrundbesitzer ihre Waren über Tausende von Kilometern.

Das eindrucksvollste Bilddokument dieses Handels ist das über 4 Meter lange, farbig gefasste Holzrelief, das hansische Kaufleute über ihrem Gestühl in der Stralsunder St. Nicolaikirche anbringen ließen. Damit zeigen die Kaufleute die Grundlagen ihres wirtschaftlichen Erfolgs: In den russischen Wäldern werden die Füchse, Eichhörnchen und Zobel gejagt, ein deutscher Kaufmann erwartet mit verschränkten Armen die Ankunft der Händler und lässt sich die Fellbündel und die Wachskuchen von den Russen präsentieren. Im Gegenzug gelangten Luxusgüter, Metallbarren, hochwertige Spiegel, flämische Tuche, Salz, Hering und vieles mehr nach Nowgorod und von dort an viele Orte Russlands. Bis an das Ende des 15. Jahrhunderts sind sich Deutsche und Russen nahezu ausschließlich nur in Nowgorod begegnet. Nowgorod selber wies immer mehr Elemente einer Hansestadt auf, so ließ sich der Bischof 1433 seinen noch erhaltenen Palast von deutschen Bauleuten errichten, und diese schufen ihm dann auch einen Bau, der jeder Hansestadt zur Ehre gereichen würde.

Mit der Eroberung durch die Mongolen verschwanden die zentralen Gebiete der Rus für zweieinhalb Jahrhunderte aus dem Blickwinkel des europäischen Westens. Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts steigerten jedoch die Großfürsten von Moskau stetig ihre Macht und vergrößerten ihr Gebiet. Unter Iwan dem Großen wurde die gewachsene Bedeutung durch die Übernahme des Zarentitels und die bewusste Weiterführung byzantinischer Insignien und Herrschaftsformen auch nach außen deutlich sichtbar.

Regensburg, 16. Juli 1576: Fünf Gesandte in schweren goldbestickten Prunkmänteln und hohen, mit Pelz besetzten Hauben betreten die kaiserliche Residenz im Bischofshof in Regensburg.

Die folgenden Diener tragen Bündel mit Zobelfellen als Geschenke für den Kaiser. Es ist eine der seltenen Gelegenheiten, wo die Anwesenheit von Russen in Deutschland eindrucksvoll dokumentiert ist. Die fremdartige Kleidung, mehr aber noch die Ess- und Trinksitten haben damals einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Die Regensburger Gesandtschaft lenkt den Blick auf die Bedeutung der Diplomaten in dieser Epoche. Nach den Kaufleuten in Nowgorod sind es nun die Reisenden, die Kenntnisse vermitteln und Verbindungen schaffen.

Fahrten nach Moskau und Petersburger Blütezeit

Auch Moskau wurde nun zum Ziel vieler diplomatischer Reisen. Die Wahrnehmung der Russen im Westen wurde so für lange Zeit von den ersten Reiseberichten bestimmt, unter denen die „Moscowiter wunderbare Historien“ des Sigismunds von Herberstain eine ganz besondere Stellung einnehmen. Erstmals wurde hier eine umfassende, auf der eigenen Wahrnehmung beruhende Darstellung Russlands vorgelegt, die für das Russlandbild bis heute ausgesprochen folgenreich gewesen ist. Das Unverständnis des gebildeten Adeligen für viele Moskauer Gewohnheiten und gesellschaftliche Strukturen ist ebenso wie die Faszination der fremdartigen, großen Stadt und des schier endlosen Landes zu spüren. Aber nicht nur Diplomaten sind an den Zarenhof gelangt. Im 16. Jahrhundert bildete sich eine eigene, den westlichen Fremden vorbehaltene Vorstadt heraus, die wesentlich von Deutschen geprägt gewesen ist. Grabsteine mit deutscher Schrift sind die eindrucksvollsten Zeugnisse dieser Gemeinde. So war Caspar von Elverfeldt zunächst Landdroste in Petershagen bei Minden, wechselte dann in den Dienst des Bischofs in Livland, gelangte nach der Eroberung des Gebietes durch Iwan IV. an dessen Hof und nahm dort eine bedeutende Stellung ein, bis er in Ungnade fiel und im Gefängnis starb.

Das 18. Jahrhundert begann für Russland mit einem Paukenschlag. Peter I. beschloss den Bau einer neuen Stadt an der Mündung der Newa in die Ostsee. Der Weg von und nach Russland führte nun über das baltische Meer und verkürzte sich wesentlich. Gleichzeitig gelang es Russland in kurzer Zeit, Schweden aus der Vormachtstellung im Ostseeraum zu verdrängen. Mit der Gründung von Petersburg und der folgenden Erhebung zur Hauptstadt nimmt die Hinwendung Russlands zum Westen Gestalt an. Ein Tor wurde aufgestoßen, über das auch viele Deutsche schon bald Zugang fanden. Gerade in Petersburg bildete sich eine große deutsche Gemeinde heraus, viele deutsche Geschäftsleute fanden dort gute Möglichkeiten vor. Der bekannteste unter ihnen ist im 19. Jahrhundert sicher der Kaufmann Heinrich Schliemann gewesen.

