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Buch der Woche

»Schöne Grüße aus dem Orbán-Land«

Wie ist es möglich, dass ausgerechnet aus Ungarn, jenem Land, das sich als erstes aus dem kommunistischen Block herausgelöst und nach Westen orientiert hat, derartig negative Schlagzeilen und Berichte kommen? Über Mediengesetze, die mit einer modernen Demokratie nicht vereinbar sind, schreiben die ORF-Journalisten Roland Androwitzer und Ernst Gelegs in ihrem Buch »Schöne Grüße aus dem Orbán-Land". Über antisemitische Ausfälle einer Partei, die sogar im ungarischen Parlament sitzt. Wie Viktor Orbán demokratische Kontrollinstanzen abbaut, lesen Sie im fünften Kapitel – eine Leseprobe.

17.01.2014

Orbáns Macht braucht keine Kontrolle – der Abbau der demokratischer Kontrollinstanzen

Schon kurz nach Amtsantritt macht sich Ministerpräsident Viktor Orbán mit seinen engsten Vertrauten eifrig an die Arbeit, Ministerien, Behörden, staatsnahe Institute und Kulturinstitutionen politisch zu „säubern“ sowie sämtliche demokratischen Kontrollinstanzen auf Linie zu bringen und manche auch zu demontieren.

Von den Spitzenbeamten ganz oben bis hinunter zur Putzfrau verlieren alle ihre Jobs, die nur in die Nähe der sozialistischen Vorgängerregierungen gerückt werden können (Pragmatisierung von Beamten wie in Österreich gibt es in Ungarn nicht). Die frei gewordenen Schreibtische besetzen ausnahmslos FIDESZ-loyale Personen, wer sonst? Der guten Ordnung halber sei angemerkt, dass auch die Sozialisten während ihrer Regierungszeit ähnlich vorgegangen sind und ebenfalls ihre Leute in den Ministerien untergebracht haben. Doch Viktor Orbán arbeitet gründlicher als die Sozialisten. Systematisch zieht er mit seiner Regierungsmannschaft eine Art „Wir kontrollieren uns selber“-System auf. Kontrolle durch die Opposition akzeptiert Orbán nicht. Er agiert ganz nach dem Demokratieverständnis des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, der einmal gesagt haben soll: „Wir brauchen keine Opposition, wir sind selber Demokraten!“

Opposition ist in den Augen Orbáns nur hinderlich, lästig, feindlich und vor allem jetzt schädlich für die Heimat. Er selbst hat ja nie konstruktive Oppositionspolitik betrieben, sondern stets destruktive. Erinnert sei an die von Orbán initiierten Volksabstimmungen während der Amtszeit des sozialistischen Ministerpräsidenten Gyurcsány (siehe das Kapitel „Orbáns neue Strategie gegen die Regierung: Volksabstimmungen“), die unter anderem zur Abschaffung der Studiengebühren geführt haben. Kaum in der Regierung, hat Orbán die Studiengebühren wieder eingeführt.

Welcher Wind künftig in Ungarn wehen wird, ist schon kurz nach dem Amtsantritt Viktor Orbáns zu spüren. Er fordert den Gouverneur der Nationalbank, András Simor, zum Rücktritt auf. Simor ist 2007 von der damaligen sozialistischen Regierung für sechs Jahre an die Spitze der Nationalbank gesetzt worden. Er genießt daher nicht das Vertrauen des neuen Ministerpräsidenten. Orbán missfällt der regierungsunabhängige Kurs der Nationalbank. Er will den direkten Zugriff auf diese und so Einfluss auf die Zinspolitik des Staates nehmen. Aber Orbán weiß, dass er den Gouverneur nicht so einfach loswerden kann. Daher wirft er ihm gleich zu Beginn seiner Amtszeit den Fehdehandschuh hin, beginnt, Simor mit Gehaltskürzungen zu drangsalieren, und versucht ihn mit Vorwürfen in Misskredit zu bringen, er betreibe Offshore-Firmen in Zypern – in der stillen Hoffnung, dass Simor von selber aufgibt; vergeblich, wie sich zeigen soll.

Die EZB, die Europäische Zentralbank, eilt zu Hilfe und bewahrt die Unabhängigkeit der Ungarischen Nationalbank bis Ende Februar 2013. Doch Orbán gibt den Kampf um die Nationalbank nicht auf (siehe das Kapitel „Viktor Orbáns Kampf gegen die Nationalbank“).

