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Von der Kunst des Reisens

Von Odysseus über Sindbad bis zu Karl May gehören Reiseerzählungen zum Hauptstrang der Literaturgeschichte. Über die Faszination, fremde Länder mit den eigenen Sinnen zu entdecken

Hans Christoph Buch01.07.2017

"Wer den Dichter will ver­stehen, muss in Dichters Lande gehen“ heißt es in Goe­thes "West-östlichem Diwan". Wer aber Russen aus der Nähe sehen möchte, sollte in die Türkei reisen, in ein All-inclusive-Hotel an der Mittelmeerküste. Wie das? Waren und sind Tür­ken und Russen nicht Erbfeinde, von Katharina II. bis zum kürzlich erfolgten Abschuss eines russischen Kampfjets durch türkische Luftabwehr? Ja, aber der Wegfall westlicher Touristen, die der Türkei neuer­dings fernbleiben, hat zu dem Paradox geführt, dass Russen und Ukrainer sich die Türklinken in die Hand geben in den Bettenhochburgen südlich von Antalya, die ohne sie leer stünden. Noch zwei Erbfeinde, doch Russen und Ukrainer haben ihre Konflikte zu Hause gelassen und verbrüdern sich an der Pool-Bar, wo schon morgens der Whisky in Strömen fließt – türkischer Whisky, wohlgemerkt. 

Auch Gin und Wodka kosten nichts, aber im Zustand der Trunkenheit gebärden die feindlichen Brüder sich weniger laut und aggressiv als Engländer oder Deutsche. Letztere sind bei Türken wie Russen beliebt, beim Stichwort Berlin rollt der Hotel­portier den roten Teppich aus, und ein Vete­ran des sowjetischen Afghanistankriegs schwört steif und fest, mir in Kabul begegnet zu sein, wo ich noch nie war. 

Aber ich war beim Weltjugendfestival in Havanna und erinnere mich an einen Sowjetgeneral, der seiner übergewichtigen Frau ein Silbertablett mit Langusten kredenzte, statt eine davon vom Büffet zu nehmen. Hinterher badete er im Meer, und ich ertappte mich bei dem Gedanken, wenn jetzt ein Hai käme, wäre die Rote Armee führungslos. Am Strand von Alanya gibt es keine Haie; die Besucher aus Ar­changelsk schwimmen furchtlos im kalten Mittelmeer und vertilgen Unmengen von Südfrüchten, die am Polarkreis Mangelware sind.

Der Massentourismus befriedigt das Bedürfnis nach Sonne und Wohlleben, das einst Bundesbürger an die Adria und DDR-­Bürger an die Küsten des Schwarzen Mee­res trieb. Es ist billig, darüber die Nase zu rümpfen, denn erst kommt das Fressen, dann die Moral, und der Nachholbedarf ist gewaltig in der Ex-Sowjetunion. Theodor W. Adorno spricht von im Konkurrenzkampf zu kurz gekommenen „proletarischen“ Nationen, die an die Tische der Reichen drängen. Dagegen ist nichts ein­zuwenden. Problematisch wird es, wenn Reisefreiheit die Meinungsfreiheit und Konsumdenken die Demokratie ersetzt – ganz zu schweigen vom Umweltschutz. Aber ich will keinen Leitartikel schreiben.

Keimzelle des Fernwehs

Ich fange am Ende an. Der Kurzurlaub in der Türkei war meine bisher letzte Reise, und ich hatte das Pauschalangebot gebucht, um meinen Enkeln einen Gefallen zu tun, die sich am Strand und Swimmingpool, mit Basketball und üppigen Büffets vom Schulstress erholten. Die Jungs kamen auf ihre Kosten, doch sie kritisierten zu Recht, dass es Animationsprogramme für Kinder und Senioren, aber nicht für Teenager gab. 

Dafür entschädigte der nahgelegene Basar, wo sie um gefälschte Markenartikel feilschten. Nach der Rückkehr fragten mich Berliner Freunde, wie die örtliche Bevölkerung zu Erdogans Referendum stehe, doch außer dem Hissen der National­flagge hatte ich nichts mitgekriegt. Mit dröhnender Musik störte das Luxushotel mich beim Lesen und schirmte mich von der Außenwelt ab. Das ist doppelt absurd, wenn man bedenkt, dass ich für deutsche Medien aus Kriegsgebieten der Dritten Welt berichtet hatte, deren Mantra ich herunterbeten könnte: Ruanda, Kambod­scha, Tschetschenien und andere mehr. Aber ich lasse es bei der Drohung bewenden. 

Stattdessen möchte ich von meiner ersten großen Reise berichten, die mich, anders als Tramptouren durch Europa, mit einer Welt konfrontierte, deren Fremdheit sich vorschnellem Verständnis entzog. Hier liegt die Keimzelle des Fernwehs, das mich stets aufs Neue überkommt und an entlegene Punkte des Globus treibt.

