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Interview zum Islam

»Tragische Selbstzerstörung«

In turbulenten Zeiten, in denen der Orient hierzulande vor allem mit Ängsten und Sorgen verbunden wird, erinnert uns die biblische Geschichte von den Heiligen Drei Königen an die langen kulturellen, religiösen und auch ökonomischen Verbindungen zum Nahen und Mittleren Osten.

01.12.2015

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Martin Mosebach über die Bereicherung der westlichen Welt durch den Orient, die geistige Kraft der traditionellen islamischen Kultur und ihren tragischen Niedergang in der Gegenwart.

 Herr Mosebach, woran denken Sie beim Wort „Orient“?
Bei dem Wort „Orient“ fällt mir ein, dass dort die Sonne aufgeht. Und zwar nicht nur im astronomischen Sinne, sondern auch geistig und geistlich, intellektuell und spirituell. Ein altes Wort lautet, wie Sie wissen: „Ex oriente lux“ – aus dem Osten kommt das Licht. Dahinter verbirgt sich eine uralte Verbindung der westlichen Philosophie mit dem Orient. Was dort gedacht wurde, hat der Okzident aufgenommen, reflektiert und umgeformt.

In der Gegenwart erscheint der Osten jedoch eher als etwas Bedrohliches, vor allem seit den Verbrechen des Islamischen Staates oder zuvor von Al-Qaida …
… und davor wiederum in der großen osmanischen Zeit, als die Sultane versuchten, in Europa vorzudringen und bis vor Wien kamen. Die Araber hatten schon im ersten Jahrtausend versucht, Europa zu erobern, und wurden erst bei Poitiers von Karl Martell zurückgeschlagen. Aber sie besetzten für lange Zeit Spanien und Sizilien. Und doch gab es dabei immer wieder eine geistige Anregung und kulturelle Befruchtung. Denken Sie an die Alhambra in Granada oder an die Mezquita-Moschee in Cordoba.
Ob wir in der Gegenwart noch von einer gegenseitigen Befruchtung sprechen können, ist höchst fraglich. Wir haben ja in den letzten Jahren nicht nur zahlreiche Terroranschläge gegen die westliche Zivilisation – zuletzt vor ein paar Tagen in Paris – erlebt. Vor wenigen Wochen durften wir auch die ergreifende Rede von Navid Kermani zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hören, in der er ein unglaublich bedrückendes Bild des Islams unserer Tage zeichnete und zu dem Ergebnis kam, dass die geistige Kraft dieser Religion als positives, schöpferisches und kulturbegründendes Element tot sei.

Auffällig war, dass Kermani nicht für eine Modernisierung, sondern für die Verteidigung des traditionellen Islams plädierte.
Richtig. Für ihn ist der heutige fundamentalistische Islam kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck eines modernistischen Puritanismus. Das Mittelalter des Islam ist reich und bunt und vielfältig und intellektuell aufregend und mystisch und eben in keiner Weise totalitär. Und dieser eigentliche Islam soll durch die puritanischen Archaismen unserer Tage, die von den Wahhabiten in Saudi-Arabien ausgehen, vernichtet werden. Das Ergreifende an Kermanis Rede war ja, dass die kulturelle Tradition des Islam durch den Islamismus vernichtet wird – bis hin zu diesem bestürzenden Bild, dass der Wahhabismus das alte Mekka zerstört hat, und dass an der Stelle des Wohnhauses des Propheten Mohammed heute ein öffentliches Klo steht. Wir sind gerade Zeugen einer großen Selbstzerstörung der islamischen Kultur.
Wenn hierzulande regelmäßig gefordert wird, der Islam bräuchte eine Aufklärung, setzt dies schon viel Unkenntnis voraus. Übrigens hat auch das Christentum die Aufklärung nicht gebraucht. Das Christentum war im Mittelalter auf einer einzigartigen Höhe. Und es war auch im 1. Jahrtausend, in der Zeit der Kirchenväter, auf einer einzigartigen Höhe. Und zur Zeit Jesu und in den Tagen der Ur-Kirche war es auf der allerhöchsten Höhe. Das Christentum hat die Aufklärung keineswegs gebraucht, es hat sie allenfalls überstanden.

