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Pandemie

Vom Suchen und Finden des Glücks

Pandemie - Vom Suchen und Finden des Glücks
Pia Roewer (rechts) mit ihrer Freundin Elena Paulina auf dem Weg zum Goethegymnasium © A. Grap

Am 13. März 2020 ging Deutschland in den Lockdown, und Pia Paola Roewer feierte ihren 18. Geburtstag. Gedanken zum Glück in Zeiten von Corona

11.11.2021

Abitaufe - Pia Roewer amüsierte sich als Zweite von rechts. © A. Grap

Am 9. Juli dieses Jahres erhielt ich am altehrwürdigen Johann Wolfgang von Goethe Gymnasium in Weimar meine Abitur-Taufe. Frei nach dem Motto "Tradition ist nicht das Anbeten der Asche, sondern das Weitergeben des Feuers" war dies die 29. Abiturtaufe seit der Neugründung des Gymnasiums nach der Wende. Üblicherweise werden die lorbeerbekränzten Köpfe der Abiturienten von den jüngeren Jahrgängen mit kaltem, frischem Brunnenwasser übergossen, es werden persönliche Taufsprüche gesprochen und schließlich stürmen die Absolventen mit "kulturvollem Respekt" in den Goethebrunnen am Frauenplan, das Goethewohnhaus in Sichtweite.Aber wie so oft in den letzten anderthalb Jahren, war auch an diesem Tag das Glück nicht auf unserer Seite.

Monatelang hatten wir im Homeschooling mit dem Stoff, mit frustrierten Lehrern, einer mangelhaft funktionierenden Schul-Cloud und mit nicht nachvollziehbaren politischen Entscheidungen gekämpft. Wir erlebten eine wahre Kaskade an Lockdowns: den Brücken-Lockdown, den End-Lockdown, den Wellenbrecher-Lockdown, den Dauer-Lockdown, den Teil-Lockdown, den Solo-Lockdown. Wie haben wir es nur geschafft, Kurs zu halten? Nun erlebten wir am Tag unserer Abi-Taufe gewissermaßen die Krone der Improvisation. Nach 28 Jahren strahlenden Sonnenscheins weinte der Himmel in diesem Jahr den ganzen Tag und bereits vor der Taufe waren wir durchnässt. Als ich meinen Taufspruch hörte, suchte ich unter den Regenschirmen der Zuschauer den Blick meines Deutschlehrers. Er war es, der uns monatelang motiviert hatte, unser Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, und der mich zum Beginn der Coronazeit zum Nachdenken über das Glück und die folgenden Zeilen inspiriert hatte.

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Die Abiturienten beim Programm zur Abitaufe © A. Grap

Verabschiedet sich das Glück

Anfang des Jahres 2020 beobachtete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine neue Viruserkrankung in China. Bereits am 9. Januar 2020 gingen die Meldungen von ersten Todesfällen um die Welt. Als Ursache wurde eine neue Lungenkrankheit, ausgelöst durch einen unbekannten Coronavirus-Typ, identifiziert. Am 23. Januar war noch keine Rede von einer internationalen Notlage. Bereits am 5. Februar 2020 gab es 500 Tote in China. Jetzt bezeichnete die WHO das Virus als "Feind der Menschheit". In Deutschland waren zu diesem Zeitpunkt 77 Menschen infiziert. In unfassbar rasender Geschwindigkeit schien sich das Glück von der Menschheit zu verabschieden. Dramatische Bilder von sterbenden und toten Menschen erreichten uns aus China und auch aus Italien. Italien – das war sehr nah an unserem Leben. Mittelalterliche Bilder von Pest und Cholera schoben sich in unser Bewusstsein. Bilder aus einer Zeit, in der das Unglück durch die Welt tanzte. Noch am 27. Februar 2020 sah die Bundesregierung "keinen Grund zur Panik" und wollte das "öffentliche Leben nicht einfach lahmlegen".Das änderte sich am Freitag, dem 13. März 2020.  

An diesem Tag feierte ich meinen 18. Geburtstag. In den Wochen vor diesem Tag fühlte ich mich unglücklich. Gefangen in Glücksplanungen, die nicht meine waren. So war der Tag aufgeladen mit außergewöhnlichen Glückserwartungen. Aber wie es so ist, Träumereien sind oftmals die Gegner des Glücks, weil sie das Glück wegschieben in eine unerreichbare Zukunft. Unsere Träume wandern vor unseren Sehnsüchten her. Mit unseren Träumen verbindet sich die Weigerung, sich auf das Hier und Jetzt einzulassen.

