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Über Herkunft und Klasse

Forum - Über Herkunft und Klasse
Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs. Für den Roman „Dann schlaf auch du“ wurde ihr der renommierte Prix Goncourt zuerkannt. © picture alliance/epa-efe/ christophe petit tesson

Seit rund 20 Jahren erlebt französische Literatur in Deutschland eine Renaissance. Worin liegen die Gründe für ihre Popularität?

Rainer Moritz01.06.2023

Welche Literatur nicht nur im eigenen Land Erfolge feiert, sondern Exportqualitäten hat und somit, wie es in der Agentensprache heißt, „travelfähig“ ist, unterliegt Moden und mitunter Zufällen. Kein Geheimnis ist es so, dass auf dem deutschen Buchmarkt seit jeher Übersetzungen aus dem Angloamerikanischen großen Raum einnehmen, während man sich beim Gang durch Londoner oder New Yorker Buchhandlungen schwertut, sich anhand der eher spärlichen Übersetzungen deutschsprachiger Literatur ein repräsentatives Bild zu machen.


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Welche fremden Literaturen plötzlich en vogue sind, hängt auch von schwer berechenbaren Faktoren, von einzelnen „Coups“ ab. Als zum Beispiel Mitte der 1990er Jahre die schon 70-jährige Schwedin Marianne Fredriksson mit Hannas Töchter überall die Bestsellerlisten stürmte, entwickelten deutsche Verlage ein über den Kriminalroman hinausgehendes Interesse an skandinavischer Literatur und fahndeten in den entlegensten Winkeln der nordischen Länder nach älteren Autorinnen, deren Bücher bislang unentdeckt geblieben waren. Ein einzelner Erfolgstitel kann so einen Boom auslösen, kann plötzlich neugierig machen auf die zuvor wenig beachtete Literatur eines Landes.

Auch die Rezeption der französischen Literatur hierzulande unterliegt solchen Wellen. Mal spielt diese eine Zeit lang eine herausragende, mal kurz darauf nur eine marginale Rolle, und fast immer lassen sich Initialentzündungen oder thematische Präferenzen ausmachen, die helfen, diese Schwankungen zu erklären.

Zuerst der Existenzialismus

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es anhaltende Phasen, in denen französische Autorinnen und Autoren breit rezipiert wurden und die intellektuellen Diskussionen in Deutschland mitbestimmten. Dazu zählt zuerst die philosophisch-literarische Strömung des Existenzialimus, festzumachen an Namen wie Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir (die mit Das andere Geschlecht, deutsch 1951, zudem eine entscheidende Anregerin für den in Deutschland mit deutlicher Verzögerung aufkommenden Feminismus war) und Albert Camus, dessen Werk anders als das seines Kontrahenten Sartre bis heute große Wertschätzung erfährt. Auch der kometenhafte Aufstieg der jungen Françoise Sagan, deren Bonjour tristesse zuerst 1954 erschien, gehört in gewisser Weise in diese Schublade.

Einen nicht minder markanten Einfluss zumindest auf ästhetische Debatten hatte die Strömung des „nouveau roman“, verkörpert durch die Werke Nathalie Sarrautes, Michel Butors, Alain RobbeGrillets oder mit Abstrichen Claude Simons. Ein Roman wie Robbe-Grillets La Jalousie (deutsch 1959) wurde sogar als Reclam-Heft vertrieben und im gymnasialen Deutsch unterricht behandelt.

Auf diese Phasen vielfältiger Wahrnehmung folgten lange Durststrecken in den 1970er und 1980er Jahren. Gewiss, es gab einzelne Vertreter, die Aufsehen erregten, Marguerite Duras mit Der Liebhaber zum Beispiel, Altmeister Julien Green oder die späteren Nobelpreisträger Jean-MarieGustave Le Clézio und Patrick Modiano, doch in der Breite sorgte die französische Literatur erst nach 1990 wieder für Furore, in den „Houellebecq-Jahren“, wie Iris Radisch das in ihrem Buch Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben nennt.

Seit Elementarteilchen (deutsch 1999) entwickelte sich Houellebecq zum Enfant terrible der französischen Literatur, dessen Bücher – wie Unterwerfung – regelmäßig für Skandale sorgen. Auch in Deutschland avancierte er zum Bestsellerautor, der gleichzeitig die Debatten in den Feuilletons prägte. Seine Rezeption dort fiel und fällt sehr unterschiedlich aus. Während Julia Encke (von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung) Houellebecq sogar eine Monografie – Wer ist Michel Houellebecq? Porträt eines Provokateurs (2017) – widmete, wird ihre Kollegin Sigrid Löfflernicht müde, ihre tiefe Abneigung zu äußern: „Es gibt einen Autor, den ich verabscheue – nicht weil er verlogen ist, sondern weil er seine Leser verachtet: Michel Houelle becq. Er schreibt so unfassbar schlecht! Nachlässig, wurstig. Er macht sich nicht die Mühe, gut zu schreiben.“