Mit einem weiteren wichtigen, weil unabhängigen Staatsorgan, dem Staatspräsidenten, hat Ministerpräsident Orbán leichtes Spiel. Der Zufall will es, dass die Amtszeit von Präsident László Sólyom im Juni 2010 ausläuft. Der Staatspräsident wird in Ungarn nicht vom Volk, sondern vom Parlament gewählt, also nach aktuellem Machtverhältnis in Ungarn de facto von Viktor Orbán bestimmt. Sólyom ist zwar 2005 mit den Stimmen von FIDESZ zum Staatspräsidenten gewählt worden und wäre auch noch für eine weitere fünfjährige Amtsperiode wählbar gewesen, aber der bürgerliche Verfassungsjurist war Orbán viel zu selbstbewusst und unabhängig. Viktor Orbán braucht für die reibungslose Umsetzung seiner ehrgeizigen Pläne eine Person an der Spitze des Staates, die nur ein einziges Qualifikationskriterium zu 100 Prozent erfüllt: hündische Ergebenheit gegenüber Viktor Orbán und seiner Regierung!

Der ungarische Staatspräsident hat zwar nur repräsentative Aufgaben und sogar weniger Befugnisse als der österreichische Bundespräsident, aber er hat verfassungsrechtlich doch Möglichkeiten, eine Regierung zu „ärgern“. Der ungarische Präsident hat das Recht, seine Unterschrift unter Gesetze zu verweigern und sie dem Parlament zur Überarbeitung zurückzuschicken, und er kann erlassene Gesetze beim Verfassungsgerichtshof überprüfen lassen. Wirklich verhindern kann der Staatspräsident kein Gesetz, denn das Parlament hat die Möglichkeit, einen Beharrungsbeschluss zu fassen. Dem Staatspräsidenten bleibt dann nichts anderes übrig, als dem Gesetz mit seiner Unterschrift Rechtswirksamkeit zu verleihen. Aber medialen Staub würde so ein Tauziehen zwischen Parlament und Staatspräsident allemal aufwirbeln. Nein, das kann Orbán nicht brauchen, dass einer, der als Präsident unkontrollierbar und quasi sakrosankt geworden ist, medienwirksam die Gesetze der Orbán-Regierung hinterfragt. Im ganzen Magyaren-Land gibt es nur einen FIDESZ-Politiker, der das Orbán’sche Qualifikationskriterium „hündische Ergebenheit“ voll und ganz erfüllt: Pál Schmitt. Er soll in einem Interview einmal gesagt haben, dass er nur Gott und Viktor Orbán als seine Chefs akzeptieren würde (durchaus möglich, dass die Reihenfolge auch umgekehrt war). Und so wird der damals 68-jährige zweifache Fechtolympiasieger (1968 und 1972, Degen-Mannschaftsbewerb), Präsident des Ungarischen Olympischen Komitees und ehemalige EU-Abgeordnete für FIDESZ am 29. Juni 2010 dank der Zweidrittelmehrheit der Regierungspartei FIDESZ zum Staatspräsidenten gewählt. Die erste Reaktion des treuen Dieners der Orbán-Regierung auf seine Wahl: „Ich will kein Hindernis, sondern Motor der Regierung sein!“ – Alles klar?

Wie gut der Motor im Sinne der Orbán-Regierung funktioniert, zeigt sich, als Staatspräsident Pál Schmitt das umstrittene Mediengesetz zu unterzeichnen hat. Insider berichteten mir, dass Schmitt das fast 200 Seiten umfassende Gesetz quasi zwischen Tür und Angel unterschrieben hat. Er soll gerade von einer Dienstreise gekommen und schon am Sprung zur nächsten Reise gewesen sein. Allen glühenden Verteidigern der Orbán-Regierung, die den Kritikern des Mediengesetzes gerne die Frage stellen, ob sie das ungarische Mediengesetz denn auch tatsächlich gelesen hätten, sei hiermit gesagt: Nicht einmal der damalige Staatspräsident hat’s gelesen, obwohl es seine politische Pflicht gewesen wäre! Pál Schmitt, der Polit-Hampelmann der Orbán-Regierung, wäre heute noch Staatspräsident Ungarns, wenn nicht das unabhängige Wochenmagazin „HVG“ im Jänner 2012 aufgedeckt hätte, dass er sich den Doktortitel erschwindelt hatte. Die „HVG“-Journalisten recherchierten, dass Schmitt den Großteil seiner Doktorarbeit mit dem Titel „Analyse des Programms der Olympischen Spiele der Neuzeit“ von einer Studie des bulgarischen Sportwissenschaftlers Nikolai Georgiew abgeschrieben hatte. Der Senat der Semmelweis-Universität in Budapest, an der Schmitt seine Dissertation 1992 eingereicht hatte, sieht es als erwiesen an, dass Schmitt mindestens 197 Seiten seiner 215 Seiten umfassenden Doktorarbeit aus dem Jahr 1992 plagiiert hat. Viktor Orbán musste seinen Parteifreund Pál Schmitt fallen lassen, weil die Budapester Semmelweis-Universität nicht bereit war, den guten Ruf der ungarischen Wissenschaft einer fragwürdigen Partei- oder Orbán-Loyalität zu opfern. Schmitt hat somit nicht nur seinen Doktortitel verloren, sondern auch das Amt des Staatspräsidenten.