Unser Blick geht jedoch zurück in die letzten Jahre Peters des Großen. Noch kurz vor seinem Tod forcierte der Zar die Gründung der Akademie der Wissenschaften – mit Unterstützung von Gottfried Wilhelm Leibniz. Neun der ersten 13 Akademiemitglieder kamen aus Deutschland in das neue „Paradies der Gelehrten“. Und Deutsch blieb für lange Zeit die Sprache der Akademie.

Eines der spektakulärsten Unternehmen dieser Zeit war die zweite große Kamtschatka-Expedition, an der auch deutsche Wissenschaftler teilnahmen, unter ihnen Georg Wilhelm Steller, der der gewaltigen, acht Meter langen Seekuh seinen Namen gab, die kurz danach bereits ausgerottet wurde.

Aber auch die preußisch-russische Geschichte ist seit Peter dem Großen enger miteinander verbunden. Exemplarisch zeigt dies das Zepter der preußischen Könige: In der Mitte des bekrönenden Adlers sitzt ein Rubin. Dieser ist ein Geschenk Peters des Großen. Die Rangerhöhung der preußischen Kurfürsten zu Königen in Preußen, die 1701 mit der Selbstkrönung Friedrichs I. in Königsberg erfolgte, ist ein wichtiges Ereignis; der Rubin bezeugt, dass das Einvernehmen mit Russland dafür eine Grundlage gewesen ist.

Dynastische Verflechtungen

Mit Peter, der Eheverbindungen seiner Töchter mit deutschen Adelshäusern im Ostseeraum forcierte, beginnen auch die engen dynastischen Verbindungen. Sophie Auguste von Anhalt-Zerbst wird von der Zarin Elisabeth als Ehefrau des Zarenenkels Karl Peter Ullrich von Holstein-Gottorp ausgewählt. Die Prinzessin aus dem Hause Anhalt-Zerbst ging als Katharina die Große in die Geschichte ein. Katharina hat die Verbindung zwischen Deutschen und Russen durch die Anwerbung deutscher Siedler insbesondere für die Erschließung des Wolgaraumes dauerhaft verstärkt. Von nun an lebten bis zu den Umwälzungen des 20. Jahrhunderts deutsche Gemeinden mit ihren Traditionen mitten in Russland. Hier war alltägliche Begegnung möglich.

Von 200 Jahren veränderten die napoleonischen Kriege die Strukturen Europas. Am 30. Dezember 1812 schlossen der preußische General York von Wartenburg und der russische General von Diebitsch, ein gebürtiger Schlesier, die Konvention von Tauroggen. Dieser Waffenstillstand läutete den Beginn der Befreiungskriege ein.

Das 19. Jahrhundert brachte eine ungeheure Zunahme der Verbindungen mit sich. Die dynastischen Beziehungen schufen Kontakte zu vielen deutschen Adelshöfen, die deutschen Firmen erkannten zunehmend die Chancen des gewaltigen russischen Marktes, etwa beim Ausbau der Infrastruktur oder bei der Gewinnung von Bodenschätzen. Die kulturellen Beeinflussungen und Durchdringungen erreichten immer weitere Bevölkerungskreise. Die russische Faszination für deutsche Klassiker schlägt sich in herausragenden Übersetzungen nieder, die deutsche Öffentlichkeit war (und ist) von russischen Schriftstellern seit den 1880er Jahren fasziniert. Die Romane von Iwan Turgenew, Fjodor Dostojewski und Lew Tolstoi prägten die deutsche Wahrnehmung von der „russischen Seele“. Am Anfang des 20. Jahrhunderts begeisterten die Gastspiele russischer Theater und Balletts das Berliner Publikum. Sie vermittelten den Aufschwung der Künste in Russland unmittelbar vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges.

Zäsuren des 20. Jahrhunderts

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges kappt alle bisherigen Verbindungslinien und auch die stetig zunehmende Intensität der Beziehungen. Zu keinem Zeitpunkt waren vorher so viele Deutsche in Russland tätig und erstmals fanden sich auch große russische „Gemeinden“ in Deutschland, für die die Freiheit vor Zensur und Bevormundung des Zarenreiches sehr attraktiv gewesen ist. Die Alltäglichkeit, mit der Wolgadeutsche, Baltendeutsche und Neuhinzugekommene in Russland lebten, ist heute kaum noch vorstellbar. Es ist und bleibt lohnend, sich die historische Tiefe und Vielfältigkeit der Verbindung von Deutschen und Russen gerade vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts vor Augen zu führen. Der Konflikt zwischen beiden Ländern war nicht der Normalzustand, sondern die große Ausnahme.

Matthias Wemhoff

Prof. Dr. Matthias Wemhoff (RC Berlin-Brandenburger Tor)ist seit 2008 Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte im Neuen Museum auf der Museumsinsel Berlin. Zu den Beständen des Museums gehört die von Heinrich Schliemann geschenkte Trojasammlung.

smb.museum

Weitere Artikel des Autors

5/2022 Schliemann – dem Helden?
Mehr zum Autor