Es ist wohl eine zeitlose Sehnsucht, glücklich zu sein. Niemand weiß so recht zu beschreiben, was das ist: Glück.

Glück? Glück!

Im Altertum hieß es, die Götter geben das Glück, verteilen es hier und dort. Und so ist es unberechenbar und flüchtig, kaum gewonnen, so zerronnen. Aber wer länger vom Glück begünstigt wird, zieht nach antikem Glauben den Neid der Götter auf sich: je größer das Glück, desto tiefer das Unglück. Waren wir also alle zu glücklich, dass uns jetzt eine weltweite Pandemie daran erinnert, dass das allzu sorglose Leben seinen Preis hat?

Glück folgt dem Tüchtigen, so sagt es der Volksmund, es belohnt den Weisen und Tapferen. So die Regeln. Aber mit Regeln lassen sich die Sehnsüchte der Menschen nach Glück nicht anketten. Die Menschen werden der Suche nach Glück nicht müde. Sie wollen vergessen, was sie plagt, wollen den Alltag hinter sich lassen, frei sein wie ein Vogel, wendig wie ein Fisch, von allen Zweifeln frei, die sie an die eigene Unzulänglichkeit erinnern. Gibt es ein Klima, in dem das Glück gedeiht? Wenn das Glück Abwesenheit von Ängsten, die Befreiung von Not, das Stillen von Hunger und Durst, ein Dach über dem Kopf, eine erfüllende Arbeit bedeutet, dann könnten wir hoffen, ihn einzufangen, den schillernden Vogel Glück. Aber wir sind gefährdet, denn wir sind besessen vom Glauben an die Möglichkeit der Überwindung eines jeden Unglücks. Dass dies eine trügerische Hoffnung ist, haben wir am 13. März 2020 gelernt.  Bis zu diesem Zeitpunkt konnten wir uns objektiv betrachtet glücklich schätzen im Schutze eines gesellschaftlichen Rettungsschirms zu leben, der unzählige Abstürze verhindert, die in die Unglücksbilanz früherer Jahrhunderte gehören.

Ob unsere persönliche Glücksbilanz dadurch größer wurde? Schwer zu beantworten. Vielleicht ist das Glücklichsein uns auch schwerer gemacht worden. In einer Zeit, in der die digitale Welt unsere Sehnsüchte verwaltet und uns täglich neue Glücksangebote macht. Wer soll sich noch auskennen in einer Welt, in der wir mit Reizen versorgt werden, die schnell mit dem Glück zu verwechseln sind? Man füttert uns mit Abziehbildern des Lebens, die wir gierig aufnehmen, als seien sie unsere eigenen Erfahrungen. So werden unsere Gedanken und Empfindungen unmerklich gleichgeschaltet und gehindert an Glücksausflügen auf eigene Faust. Unsere Sinne drohen, angesichts des Lebens aus zweiter Hand zu verkümmern. Ist das Glück für uns, die Generation des digitalen Lebens, verloren?

An diesem Tag

Zugemauert, vergiftet, verbaut, verplant? Das scheue Glück ist wohl zäh. Es verbirgt sich in jeder selbstgewählten Aktivität, in jedem eigenen Entschluss, in jeder selbstbetriebenen Beschäftigung. Es blüht auf für jeden, der seine Sinne schont und wieder wahrnehmungsfähig wird. Nicht in der Sensation wohnt das Glück, sondern im Unscheinbaren. Unser Lauschen, Tasten und Schauen sollte uns doch zu den Bestandteilen des Glücks führen. Da das Glück wohl auch eine Sache der Bereitschaft, ja wahrscheinlich auch eine Sache des Willens ist, war ich am 13. März fest entschlossen, glücklich zu sein. Trotz allem, trotz einer drohenden Katastrophe. Am 13. März 2020 erfuhren wir, dass unser aller Leben auf null gefahren wird. Auf unbestimmte Zeit. Keine Arbeit, keine Schule, keine Freunde treffen. Unvorstellbar.