Viktor Orbán präsentierte rasch einen geeigneten Nachfolger, seinen langjährigen Weggefährten János Áder. Der 1959 in Csorna (Westungarn) geborene Áder ist ein Gründungsmitglied der Partei FIDESZ und treuer Gefolgsmann von Viktor Orbán. In den Oppositionsjahren zwischen 2002 und 2006 führte er die FIDESZ-Parlamentsfraktion. Nach der verlorenen Wahl 2006 wurde das Verhältnis zwischen Orbán und Áder zunehmend schwierig. Áder soll bezweifelt haben, ob Viktor Orbán der richtige Mann an der Spitze der Partei ist. Schließlich lobt Orbán seinen Parteifreund nach Brüssel „weg“, Áder wird 2009 EU-Abgeordneter.

Nach drei Jahren im „Straßburger Exil“ kehrt Áder, von Orbán rehabilitiert, nach Ungarn zurück. Seine Wahl zum Staatspräsidenten erfolgt am 2. Mai 2012 im Parlament in Budapest. Der studierte Jurist János Áder ist zwar nicht ganz so „pflegeleicht“ wie Pál Schmitt, aber verlässlich und erfahren genug, um zu wissen, dass es besser ist, Viktor Orbán nicht in den Rücken zu fallen.

Und dennoch hat Áder bereits einige Male seine Eigenständigkeit bewiesen und seine Unterschrift unter „Orbán-Gesetze“ verweigert. So beispielsweise im Juni 2013. Das Parlament verabschiedete ein Gesetz, wonach die Budapester Margareteninsel aus der Verwaltung des 13. Bezirks herausgelöst und in den Verwaltungsbereich des Oberbürgermeisters von Budapest, István Tarlós, eingegliedert wird, eines loyalen Orbán-Mannes. Der Bürgermeister des 13. Bezirks, ein Mitglied der Sozialistischen Partei, protestiert heftig. Denn der Oberbürgermeister nimmt ihm ein attraktives und vor allem lukratives Gebiet mit zwei Hotels weg, die brav Steuern zahlen. Präsident Áder verweigert die Unterschrift mit der Begründung, dass nach den Richtlinien des Europarates Bezirksgrenzen nur nach intensiver Konsultation mit den Bezirksvertretern und der Bevölkerung geändert werden können. Doch vergeblich. Das Parlament fasst einen Beharrungsbeschluss. Die Interessen des regierungstreuen Oberbürgermeisters von Budapest sind wichtiger als die rechtlichen Bedenken des Staatspräsidenten.

Ein weiteres Beispiel ist das umstrittene ungarische Kirchengesetz, wonach nur eine parlamentarische Mehrheit entscheiden kann, ob eine Glaubensgemeinschaft den Status „Kirche“ und somit auch staatliche Förderungen zuerkannt bekommt oder nicht. Nach heftiger internationaler Kritik an dem Gesetz lässt die Orbán-Regierung vom Parlament dutzende Paragrafen ändern. Im Juli wird das mehrfach überarbeitete Kirchengesetz veraschiedet und dem Staatspräsidenten zur Unterschrift vorgelegt. János Áder verweigert seine Unterschrift. Aber nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern weil die vielen Änderungen zu massiven Widersprüchen im Gesetz geführt haben. Dennoch meinen Insider, dass Staatspräsident János Áder seine Unabhängigkeit nur zum Schein demonstriert. Wenn es wirklich ans Eingemachte geht, ist Áder ganz im Sinne Orbáns treu und verlässlich.