Haben Sie eine Erklärung für die selbstzerstörerischen Kräfte im Islam?
Man muss nicht immer gleich sagen, der Westen sei an allem Schuld. Aber wir tragen durchaus einen Teil der Verantwortung für die Zustände im Nahen und Mittleren Osten. Natürlich kann man sagen, dass sich eine gesunde Kultur auch über Phasen der Fremdherrschaft hinwegretten kann. Und die Inder haben ja auch die lebendige Kraft ihrer Hindu-Religion über die Kolonialzeit hinweg bewahrt. Doch für den Islam war die westliche Fremdherrschaft offensichtlich eine tödliche Verwundung, von der er sich nicht erholt hat. Hinzu kommt die politische Destabilisierung der Region in den letzten 25 bis 30 Jahren durch die Amerikaner und ihre Verbündeten, die von Syrien bis zum Hindukusch ein unheilvolles Chaos angerichtet haben. Und doch wäre dieses Chaos nicht so furchtbar gewesen, wenn nicht die geistigen Grundlagen schon längst durch den Wahhabismus beschädigt gewesen wären.

Sollte der Westen wegen dieser Verantwortung dem Orient eine Hilfestellung dabei leisten, wieder zu sich selbst zu finden? Zum Beispiel, indem man islamischen Denkern gelegentlich ein Forum in den großen Zeitungen und Zeitschriften bietet? Oder durch Ausweitung der Orient-Forschungen in den Universitäten. Oder in Form von Ausstellungen, in denen die Kultur des traditionellen Islam gezeigt und somit bewahrt wird.
Das sind natürlich alles wichtige Möglichkeiten. Doch wenn eine Kultur im Ganzen erkrankt, gibt es wenig, was da heilen könnte. Hier im Westen werden ja bereits seit vielen Jahren die Schätze des mittelalterlichen Islam, seine große kulturerzeugende Kraft von Wissenschaftlern wiederentdeckt und bewahrt. Ich möchte an dieser Stelle nur den Namen Annemarie Schimmel erwähnen.
Für die betroffenen Länder selbst befürchte ich, dass wir von außen nur zusehen können und warten müssen, bis sich – wie etwa in Deutschland im Dreißigjährigen Kriege – die verschiedenen Kräfte bis zur Erschöpfung bekämpft haben, und dann zu einer Ordnung wie dem Westfälischen Frieden finden, die auf Toleranz gegenüber dem Andersgläubigen gegründet ist und auf einen Umgang mit der Religionsspaltung, der nicht mehr auf die Ausrottung der anderen Seite zielt.

Sehen Sie im Islam auch Kräfte der Selbstheilung?
Durchaus. Kermani vertritt ja eine islamische Schule, die im Mittelalter sehr wichtig war, nämlich den mystischen Islam, den Sufismus. Der enthält alles, was am Islam fruchtbar ist. Er enthält Einflüsse der indischen und der christlichen Mystik sowie auch kulturelle Einflüsse des alten byzantinischen Reiches. Dieser Sufismus wird von den gegenwärtig herrschenden Kräften, auch von den nichtterroristischen Sunniten, als der eigentliche Hauptfeind betrachtet. Das ist die Tragödie.

Worin liegen für Sie die Gemeinsamkeiten zwischen Orient und Okzident, zwischen Islam und Christentum?
Das wichtigste religionsübergreifende Element ist die Mystik. Das mystische Erleben ist der Punkt, in dem die Religionen zusammenkommen. Sie können nicht in ihren Doktrinen, nicht in ihren Liturgien und auch nicht in ihrem Beten zusammenfinden. Aber in der Seele des Mystikers, da kommen sie zusammen.

