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Die Wirkung der Franckeschen Stiftungen über Halle hinaus

Von Preußen in die weite Welt

Vor 350 Jahren wurde der Theologe und Pädagoge August Hermann Francke in Lübeck geboren. 1698 gründete er in Halle ein Waisenhaus und legte damit – nach dem Motto „Weltveränderung durch Menschenveränderung“ – den Grundstein zu einem einzigartigen Sozial- und Bildungswerk.

Hartmut Lehmann13.02.2013

Wenn die im ausgehenden 17. Jahrhundert im Vorort Glaucha der preußischen Provinzstadt Halle gegründeten Franckeschen Stiftungen binnen weniger Jahrzehnte beeindruckende und bald weit über Halle hinaus bekannte Erfolge erzielten, so dass ihnen von Zeitgenossen wie von der Nachwelt „Weltwirkung“ attestiert wurde, dann lag das nicht nur an dem Genie des Gründervaters August Hermann Francke, sondern auch an einer einzigartigen Kombination verschiedener Leitideen.

Schützen und versorgen, erziehen und fördern

Von Anfang an beließ es der Gründer nämlich nicht dabei, arme, verlassene Waisenkinder zu sammeln und zu versorgen, so wie das bis dahin in den europäischen Waisenhäusern, etwa dem berühmten, 1586 gegründeten Waisenhaus von Amsterdam der Fall war. Ebensowenig hielt er nichts davon, die Waisenkinder mit einfachen Arbeiten zu beschäftigen, so wie das andernorts in aller Regel geschah, wo die Jungen und Mädchen Strümpfe für Soldaten zu stricken hatten und nichts sonst. Franckes Waisenkinder mussten und durften vielmehr etwas lernen. Deshalb gründete er Schulen, und zwar Schulen für Kinder mit unterschiedlichen Begabungen und in der Folge auch für die Angehörigen verschiedener sozialer Schichten. Denn bald hatte es sich weit über Halle hinaus herumgesprochen, dass man bei „Vater Francke“ eine vorzügliche Erziehung erhalten konnte. Auch adlige Familien schickten deshalb ihre Kinder nach Halle.

Um qualifizierte Lehrer für das rasch wachsende Ensemble seiner Schulen zu bekommen, gründete Francke außerdem, was man heute als Lehrerseminare bezeichnen würde. Und der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Absolvent der Franckeschen Schulen zu sein, wurde zum Qualitätsmerkmal. Das wussten auch die preußischen Herrscher. Wenn König Friedrich Wilhelm I. Franckes Einrichtungen durch allerlei Privilegien förderte und nach und nach alle Feldpredigerstellen in seinem Heer mit Franckeschülern besetzte, hatte das freilich auch einen politischen Hintergrund. Er konnte sich voll und ganz auf die politische Loyalität seiner Untertanen in Halle verlassen.

Wichtiger war jedoch der Welterfolg des Halleschen Modells. Überall dort, wo seit dem ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts Hallesche Absolventen arbeiteten – von Südindien bis Pennsylvania – gründeten sie Schulen. Dass zum Schützen und Versorgen auch das Erziehen und Fördern gehörte, war eine von ihnen stets streng befolgte Maxime.

Francke war ein fortschrittlicher Pädagoge. Anschauung war ihm wichtig. Deshalb hielt er die Missionare und Lehrer, die von Halle in die weite Welt hinausgingen an, ihm Beispiele aus dem, was für ihn Gottes „Buch der Natur“ war, zu schicken, Kuriosa häufig, aber doch mehr als das. So entstand in Halle über die Jahrzehnte hinweg ein Natur- und Völkerkundemuseum mit Beispielen aus der ganzen Welt, das auch heute noch sehenswert ist.

Sammeln und bewahren, würdigen und verbreiten

Außerdem sammelten Francke und seine Mitarbeiter Bücher: viele Bücher, gewiss, zunächst und vor allem die Bücher von Autoren, die ihnen theologisch nahestanden, also der Pietisten, eigentlich aber alles, was sie bekommen konnten. Auch diese Bibliothek ist heute noch zu bestaunen.


Den größten Wert legte Francke aber auf das „Buch der Bücher“, die Bibel. Da er aus vielen Begegnungen schmerzlich wusste, wie wenige Personen selbst in traditionell protestantischen Gegenden tatsächlich eine Bibel besaßen, begründete er zusammen mit Baron Carl Hildebrand von Canstein eine Bibelanstalt, in der preiswerte Bibeln produziert wurden, so preiswert, dass auch einfache Leute sie sich leisten konnten. Erneut haben wir das gleiche Bild vor uns: Wo immer Missionare und Lehrer aus Halle arbeiteten, sei es am dänischen Hof in Kopenhagen oder in der neuen Kolonie Georgia im Süden Nordamerikas, verteilten sie Bibeln, meist auf Deutsch, aber, wenn nötig, auch in anderen Sprachen. Erbauliche Werke kamen dazu, nicht zuletzt Schriften von Francke selbst.


Um die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Weltgegenden zu fördern, wurden schließlich auch Zeitschriften ins Leben gerufen, die von den Erfolgen der gemeinsamen Arbeit im Reich Gottes berichteten, von den „Fußstapfen Gottes“, wie Francke seine Bemühungen schon nach wenigen Jahren nannte. Auch auf diesem Gebiet ist Franckes Umsicht zu bewundern. Er sammelte nicht, weil er neugierig war, sondern weil er die Dinge, die in seinen Augen von Gottes Schöpfung zeugten, bewahren wollte; und er druckte Bibeln nicht, weil er damit Geld verdienen, sondern weil er seine Mitmenschen aus ihrem geistlichen Elend erlösen wollte.

