Titelthema
Wie tickt der Osten?
Zur Bewusstseinslage im östlichen Deutschland
Dass in dem östlichen Deutschland von langer Hand ein besonderes Gefühl für ökonomische Staatsverantwortung lebendig ist, lässt sich schwer bestreiten. Schon Luther kritisierte mit staunenswerter Sachkenntnis die Missstände des jungen Finanzkapitalismus (sie glichen den heutigen), und Fichte imagnierte wider sie einen präzis ausgemalten „geschlossenen Handelsstaat“. Aber hat die betreffende Gegend, die man auch Mitteldeutschland nennen kann, eine Neigung zu autoritären Staatsvorstellungen? Wer das letztere konstatiert, muss sich fragen lassen, ob siebenundzwanzig Jahre unter den pluralistischen Auspizien des bundesdeutschen Regiments wirkungslos an der betroffenen Bevölkerung vorübergegangen seien. Es wäre abwegig, dergleichen zu mutmaßen; allerdings war es ein Problem eigener Art, dass ein Land, das sich gerade erst aus eigener Kraft der polizeistaatlichen Strukturen der SED-Herrschaft entledigt hatte, alsbald einem neuen Staatsdirigismus verfiel, der in Gestalt einer ebenso allmächtigen wie unkontrollierten Anstalt namens Treuhand auf den Plan trat. Diese zog aus der offenbaren Rückständigkeit der ostdeutschen Staatswirtschaft nicht die Folgerung der Sanierung, sondern einer weitgehenden Liquidierung und gab die gewerbliche Industrie des Landes zum allgemeinen Ausverkauf frei, bei minimalem Einfluss der neugegründeten Länder auf die in Berlin vollzogene Praxis. Es bedurfte hartnäckiger Interventionen einzelner Landeswirtschaftsminister, um der Treuhand in den Arm zu fallen und rettbare Betriebe ihrem Zugriff zu entziehen.
Mehr als einmal ist bemerkt worden, wie absurd es sei, von einer Bevölkerung, der die Demokratie in Gestalt eines ökonomischen Gewaltstreichs entgegentrat, der sie zu Fremden im eigenen Land machte, die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Interventionsstrukturen zu erwarten. Unter dem Vorzeichen einer umfassenden Desindustrialisierung ging es allerorten nicht ums nackte, aber ums berufliche Überleben; aus einer sanften Revolution war eine Gesellschaftsumwandlung von besonderer Brachialität hervorgegangen, deren soziale Abfederung durch die begüterte Übermacht allerdings vieles milderte. Das geschichtlich einzigartige Phänomen, das sich hier zeigte, hätte man, durchaus unpolemisch, Sozialkolonialismus nennen können, doch war der Begriff insofern irrig, als koloniale Herrschaftsträger die einheimischen Eliten gemeinhin nicht ersetzen, sondern sich über sie setzen. Was in der nun ehemaligen DDR geschah, nennen die Soziologen Überschichtung, während der deutsche Westen über lange Zeit eine Unterschichtung erfahren hatte: die Übertragung schlechtbezahlter Dienstleistungen an Migranten aus Südeuropa und dem vorderen Orient. Im Süden des als „neue Länder“ apostrophierten Beitrittsgebiets kam es Jahre später zu einer politischen Protestbewegung, als angesichts einer akuten Flüchtlingskrise die Sorge um sich griff, dass der bereits vollzogenen Überschichtung eine Unterschichtung aus den Krisengebieten des nahen und fernen Ostens folgen solle.
