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Das Amt und die Funktion des Kantors

Soli Deo Gloria

Hermann Rauhe15.03.2012

Der Kantor ist Botschafter des Glaubens: Bei der Betrachtung von Amt und Aufgabe des Kantors verbinden sich unterschiedliche Aspekte. Theologische und liturgische Fragestellungen werden ebenso berührt wie Musik-, Kulturgeschichte und Soziologie. Faszinierend ist das Kantorenamt aufgrund seiner Vielseitigkeit, dem immer neuen Bezug zur Theologie, Musik und vor allem zum Singen.

Unterstützung der göttlichen Botschaft

Der Gesang der Christen ist so alt wie ihr Gottesdienst. Neben dem gesprochenen Wort stand immer auch das gesungene. Zwar ist in der Bibel nicht vom Kantor die Rede, vom Singen wird aber häufig gesprochen. Beispielsweise heißt es im Brief an die Kolosser „Lasset das Wort Christi unter euch reichlich wohnen in aller Weisheit; lehret und vermahnet euch selbst mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen lieblichen Liedern“. Gottes Wort wird nicht nur durch Sprache, sondern auch durch den Gesang verkündigt und verbreitet. Der Kantor als Sänger oder Vorsänger ist natürlich keine Erfindung des Christentums. Schon im Tempel zu Jerusalem hat es einen Kantor als feste Einrichtung gegeben. Gottesdienst und Gesang sind im Christentum wie auch im Judentum eng miteinander verknüpft. Darin besteht die Grundlage des Amtes des Kantors. Das Wort Gottes und die Worte des Priesters erfahren Unterstützung durch den Gesang. Der Gesang der Gemeinde verinnerlicht die göttliche Botschaft.
Das kann auf vielerlei Weise geschehen, und im geschichtlichen Verlauf musste dabei das Verhältnis von gesprochenem und gesungenem Wort, von Begriff und Musik, Ratio und Gefühl immer wieder neu bestimmt werden. Je nach Zeitströmung richtete man an den Kirchenmusiker sehr verschiedene Forderungen. In der Frühzeit des Christentums verbot man Instrumentalmusik in der Kirche, weil das Instrumentalspiel an alte heidnische Bräuche erinnerte. Die orthodoxen Kirchen haben dieses Verbot bis heute aufrechterhalten. Dieser Musikpuritanismus wiederholte sich im Lauf der Musikgeschichte noch auf anderen Ebenen. So führte der höchst artifizielle mehrstimmige Gesang der Kirchenmusik des späten Mittelalters und der Renaissance zu einer Gegenbewegung. Man hielt die Komponisten an, ihren Stil zu vereinfachen, damit die christlichen Texte wieder von den Gläubigen verstanden werden könnten.

Vom einfachen Sänger oder Vorsänger in der Frühzeit des Christentums entwickelte sich der Kantor im Mittelalter zum Leiter des kirchlichen Chores. Außerdem bezeichnete man als Kantor den Leiter der scholae cantorum, der Sängerschulen, deren Einrichtung mit zunehmender Organisation und Komplexität von Liturgie und Kirchenmusik notwendig wurde. Kantoren an der päpstlichen Singschule erstellten im 7. Jahrhundert auf Weisung Papst Gregors die Liedersammlungen des Gregorianischen Chorals. In die Zeit des späten Mittelalters fallen die Gründungen zweier heute berühmter Chöre: Der Thomanerchor feiert in diesem Jahr 800jähriges Bestehen, der Dresdner Kreuzchor blickt auf über 700 Jahre zurück.

Mit der Reformation im 16. Jahrhundert veränderte sich die Stellung des Kantors im Gottesdienst. Für Martin Luther zählte die Musik zu den segensreichsten Gaben der Schöpfung Gottes. Durch seine Umstrukturierung des Gottesdienstes wurde die Gemeinde als singende Gemeinschaft stärker in die Gestaltung des Gottesdienstes einbezogen und damit die Stellung des Kantors neu bestimmt. Im Zuge der Reformation ordnete man das Schulwesen neu. In den jetzt gegründeten Schulen nahm der Kantor die Position eines Lehrers ein und folgte in der Hierarchie gleich nach dem Rektor.

Singende Gemeinschaft

Berufliche Konkurrenz entstand den Kantoren ab dem 17. Jahrhundert durch die Organisten, die in der Kirche eine wachsende Bedeutung erlangt hatten. In Gottesdiensten und Messen nahm der Organist neue Aufgaben wahr, etwa in der Begleitung des Gemeindegesanges, was vor 1650 unüblich war, oder in Form ausgedehnter Choralvorspiele. Diese Entwicklung führte zum Zurücktreten des Kantors hinter den Organisten. In vielen Kirchen, abgesehen von den ganz großen, in denen die klare Trennung von Kantor und Organist aufrechterhalten wurde, gestaltete nun der Organist die gesamte Kirchenmusik. Dennoch blieb die Bezeichnung „Kantor“ erhalten, indem man den Titel oftmals auf den Organisten beziehungsweise den orgelspielenden Schulmeister übertrug.

Im 20. Jh. setzte eine theologisch-liturgische Erneuerung ein; und auch die Ausbildungssituation wandelte sich. Die Veränderungen führten zu der heute üblichen Verbindung von Organistenberuf und Kantorenamt. Die Bezeichnung Kirchenmusiker löst die des Kantors ab, allerdings wird daneben gerade in der evangelischen Kirche der ältere Begriff noch oft benutzt. Der Titel „Kirchenmusikdirektor“ (KMD) wird in der Regel für herausragende Tätigkeiten und Leistungen ehrenhalber verliehen, so tragen etliche der Kirchenmusiker der Hamburger Hauptkirchen diesen Titel.

Kirchenmusiker und Kulturmanager

Die Aufgaben des heutigen Kirchenmusikers oder Kantors sind so vielfältig wie die Musik an unseren Kirchen: Angefangen beim Orgelspiel, der Leitung von Instrumentalensembles, Chören, Singkreisen, Gospel- und Posaunenchören. Oftmals ist der Kirchenmusiker auch als Komponist und Arrangeur gefragt. Das Studium der Kirchenmusik vermittelt dazu die fachlichen Voraussetzungen. Darüber hinaus ist der Kirchenmusiker in unserer Zeit immer stärker auch als Musik- und Kulturmanager gefragt, als Vermittler, der seine Arbeit und die seiner Musiker über den engeren Kreis seiner Kirche hinaus bekannt macht. Die Begeisterung für das Singen hat mein Leben geprägt. Die Wurzeln hierfür liegen wohl bei meiner Mutter, die als Kantorin und Organistin tätig war. Ich hatte das Glück, dass ich meiner Leidenschaft für das Singen viele Jahre als Leiter der Harburger Jugendkantorei und des Hochschulchores nachgehen konnte und nun seit 19 Jahren als Ehrenkantor am Hamburger Michel wirke, indem ich mit der Gemeinde selbst komponierte Kanons singe.

Hermann Rauhe
Prof. Dr. Hermann Rauhe ist Musikwissenschaftler und Ehrenpräsident der Hochschule für Musik und Theater Hamburg sowie Ehrenkantor an der Hamburger St. Michaeliskirche. Zuletzt veröffentlichte er „Musikstadt Hamburg. Eine klingende Chronik“, (Buch mit 7 CDs, Verlag Ellert & Richter, 2. Auflage, 2010). hermannrauhe.de

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