In den Straßen von Port-au-Prince

Ostern 1968 besuchte ich zum ersten Mal Haiti. Ich war 24 Jahre alt und studierte am Writer’s Workshop der University of Iowa. Mein Vater stammte aus Haiti; eine Mahagonitafel mit dem Staatswappen – eine mit Jakobinermütze gekrönte Palme, Kanonenkugeln und Bajonette – hing über der Anrichte im Wohnzimmer, doch ich hatte die schwarze Republik nicht mit eigenen Augen gesehen und kannte die Dritte Welt nur aus Büchern. Schon der erste Augenschein in Port-au-Prince ­strafte das angelesene Wissen Lügen. „Vive l’an X de la Révolution Duvaliériste!“ (Es lebe das Jahr X der duvalieristischen Revolution) stand auf die Straße überspannenden Transparenten, die sich im warmen Wind bauschten, zwischen Telefondrähten, auf denen Gras wuchs, weil es 1968 in Port-au-­Prince keine Straßenlaternen und kein Telefonnetz mehr gab. Die Stadt lag in tie­fer Dunkelheit. Nur wenige Autos waren unterwegs, Militärlastwagen und Taxis, deren Fahrer Polizeispitzel waren. Ich kannte die russische und die chinesische Revolution, aber von der duvalieristischen Revolution hatte ich noch nie gehört.

Der Slogan bezog sich auf Dr. François Duvalier, einen Landarzt, der 1957 die Wah­len gewonnen hatte und Haiti mit eiserner Faust regierte: Er hatte Feinde und Rivalen ausgetrickst, Putschversuche und bewaffnete Revolten im Blut erstickt,  den US-Botschafter ausgewiesen und aus Kuba ent­sandte Guerilleros exekutiert, und man munkelte, Duvalier habe John F. Kennedy ermorden lassen, als der ihm die Entwicklungshilfe strich. In Haiti schien nichts unmöglich, denn Papa Doc, im schwarzen Anzug, mit Hut und dunkler Brille, sah nicht nur aus wie Baron Samstag: Er war der personifizierte Totengott, Voodoo-Hexer und Chef der Tontons Macoutes, die nachts Regimegegner liquidierten, auch wenn die mit den Gesuchten nur Vor- oder Nachnamen gemeinsam hatten. Duvalier hielt lange, wirre Reden, die das Volk nicht verstand, weil er nicht kreolisch, sondern, näselnd wie ein Zombie, französisch sprach. 

Er bezeichnete sich als immaterielles Wesen, ließ sich von auf Lastwagen heran­gekarrten Bauern bejubeln und ernannte sich zum Staatschef auf Lebenszeit. Statt des Vater Unser führte er einen Treueid auf Papa Doc als Schulgebet ein, ließ protestierende Studenten im Beisein von Schülern erschießen, nannte Christus, Mohammed, Dschingis Khan, Atatürk, Mao und De Gaulle als Vorbilder und berief, ehe er eines natürlichen Todes starb, seinen Sohn Jean-­Claude zum Präsidenten auf Lebenszeit. Weil Baby Doc noch minderjährig war, muss­te dazu die Verfassung geändert werden.

Nach den Schüssen auf Rudi Dutschke, während Demonstranten das Springerhaus belagerten, um die Auslieferung der Bild-­Zeitung zu verhindern, trottete ich, vom Jet­lag betäubt, durch die Straßen von Port-­au-Prince, verfolgt von halbnackten Kindern, die mich mit Bananenschalen bewar­fen, weil sie noch nie einen Weißen gesehen hatten. Mein Hemd war nass ge­schwitzt, und keuchend bahnte ich mir einen Weg zwischen Ochsenkarren, von muskulösen Männern gezogen, und auf der Fahrbahn sich öffnenden Löchern, die Mopeds mitsamt Passagieren verschluckten. Die Kanalisation stammte aus dem 18. Jahrhundert und war von Tierkadavern, manchmal auch von Leichen verstopft. Es war eine neue Erfahrung, wegen meiner Hautfarbe und meiner Schuhe auf Schritt und Tritt angebettelt zu werden: Der Ruf „Ba’m youn dola, blan“ (Gib mir einen Dol­lar, Weißer) – gellt mir noch jetzt in den Ohren.

Dieses Land ist eine Schweinerei, ­hatte US-Präsident Johnson gesagt. Das Elend stank zum Himmel in Amerikas Hinterhof, nur zwei Flugstunden von Miami entfernt, und schuld daran war Washington, genau­er: der US-Imperialismus. Was Haiti aus meiner Sicht brauchte, war eine Revolu­tion wie der Sklavenaufstand von 1791, in dem die Schwarzen ihre Freiheit und später die Unabhängigkeit erkämpft hatten, 1804 mit der Staatsgründung besiegelt. Erst 1864, unter Lincoln, erkannte Washington Hai­tis Unabhängigkeit an, ein Schritt, den Paris sich mit einer Million Goldfrancs bezahlen ließ, weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Die Existenz einer „Negerrepublik“, die die Sklaverei abgeschafft hatte, war ein Skandal aus Sicht der Kolonialmächte und ein Unikum noch dazu, weil seit den Tagen des Spartacus kein Sklaven­aufstand erfolgreich gewesen war. 