Wie hart die neuen Mächte in die gerade erst begonnene Selbstfindung einer politisch befreiten Bevölkerung eingriffen, zeigte sich an der besonderen Blindheit, mit der die Buchverlage des Landes durch treuhänderische Misswirtschaft preisgegeben wurden; Christoph Links hat den Vorgang wissenschaftlich durchleuchtet. Natürlich: An der neuen Ohnmacht, die der Befreiung von der alten Ohnmacht folgte, war vor allem das politökonomische Vakuum schuld, das die regierende Monopolpartei hinterlassen hatten; es machte die in eine exemplarische Rückständigkeit manövrierte Gegend zum Spielball ungreifbarer Mächte. Mit Recht hat Johann Michael Möller in der Novembernummer des Rotary Magazins darauf verwiesen, dass in den bestürzenden sächsischen Wahlergebnissen des Herbstes 2017 nach langjähriger politischer Apathie (mit Wahlbeteiligungen um 50 Prozent) ein irregeleitetes Emanzipationsbedürfnis zum Ausdruck gekommen sei. Dass hier keine Abkehr von der 1989/90 sehnsüchtig herbeigerufenen parlamentarischen Demokratie vollzogen wurde, sondern das Verlangen nach einer Opposition durchschlug, deren kenntliches Vorhandensein konstitutiv für jede echte Demokratie ist, liegt zutage.
Niemand hat deutlicher als Chantal Mouffe gezeigt, wie eine lebendige Demokratie sich an der Integration auch antagonistischer Positionen zu bewähren habe; es komme, schrieb die belgische Forscherin, auf „die Umwandlung des Antagonismus in Agonismus“ an („Über das Politische“, Frankfurt am Main 2007).
Kulturelle Tiefengründung
Doch sollte man sich, wenn man nach der Bewusstseinslage jener Bevölkerung fragt, die in fünf bis sechs (das östliche Berlin ist ein Gebiet sui generis) ganz verschiedene Länder zerfällt, nicht auf politisch-wirtschaftliche Erfahrungen beschränken. Auf je eigene Weise ist hier, jedenfalls in der älteren Generation, eine nationalkulturelle Tiefengründung wirksam, die sich von den Gegebenheiten der alten Bundesrepublik unterscheidet. Es ist immer prekär, summarisch über Verschiedenheiten zu sprechen, bei denen es zahlreiche Überlagerungen und Zwischentöne gibt; da aber die generellen Bedingungen auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze sich wesentlich unterschieden, kommt man nicht umhin, allgemeine Prägungen ins Auge zu fassen. Im östlichen Deutschland hatte der Begriff des Kulturerbes einen andern Klang und ein anderes Gewicht als im westlichen, dessen Eigentums- und Ämterstrukturen sich nach den Erschütterungen der Besatzungszeit bald wiederhergestellt hatten, reformiert im Geist des „rheinischen Kapitalismus“, aber mit weitgehender Eliten-Kontinuität. Die Folge war, dass die Auseinandersetzung mit der Hitler-Ära erst eine Generation später im Zug einer kulturrevolutionären Jugendbewegung zum Durchbruch kam, historisch verzögert und mit einem Pauschalismus, der die deutsche Kulturüberlieferung vielfach zum Mitschuldigen eines fundamentalen Irrwegs stempelte. Ein später Nachzügler dieses intentionalen Bildersturms zeigte sich noch in unseren Tagen, als eine irregeleitete Festspielleiterin eine Oper, die zum Kernbestand dessen gehört, was mit Recht Nationalkultur heißt, einer szenischen Deutung anheimgab, die dieses Werk in den Gerichtssaal des Nürnberger Militärtribunals versetzte.
Sehr anders verlief der kulturelle Prozess in jenem östlichen Deutschland, das nach Kriegsende unter sowjetischer Oberherrschaft eine Revolution von oben, aber nicht nur von oben vollzog, die die gesellschaftlichen Strukturen von Grund auf veränderte. Im Abstand von fünfundvierzig Jahren folgte ihr eine weitere, rückgängige Umwälzung – es ist diese zwiefache Revolutionserfahrung, die, sei es selbsterlebt oder familiär tradiert, das Lebensgefühl in den östlichen Ländern über mehrere Generationen geprägt hat. Die Wiederherstellung der deutschen Staatseinheit war hier jenseits aller damit verbundenen Verwerfungen ein existentielles Ereignis, schutzwürdig gegenüber jeder eilfertigen Selbstpreisgabe. Eine verwandte Haltung bestimmt das Lebensgefühl jener osteuropäischen Länder, die nach 1989 gleichzeitig in eine neue nationale Existenz eintraten.