Ministerpräsident Viktor Orbán verhindert auch, dass seine Politik mit Hilfe von Volksabstimmungen korrigiert wird. Er selbst hat ja die politischen Entscheidungen der sozialistisch geführten Gyurcsány-Regierung mit geschickt initiierten Referenden rückgängig gemacht (siehe das Kapitel „Orbáns neue Strategie gegen die Regierung: Volksabstimmungen“). Was er seinem politischen Gegner angetan hat, soll ihm nicht widerfahren, wie sich der Ministerpräsident vermutlich geschworen hat. Und daher lässt er das demokratische Instrument der Volksabstimmung gesetzlich verändern, und zwar dahingehend, dass es schwieriger wird, ein Referendum zu initiieren. Früher waren 100.000 Unterstützungsunterschriften für die Abhaltung einer Volksabstimmung notwendig, jetzt braucht es schon doppelt so viele. Orbán lässt auch die Zeitspanne verkürzen, in der die Unterschriften gesammelt werden müssen. Während es früher kein Zeitlimit gab, müssen die Unterschriften heute innerhalb von vier Monaten gesammelt werden. Zeitlich unbegrenzt ist hingegen die juristische Beurteilung von Einsprüchen gegen Referenden. Orbán macht es möglich, dass sich das Verfassungsgericht mit der Beurteilung, ob ein Referendum zulässig ist oder nicht, Jahre Zeit lassen kann. Die Regierung gibt sich damit die Möglichkeit, Referenden mit Hilfe eines Einspruchs über Jahre hinaus zu verzögern. Der Ministerpräsident lässt auch die Gültigkeit einer Volksabstimmung erschweren. Heute müssen sich mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten an einem Referendum beteiligen, damit es gültig ist. Früher mussten lediglich 25 Prozent der Stimmen entweder auf die Antwort „Ja“ oder „Nein“ entfallen. Orbán hat erfolgreich dafür gesorgt, dass ihn weder eine politische Partei noch irgendeine Bürgerinitiative mit geschickt initiierten Volksabstimmungen in Bedrängnis bringen kann. Innerhalb eines Jahres hat Ministerpräsident Viktor Orbán dank seiner Zweidrittelmehrheit im Parlament alle wichtigen Kontrollorgane eines demokratischen Staates mit seinen Vertrauensleuten besetzt und so unter seine Kontrolle gebracht. Er und seine Partei FIDESZ kontrollieren nicht nur alle Ministerien und das Parlament, sondern – wie schon erläutert – den Staatspräsidenten, den Rechnungshof, die Finanzmarktaufsicht, große Teile der Justiz, die Medienbehörde, die öffentlich-rechtlichen Medien, Kulturinstitutionen und seit März 2013 auch die Nationalbank.

Die ungarische Notenbank war lange Zeit ein Bollwerk der Unabhängigkeit, das Viktor Orbán nicht zu stürzen vermocht hatte. Sein Plan war, die Politik der Nationalbank mit einer Reform unter seine Kontrolle zu bringen.

Die Autoren: Ernst Gelegs, seit 1999 ORF-Korrespondent in Budapest, geht diesen Fragen in diesem Buch auf den Grund. Er ist auf den Straßen Budapests angepöbelt worden, weil er über Anti-Regierungsdemonstrationen berichtet hat, er hat mit ständigen Einschüchterungsversuchen und massiven Beschwerden ungarischer Regierungsstellen und Diplomaten zu kämpfen, weil er ganz einfach seine Arbeit macht. Seine Verabschiedung in privaten E-Mails, „Schöne Grüße aus dem Orbán-Land“, fand erstaunlicherweise den Weg in die ungarische Botschaft in Wien und wird dort als Beweis für seine angebliche Orbán-feindliche Haltung interpretiert. Roland Adrowitzer, Leiter des ORF-Korrespondentenbüros und langjähriger Korrespondent in Bonn, London und Brüssel, ist der Frage nachgegangen, warum sich die Europäische Union mit ihrem Mitglied Ungarn und seinem Regierungschef Viktor Orbán so schwertut. Er hat in Brüssel und Straßburg recherchiert, zahllose Hintergrundgespräche und repräsentative Interviews mit namhaften Persönlichkeiten in Parlament, Kommission und diplomatischem Corps geführt. Sein Resümee: Die negativen Erfahrungen mit den seinerzeitigen Sanktionen gegen Österreich spielen Viktor Orbán und seiner Regierung in die Hände.

Quelle: Roland Adrowitzer und Ernst Gelegs: Grüße aus dem Orbán-Land. Die rechte Revolution in Ungarn. Styria Premiu, Wien – Graz – Klagenfurt 2013. 208 Seiten, 24,99 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten 83 bis 89. Mehr zum Buch.