Bei der Betrachtung der west-östlichen Verhältnisse wird ein Element fast immer vergessen – das orientalische Christentum.
In der Tat. Es ist eine der schweren Sünden – das muss ich auch als Katholik sagen –, dass die römische Kirche die Schwesternkirchen außerhalb ihres Machtbereichs einfach ignoriert hat. Dabei sind diese orientalischen Kirchen, die Kopten an der Spitze, ganz nah am Ursprung unseres Glaubens dran. Hier wird zum Teil noch die Sprache Jesu gesprochen, das Aramäische. Das Christentum der Kirchenväter aus dem ersten Jahrtausend ist hier am reinsten bewahrt.

Aber in unserer Öffentlichkeit scheint es kaum ein Bewusstsein dafür zu geben.
Was im Grunde unfassbar ist. Syrien zum Beispiel ist ein Kernland unserer Religion. In Damaskus erlebte Paulus sein großes Erweckungserlebnis, diese wundervolle Metropole ist für das Christentum so wichtig wie Jerusalem. Die ganze Region ist ein zusammenhängender Kulturraum, das Land der Apostel. In Vorderasien fanden die frühen Konzilien statt, in denen der Glaube definiert wurde. In Ägypten ist das Mönchstum begründet worden, das für die Entfaltung des Christentums ungeheuer wichtig war. Die koptischen Klöster sind Gründungsorte für das Christentum. Es wäre ein für das gesamte Christentum unersetzlicher Verlust, wenn dieses Stück lebendiges erstes Jahrtausend verloren ginge.

Sie gelten als einer der großen Ästheten und Stilisten unter den deutschen Autoren und zugleich als eine der prominentesten katholischen Stimmen in diesem Lande. Worin liegt für Sie persönlich die Bereicherung des Islam?
Ich denke hier insbesondere an die islamische Kultur, die Architektur, die sufische Musik, die Dichtung. Es gibt nichts, was ein gläubiges Herz mehr erquicken kann als die Weisheitssprüche der Sufi-Heiligen. Das ist vergleichbar mit den chassidischen Geschichten, die Martin Buber aufgeschrieben hat, oder mit den Mystikererzählungen vom Berg Athos. Und die Märchen aus Tausendundeiner Nacht gehören für mich zu den schönsten Büchern der Weltliteratur.
Eine Besonderheit der islamischen Kultur ist das Bilderverbot, das als künstlerische Ausdrucksmittel nur das Ornament und die Schrift zulässt. Diese werden allerdings auf eine Spitze getrieben, die schier überwältigend ist. So erschafft die arabische und persische Kalligraphie eigene wundersame Bilder. Das gleiche gilt für die Bauten, deren Kacheln mit faszinierenden Ornamenten überzogen sind, die wiederum ihrerseits staunenswerte Bilder ergeben.

Haben Sie eine Lieblingsmoschee oder sonst ein Lieblingsgebäude in der islamischen Welt?
Besonders großartig und formvollendet sind natürlich die indischen Bauten wie der Taj Mahal, ein Mausoleum, oder das Grab des Humayun, eines Moguls in Delhi. Sie gehören für mich nicht nur zu den schönsten Orten des Islam, sondern der Welt insgesamt. Staunenswert sind auch die rote Freitagsmoschee in Delhi oder die Moscheen in Kairo, die weniger Orte der ästhetischen Vollkommenheit sind, aber dafür wunderbare Zeugen des Zusammenwachsens der verschiedenen Kulturen. Und nicht zu vergessen ist der Felsendom auf dem Tempelberg in Jerusalem, der mit seiner prächtigen Kuppel fast ein Stück Idealarchitektur ist und auch als Hintergrundbau auf einem Gemälde von Raphael aufsteigen könnte.
Die islamische Kultur ist etwas Großes, ein Schatz der Menschheit, der jede intensive Beschäftigung lohnt. Aber die Religion hat in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von politischen Katastrophen durchlebt, die sie nur sehr schlecht überstanden hat. Wenn der geistige Funke des Islam erloschen sein sollte und stattdessen nur noch ein atheistischer Machtkampf übrig bliebe, dann hätte die ganze Welt Anlass, darüber sehr unglücklich zu sein.