Ich erhielt Anrufe mit Glückwünschen: "Was ist das denn für ein super Geschenk, sechs Wochen keine Schule?" Am Abend trafen wir uns. Meine anfängliche Zurückhaltung gegen eine große Feier mit Eltern, Familie, Freunden, Alt und Jung, Spiel, Musik und Gesang, war verflogen, als die ersten Gäste kamen. Sie waren gekommen, um mich zu feiern. Aber an jenem Abend war auch zu spüren, dass wir das Leben feiern wollten, die Liebe zueinander und die Schönheit des Augenblicks. Die Schönheit sammelt sich in allen möglichen Dingen und sie ist ein verlässlicher Nistplatz für den Glücksvogel. So erlebten wir die Schönheit des Augenblicks im endlosen Klavierspiel eines Freundes. Der Professor spielte und der Augenblick ergriff uns, noch ehe wir wussten, warum. Wir erlebten das Schöne, denn es beruhigte unsere Sinne, es erhob uns und führte uns auf die Spuren zum Glück. Im Angesicht einer scheinbar unfassbaren Bedrohung wurden wir an diesem Abend aufmerksam für den Hauch des Windes auf dem Balkon, für den leichten Wimpernschlag unseres Gegenüber. Das Glück hatte sich niedergelassen zwischen uns und die fremden Glücksprogramme schwiegen. Ein Freund trat auf und entführte uns in die Welt der Zauberei. Er hat lange Jahre als Anwalt gearbeitet und den Beruf aufgegeben, um seinen Jugendtraum zu verwirklichen. Ein Leben als Zauberer. Er hat sein Glück gefunden und uns mitgenommen auf eine magische Reise. Später spielten wir Kinderspiele. Wir führten in Gruppen pantomimische Aufführungen vor und haben uns vor Lachen gewunden. Am eifrigsten waren die Erwachsenen. Ich sah meine Großeltern im angeregten Gespräch mit meinen Freunden. Meine Großmutter hörte ich nach langer Krankheit laut lachen. Eine Freundin der Familie traute sich nach dem Tod ihres Mannes zum ersten Mal wieder unter Leute. Sie überraschte mich mit dem Satz: "Wir müssen trauern, aber die Welt gehört den Lebenden." Ihr Geschenk, eine Aquarellmalerei in leuchtenden Farben, hängt jetzt über meinem Bett und erinnert mich an die Welt der Lebenden.

Das Glück war an jenem Abend inkognito unterwegs, vogelfrei wie wohl eh und je, keiner Idee verpflichtet, keiner Theorie untertan, blühte es in den Blumen auf den Tischen, wehte am Saum der Gardinen vor dem geöffneten Fenster, tanzte bis in die Morgenstunden auf den Lachsalven meiner Gäste, setzte sich im Zimmer nieder wie ein verflogener Schmetterling, zwinkerte mir zu, erwartungsvoll, nicht fordernd. Wir gingen im Zwielicht auseinander, in der magischen blauen Stunde, und als wir uns voneinander verabschiedeten, ahnten wir es schon, dass dies für lange Zeit das letzte Zusammensein mit Freunden und Verwandten sein würde. Wir fühlten uns einander verbunden, hatten wir doch die Abwesenheit des drohenden Unglücks gefeiert. Der 13. März 2020 war der Tag, an dem ich erkannte, dass ich glücklich bin.

Ein Jahr später

Als ich in diesem Jahr meinen 19. Geburtstag feierte, hatten wir das Unglück längst in seine Schranken verwiesen. Das heißt, wir hatten gelernt, mit Corona zu leben und uns zu schützen. Aber von der Rückkehr zur Normalität waren und sind wir weit entfernt.

Auf dem Sprung zu einem neuen Lebensabschnitt bin ich dabei, an die Tür zur Universität zu klopfen und befürchte, dahinter auf eine dogmatisierte Wissenschaft und Forschung zu treffen. Ein Klima, indem andere Meinungen böse und unsolidarisch sind. Dabei wissen wir doch, dass wahre Wissenschaft den offenen, neugierigen und respektvollen Austausch und Wettbewerb braucht.

Mehr denn je bin ich fest entschlossen, mein Glück zu suchen und zu finden.

Pia Paola Roewer, 19 Jahre, hat im letzten Sommer ihr Abitur abgelegt und möchte nach einem längeren Aufenthalt im Ausland ab dem nächsten Jahr Jura studieren.