Wuchtig, ohne Rücksicht

Unabhängig vom Streit um Houellebecq, der auf jeden Fall eine wichtige Rolle als Türöffner gespielt hat, erfährt die Literatur Frankreichs seit rund 20 Jahren eine erstaunliche Renaissance in der deutschen Wahrnehmung. Zu nennen wären da natürlich Yasmina Reza, die mit ihren Theaterstücken und Romanen Mittelstandselend aufs Korn nimmt, oder die in Marokko geborene Leïla Slimani, die zuerst Pariser Ehehöllen (in Dann schlaf auch du) sezierte und sich dann der bewegenden Trilogie über ihre Familiengeschichte zuwandte (auf Deutsch bislang vorliegend Das Land der Anderen und Schaut, wie wir tanzen).

Was macht die Besonderheit der französischen Literatur aus? Was unterscheidet ihre Vertreter von ihren deutschen Kollegen? Zwei Aspekte erscheinen mir besonders auffällig. Französische Autorinnen und Autoren analysieren in ihren Texten kompromisslos, in welchem Zustand der Zerrissenheit sich ihr Land befindet. Romane wie die Vernon Subutex-Trilogie Virginie Despentes’ zeugen von einer Härte, die ihresgleichen sucht. Begriffe wie „Klasse“ und „Herkunft“ spielen eine zentrale Rolle und signalisieren, dass der Traum von Chancengleichheit längst ausgeträumt ist, vor allem wenn sich die ökonomischen Rahmenbedingungen dramatisch verschlechtern.

Ein Beispiel für viele: Nicolas Mathieus Connemara (deutsch 2022) zeichnet ein beklemmendes Panorama eines Landes, das zu einem „Schnellkochtopf“ geworden ist, „in dem seit Jahrzehnten der furchtbare Eintopf aus Verleugnung und Taubheit, Verdruss und Leid, Zukunftsangst und unheilbarer Nostalgie schmorte“. Einen Ausweg scheint es weder im Privaten noch im Politischen zu geben; der scheinbar unbelastete Emmanuel Macron und seine „Effizienzbesessenheit“ brachten keine Verbesserung. Und natürlich entwickelt auch Mathieu einen genauen Blick dafür, in welchen Milieus seine Protagonisten aufwachsen und welche Folgen die Klassenunterschiede für sie nach sich ziehen.

Meisterin der Autofiktion

Elementar werden diese Fragen auch in Romanen, die die französische (Kolonial)- Geschichte aufgreifen, thematisiert. Das aktuellste (sehr lesenswerte) Beispiel stammt von Mohamed Mbougar Sarr, 1990 geboren und im Senegal aufgewachsen. Für seinen Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen erhielt er 2021 den renommiertesten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt – für einen vielstimmigen, komplexen, witzigen Roman, der das Erbe des französischen Kolonialismus in eine Kriminalgeschichte verpackt und souverän sein Besteck moderner Erzählformen einsetzt. Herkunft und Klasse – diese Leitbegriffe kulminieren im Werk der in Deutschland spät, aber intensiv rezipierten Annie Ernaux, die 2022 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Ihre meist schmalen Romane verhandeln en détail und in immer neuen Reprisen ihre kleinbürgerliche, provinzielle Herkunft (etwa in Der Platz und Eine Frau) und die Scham darüber, sich von den Eltern und ihrer Lebensweise entfernt zu haben. Die eigene Geschichte und die ihres Landes miteinander zu verquicken, das hat Ernaux in ihrem erfolgreichsten Roman Die Jahre versucht, ihrer „unpersönlichen Autobiografie“.

Ernaux’ Werk steht ganz im Zeichen der „Autofiktion“. Dieser inzwischen oft unreflektiert verwendete Begriff bezeichnet ein Verfahren, das eigene Leben nicht nur autobiografisch zu spiegeln, sondern es immer wieder neu zu fassen, durch die Fiktion quasi erst zum eigenen Leben zu machen. Damit steht Ernaux in der französischen Literatur nicht allein. Didier Eribon, Camille Laurens oder Édouard Louis wären in diesem Zusammenhang zu nennen. Sich rigoros der Autofiktion hinzugeben und zugleich die Beschränkungen, die „Herkunft“, „Klasse“ oder „Rasse“ mit sich bringen, zu berücksichtigen, das vielleicht ist das Erfolgsgeheimnis der gegenwärtigen französischen Literatur, das macht ihre Attraktivität aus.

Rainer Moritz

Rainer Moritz leitet seit 2005 das Literaturhaus Hamburg. Der promovierte Literaturwissenschaftler ist Kritiker, Übersetzer und Autor zahlreicher Publikationen. Zuletzt erschienen im Kampa Verlag sein (im Südwesten Frankreichs spielender) Roman Das Schloss der Erinnerungen und im Reclam Verlag seine Studie Udo Jürgens.

© Gunter Glücklich