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Titelthema

Eine unausrottbare Utopie

Titelthema - Eine unausrottbare Utopie
Eine einsame Insel als Symbol für Weite, Ruhe und inneren Frieden © Science Photo Library / FRANS LANTING, MINT IMAGES

Damals wie heute versetzen einsame Inseln Künstler, Literaten und nicht zuletzt moderne gestresste Stadtmenschen in Verzückung.

Hans Christoph Buch01.08.2019

Wieviel müssen wir Ihnen zahlen, damit Sie endlich aufhören über Haiti zu schreiben“, sagte mein Verleger Siegfried Unseld einmal zu mir. „Oder handelt es sich um Tahiti oder Hawaii?“ Der legendäre Chef des Suhrkamp Verlags hatte damit ein Koordinatensystem benannt, das unsere Inselträume bis heute prägt: Tahiti als Paradies der freien Liebe, wo Frauen und Mädchen sich umstandslos Captain Cooks Matrosen hingaben, oder die Postkartenidylle von Hawaii mit Traumstränden, wo GIs in bunten Hawaii-Hemden sich vom Stress des Zweiten Weltkriegs erholten – heutzutage ein Surfer-Paradies. Und die Kehrseite der Medaille, Haiti, das der Romancier Herbert Gold als besten Alptraum der Welt bezeichnet – nicht wegen der Schönheit der Menschen und der Natur, sondern im Hinblick auf das mühsam gebändigte Chaos des von Ex-Sklaven gegründeten Inselstaats. Das Gemeinsame aller drei Destinationen ist, dass Exotik sich auf Erotik reimt. Das gilt auch für Sansibar, eine Drehscheibe des ostafrikanischen Sklavenhandels, die Bismarck gegen Helgoland eintauschte. Und es gilt für die zu Chile gehörende Robinson-Insel Juan Fernández, wo der schottische Matrose Alexander Selkirk unfreiwillig vier Jahre zubrachte und Daniel Defoe zu seinem Robinson-Roman inspirierte, einem in alle Sprachen übersetzten, mehrfach verfilmten Dauerbestseller. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich war kürzlich dort.
Anders als in Witzzeichnungen einsamer Inseln gibt es auf Robinson-Island, wie es in Touristenprospekten heißt, weder Palmen noch Strände, dafür aber Robben und Seelöwen. Baden ist schwer möglich im wild bewegten, eiskalten Meer, und auch die Erotik kommt zu kurz, außer wenn man Robinsons Beziehung zu Freitag, wie die zwischen Winnetou und Old Shatterhand, zur Homo-Ehe stilisiert.

Das Leben kommt aus dem Wasser
Inselträume sind mythische Archetypen der Phantasie, die nicht wegzudenken sind aus Kunst und Literatur: Vom „Bericht eines Schiffbrüchigen“ aus dem alten Ägypten über Odysseus und Sindbad bis zu Jules Vernes geheimnisvoller Insel, Gauguins Südsee-Idyllen und der „Toteninsel“ von Alfred Böcklin, um nur diese Stichworte zu nennen; allein die Liste der durch „Robinson Crusoe“ inspirierten Robinsonaden würde hunderte Seiten füllen. „Auf den Bergen ist die Freiheit“, heißt es bei Schiller, und in Abwandlung dazu könnte man sagen: Seeluft macht frei – damit meine ich nicht nur eine jodhaltige Meeresbrise, sondern übers Wasser streichenden, frischen Wind, der die Erderwärmung konterkariert.
Alles fließt, lehrten die Weisen des alten Griechenlands, aber auch: Niemand badet zweimal im selben Fluss. Das Leben kommt aus dem Wasser: Irgendwann krochen unsere Vorfahren als Amphibien an Land, und vielleicht ist das der Grund, warum Inseln seit jeher als Jungbrunnen gelten. Kolumbus suchte nicht nur den Seeweg nach Indien, sondern auch den Quell ewiger Jugend, den er in Florida vermutete. Und es ist kein Zufall, dass die Traumziele des Tourismus in der Karibik oder der Südsee liegen, wo ewiger Frühling herrscht und wo die Meuterer der „Bounty“ erotische Erfüllung suchten und fanden: ein Glücksversprechen, das auch dem modernen Sex-Tourismus zugrunde liegt. „Entzückt werd ich sein, braunes Mädchen“, dichtete Samuel Gessner, und Peter Cornelius‘ Refrain „Reif für die Insel“ war ein postmodernes Echo auf Schlager der fünfziger Jahre mit Klischeevorstellungen freier Liebe, von gestressten Stadtmenschen auf ferne Inseln projiziert – eine Utopie, die so zählebig wie unausrottbar ist.

Hans Christoph Buch

Hans Christoph Buch lebt, wenn er nicht auf Reisen ist, in Berlin. Bei Suhrkamp publizierte er eine Romantrilogie über Haiti und Reiseberichte aus West- und Ostafrika sowie Sansibar.
© Hans Christoph Buch

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