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Festspiele 2022

Verbindung schaffen im Versformat

Festspiele 2022 - Verbindung schaffen im Versformat
Annika Blanke © Niels Wagner

Poetry-Slam kann sowohl die Besucher von Heavy-Metal- als auch Klassik-Konzerten begeistern und das Publikum an ungewohnte Themen heranführen.

01.04.2022

Der literaturbegeisterte Bauarbeiter Marc Kelly Smith aus Chicago hatte 1984 offensichtlich eine Überdosis an langweiligen Lesungen von Autoren erlitten, deren Auftritte lediglich aus Vom-Buch-Ablesen und Am-Wasserglas-Festhalten bestanden. Vor allem bemängelte er eines: fehlende Interaktion mit dem Publikum. Smith beschloss, selbst aktiv zu werden und lud in seiner Heimatstadt zum Monday Night Poetry Reading in der „Get Me High Lounge“ ein. Hier wurde gelesen und diskutiert – doch zufrieden war er immer noch nicht. Bis ihm folgende Idee kam: Warum nicht Literatinnen und Literaten gegeneinander antreten lassen, mit dem Publikum als Jury?

Gesagt, getan: Der erste Poetry-Slam fand am 20. Juli 1986 im legendären Chicagoer Jazzclub „Green Mill“ statt. Die Regeln sind schnell erklärt: Meist vier bis zwölf Menschen stellen sich mit ihren selbst geschriebenen Texten auf eine Bühne, tragen vor und werden von einer zufällig im Publikum ausgewählten Jury mithilfe von Wertungskarten bewertet: Eine 1 für einen Text, „der nie hätte geschrieben werden sollen“, eine 10 für einen Text, „den man heiraten möchte“. Bewertet wird direkt im Anschluss des Vortrags, es zählt der unmittelbare Eindruck bezüglich Inhalt und Performance. Und darüber thront die wichtigste Regel von allen: „Respect the poet.“ Eine Null sucht man bei den Wertungskarten vergeblich; bereits der Mut, sich mit dem eigenen Text vor ein Publikum zu wagen, soll belohnt werden.

Poetry-Slam ist ein niederschwelliges Angebot, sich literarisch auszuprobieren: Ob gereimt oder nicht, lustig oder ernst, eine skurrile Geschichte über die letzte Familienfeier oder eine flammende Rede für mehr Nachhaltigkeit, alles ist möglich. Hauptsache, es dauert nicht länger als fünf bis sieben Minuten.

Immaterielles Weltkulturerbe

Heute, fast 36 Jahre später, ist die Erfolgsbilanz dieser Bühnenpoesie beachtlich: Von Chicago aus breitete sich Poetry-Slam innerhalb weniger Monate zunächst nach San Francisco und New York aus, bevor 1994 auch in Berlin erstmals ein Dichterwettstreit veranstaltet wurde. Schnell holten Szenepioniere wie Mieze Medusa das Format erfolgreich auch nach Österreich. Heute gibt es weit über 300 regelmäßig stattfindende Slams im deutschsprachigen Raum, seit 2016 gehören deutschsprachige Poetry-Slams zum immateriellen Weltkulturerbe der Unesco.

Und auch in Zukunft wird der Dichterwettstreit eine Spielwiese für Künstlerinnen und Künstler sein: Thorsten Sträter feierte seine ersten Erfolge auf Poetry-Slam-Bühnen, wurde 2009, 2010 und 2012 sogar NRW-Landesmeister. Bevor Julia Engelmann mit ihrem Text One Day Baby berühmt wurde, bespielte sie die Bremer Bühnen. Moritz Neumeier, Lisa Eckhart, Till Reiners – alle haben als Poetry-Slammer angefangen und dadurch ihre ganz eigene Stimme gefunden. Übrigens: Die älteste Slammerin Deutschlands, Marlene Stamerjohanns, ist 85 Jahre alt.

Slam-Poetry, das heißt immer auch: Literatur am Puls der Zeit. Es werden tagesaktuelle Ereignisse angesprochen oder auch Themen aus Tabuzonen geholt. So berichtet beispielsweise David Friedrich in Reparatur vom Umgang mit der eigenen Depression. Poetry-Slam ist auch immer ein Gradmesser der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, hält unterhaltsam den Spiegel vor. Wie in Rita Apels Das Kindergedicht vom Mikroplastik. Da wundert es nicht, dass ein etabliertes Festival wie die Händel-Festspiele am 2. Juni oder die Thüringer Festwochen vom 11. bis 18. September – und ja, auch das Wacken Open Air vom 4. bis 6. August, ihre Bühnen für PoetrySlams öffnen: Ein literarischer Wettstreit zum Thema Händel, Lemmy Kilmister oder Luther verspricht eine kreative Auseinandersetzung mit vermeintlich altbekannten Themen aus vielleicht ganz neuen Blickwinkeln.

Einfach überraschen lassen!

Wenn Sie also demnächst eine „eher traditionelle“ Veranstaltungsreihe besuchen, wundern Sie sich nicht, wenn dort jemand einen Poetry-Slam-Text vorträgt. Sie oder er wird Sie unterhalten, überraschen und zum Nachdenken anregen. Und das ist gut so. Und garantiert vielfältig.

Annika Blanke


Zur Person

Annika Blanke (Rotary E-Club of D-1850 und Mitglied in der Rotarian Metalhead Fellowship) ist Poetry-Slammerin, Kabarettistin und Moderatorin. Wer mehr von ihr zum Thema Poetry-Slam erfahren möchte, engagiert sie unter rotaryvortraege.de für einen Clubvortrag. Oder über annikablanke.de