Je mehr ich über die Geschichte Haitis hörte und las, desto mehr verfestigte sich mein Eindruck, dass Papa Docs Diktatur wie ein Kartenhaus zusammenbrechen würde, wenn das Volk sich erhob. Vielleicht war das der Grund, warum, sobald von Poli­­tik die Rede war, das Gespräch in Flüstern überging. Feind hört mit! Auf Haus­ange­stellte und Nachbarn war kein Verlass, ein kritischer Satz, ja ein Witz ge­nügte, um nach Fort Dimanche eingeliefert zu werden. So hieß das Todeslager des Regimes, und so ging es einem Französischlehrer, der seinen Studenten vom Mai 1968 erzählte und danach spurlos ver­schwand.

Es war ein schmerzhafter Lernprozess, bis ich begriff, dass Papa Docs Schreckensherrschaft und Baby Docs Marionetten­regime nicht auf tönernen Füßen standen, sondern gut vernetzt und fest verwurzelt waren. Nur so ist es zu erklären, dass der korrupte Familienclan 29 Jahre lang ­Haiti unterdrücken und ausplündern konnte, und dass das Erbe der Diktatur bis heute das politische Leben vergiftet. 

Am Ende meines Aufenthalts besuchte ich eine Voodoo-Zeremonie, bei der die Priesterin mir weissagte, dass ich bald   verhext: Haiti ließ mich nicht mehr los, ich fliege regelmäßig dorthin, um für deut­sche Medien zu berichten, und habe Reportagen und Romane über das mühsam gebändigte Chaos des Inselstaats geschrieben, das nicht nur deprimierend, sondern auch elektrisierend, ja erotisierend auf mich wirkt. Die Leser mögen herausfinden, warum!

Der Sinn des Reisens

„Wenn einer eine Reise tut, hat er was zu erzählen“ ist ein geflügeltes Wort, und von Odysseus und Sindbad bis zu Karl May und Hubert Fichte gehören Reiseerzählungen zum Hauptstrang der Literatur. Der Niegereiste sei sterblicher als der Vielgereiste, schrieb Max Dauthendey, selbst ein großer Reisender, und da es Niegereiste heute nicht mehr gibt, muss der Satz abgewandelt wer­den: Touristen sind sterblicher als Ent­deckungsreisende, die Fühler ins Fremde, Unbekannte ausstrecken, während der Tou­rist festhält an vertrauten Parametern wie Wetter, Essen, Hotel. „Wie war das Wet­ter in Ruanda, wie ist das Essen in Tschetschenien?“, fragten mich gute Freunde nach der Rückkehr aus einem Krisengebiet, und sobald die Antwort mehr besagte als „heiß“ oder „schrecklich“, hörten sie weg, weil sie ihre Urlaubserfahrungen als Maßstab anlegten und es nicht so genau wissen wollten. 

Doch Tourismus und authentisches Reisen sind nicht durch eine chinesische Mauer getrennt. Reisen heißt, auf andere Menschen zugehen, und das tut ein Rucksacktourist ebenso wie ein Ethnologe, der Sitten und Bräuche fremder Völker studiert. Beide sind gegen Irrtümer und Missverständnisse nicht gefeit wie Margaret Mead, die Samoa zum Paradies der freien Liebe erklärte, das es nie war, während sogar der Sextourismus zum Hafen der Ehe führen kann. 

„Deshalb müssen wir unsere Zeitgenos­sen, denen Europa zu klein geworden ist, immer wieder auffordern: Reist!“ schreibt der französische Essayist Pascal Bruckner: „Durch ihre Kunstwerke und Phantasiegebilde rufen uns die fernen Völker zu: Kommt!“ Und sein deutscher Kollege Mat­thias Politycki gibt für Sinn und Unsinn des Reisens Regel und Beispiel zugleich: „Das genaue Aussehen der Tempelanlagen in Indochina habe ich vergessen, den Bau­ern im Reisfeld nicht. Warum wir reisen und was wir dabei denken? Wir reisen, um den Zustand der Leere zu erreichen, in dem wir nichts mehr denken.“

Hans Christoph Buch

Hans Christoph Buch lebt, wenn er nicht auf Reisen ist, in Berlin. Bei Suhrkamp publizierte er eine Romantrilogie über Haiti und Reiseberichte aus West- und Ostafrika sowie Sansibar.
© Hans Christoph Buch

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