Francke kümmerte sich auch sehr um die Gesundheit der ihm anvertrauten Schüler. Deshalb sorgte er dafür, dass auf dem Gelände der Stiftungen eine Apotheke gegründet wurde. Den Stab seiner Helfer ergänzte er um Pharmazeuten und Ärzte. Da die Versorgung mit Arzneimitteln schwierig war, ging er noch einen Schritt weiter und ließ selbst jene Arzneimittel herstellen, die besonders dringend benötigt wurden.

Helfen und heilen, erkunden und bekehren

Das am meisten nachgefragte Medikament war die „Essentia Dulcis“, eine Goldtinktur, die gegen Beschwerden aller möglichen Art angewendet wurde. „Essentia Dulcis“ gehörte in die Apotheke der Halleschen Absolventen, wenn sie in andere Länder reisten, und „Essentia Dulcis“ wurde regelmäßig und in erstaunlichen Mengen von den aus Halle kommenden Missionaren und Lehrern nachgefragt, die beispielsweise in Nordamerika tätig waren. Fässerweise wurde dieses Medikament im frühen 18. Jahrhundert über den Atlantik transportiert, zusammen mit Kisten von Bibeln: „Essentia Dulcis“ für das leibliche Wohl, die Bibeln für das seelische Wohlergehen. Denn für Halle-Absolventen war es klar, dass sie das Christentum verbreiten sollten, wann immer sich ihnen dazu eine Gelegenheit bot, und wo immer Gott sie hinschickte.

Dabei ergaben sich unerwartete Möglichkeiten. Als der dänische König im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts Missionare suchte, um die Eingeborenen in seiner Kolonie Tranquebar in Südindien zu bekehren, wandte er sich mit britischer Hilfe an Halle. Francke erkannte sofort die Chance, die sich ihm bot. Die Hallesche Südindienmission wurde binnen kurzer Zeit zu einem festen Pfeiler seiner gesamten Arbeit. Als einige Jahrzehnte später deutsche Einwanderer in Pennsylvania Halle baten, ihnen Geistliche zu schicken, die ihre Gemeinden versorgen sollten, griff Franckes Sohn, Gotthilf August Francke, sofort zu. Er schickte mit Heinrich Melchior Mühlenberg einen tatkräftigen jungen Mann nach Nordamerika, der binnen weniger Jahre das gesamte lutherische Kirchenwesen in Pennsylvania neu organisierte. Mühlenberg wird heute als Vater der lutherischen Kirche in Nordamerika verehrt. Auch bei diesen Beispielen beeindruckt die Art und Weise, wie in Halle und von Halle aus verschiedene Tätigkeiten miteinander verbunden wurden. Hallesche Absolventen halfen, wo immer sie hinkamen, indem sie sich auch um die körperliche Gesundheit kümmerten. Hallesche Absolventen erkundeten die Welt und vergaßen dabei nie, dass es ihnen zuerst und vor allem oblag, Gottes Wort zu verbreiten.

Adlige und Bürger unterstützten Francke, im In- und im Ausland. Zur Wirkungsgeschichte der Franckeschen Stiftungen gehören Schulen und Bibelanstalten, Missionswerke und Krankenhäuser in vielen Ländern der Welt. „Weltverwandlung durch Menschenverwandlung“ hieß Franckes Motto, man könnte auch sagen Erziehung durch Fürsorge für Seele und Körper ohne Unterschied für alle Menschen, nah und fern. Nirgendwo wurde im damaligen Europa ein vergleichbares Ensemble von Schulen und Einrichtungen geschaffen, die alle zusammen diesem einen übergeordneten Zweck dienten. So waren und blieben die Franckeschen Stiftungen über die Zeiten hinweg eine international bekannte und einmalige Institution. Erst die Regierung der DDR behandelte sie schäbig und ließ die Stadt Halle unmittelbar neben dem Schulgelände eine Hochstraße bauen, die das Leben in den Stiftungen stark beeinträchtigte. Es ist dem ehemaligen Direktor der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel Paul Raabe zu verdanken, dass sich die Franckeschen Stiftungen nach der Wende wieder mit neuem Leben füllten. Er ließ die Gebäude restaurieren, die Schulen erneuern, und erneuert wurden auch die internationalen Kontakte. So findet seit 2001 in Halle alle vier Jahre ein Internationaler Kongress zur Erforschung des Pietismus statt, an dem Wissenschaftler aus der ganzen Welt teilnehmen. Eine schönere Bestätigung für die von Halle ausgehende Weltwirkung kann man sich kaum denken.

Rechtzeitig zu Franckes 350. Geburtstag im Jahre 2013 haben die Pläne, die Franckeschen Stiftungen in das Weltkulturerbe aufzunehmen, konkrete Gestalt angenommen. Es ist sehr zu wünschen, dass dieses Projekt den Beifall der UNESCO finden wird. Denn die Halleschen Einrichtungen sind einzigartig ­– und zwar weltweit.

Hartmut Lehmann
Prof. Dr. Hartmut Lehmann war Direktor am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen und Honorarprofessor an den Universitäten Kiel und Göttingen. 2012 erschien „Luthergedächtnis 1817–2017“ (Vandenhoeck & Ruprecht). Als Herausgeber veröffentlichte er zuletzt „The Second Generation. Émigrés from Nazi Germany as Historians. With a Biobibliographic Guide.“ ( New York, 2016).