Kultur als Refugium
Die geistige Erneuerung der Nachkriegszeit vollzog sich im östlichen Bereich überwiegend unter marxistischen Auspizien, auf eine im einzelnen oft dogmatisch-einseitige, im Ganzen aber heilsame und gleichsam rettende Weise. Das geschah zwanzig Jahre, bevor die studentische Jugend des deutschen Westens den Marxismus für sich entdeckte, und begab sich ohne den Furor der Vernichtung, der im Kielwasser dieser andern Entdeckung aufschäumte. Aus den Händen der Emigranten empfing die geistig bedürftige Jugend des jungen Staates das von nationalistischen Entstellungen und ästhetischer Selbstgenügsamkeit befreite Bild einer Kulturüberlieferung, die als Erbe auch und gerade in dem Sinn betrachtet wurde, dass sie auf ihre Zukunftshaltigkeit anzusehen sei. Thomas und Heinrich Mann (beide keine Marxisten), Ernst Bloch und Arnold Zweig, Georg Lukács und Hans Mayer, Anna Seghers und viele andere waren die Gewährsleute dieser Prüfung, und Bertolt Brecht, ihr auf die Dauer wirkungsmächtigster Protagonist, mit Schiller und Goethe, Kant und Kleist auf durchaus gespanntem Fuß, schrieb in „Theaterarbeit“, dem Grundbuch seiner Bühnenreform: „Wir werden ein nationales Theater haben oder keines...“
In einem Gedicht, das er einem in Frankfurt am Main eingekerkerten Vorkämpfer innerdeutscher Verständigung sandte, hieß es von „Deutschland 1952“: „Tätst du dir selbst vertrauen, wär alles Kinderspiel.“ Aber woher sollte sich in Ost und West unter notdürftig verschleierten Besatzungsbedingungen ein Selbstbewusstsein nähren? Das Problem ist, dass es sich auch lange nach der Wiederherstellung staatlicher Souveränität nicht in einem Maß herstellen will, das ein Stabilitätsanker sein könnte.
Bei aller Schwächung kultureller Impulse in einer vielfach amusisch heranwachsenden jungen Generation haben diese und andere Prägungen des mittel- bzw. ostdeutschen Kulturraums ihre Bedeutung bis heute nicht verloren. Die DDR-Bevölkerung trug für ganz Deutschland die Folgelasten des verbrecherischen Krieges, den Hitlers Heere im Osten Europas geführt hatten, und sie wusste darum, anders als der selbstgenügsame deutsche Westen; vielleicht auch von daher die intensive Bezugnahme auf den in großen Œuvres niedergelegten Kern weltfähiger deutscher Eigenart. Eine enorme Kulturlandschaft wurde nicht nur erhalten, sondern sozial erschlossen; unter ökonomisch angespannten Verhältnissen kam es zu einer nachhaltigen Pflege jahrhundertealter Kulturinstitutionen, von Leuchttürmen wie in Leipzig Thomaner und Gewandhaus, in Dresden Kruzianer und Staatskapelle, in Weimar die Gedenk- und Forschungsstätten der deutschen Klassik. Von allem dem und vielem anderen: berühmten Museen, einer vielgestalten Theaterlandschaft, ging die fortwährende Ermutigung eines Kulturbürgertums aus, das in vier Jahrzehnten eine deutliche Umschichtung erfahren hatte. War das alte Besitzbürgertum durch Abwanderung weitgehend verlorengegangen, so begab sich in der neuen, sozialistisch geförderten Intelligenzija mit der Zeit eine Individualisierung und Verbürgerlichung, die geistige Früchte trug; ein kritischer Blick auf den herrschenden Konformismus brachte sich in Kunst und Literatur wirkungsvoll zur Geltung.
Alarmsignale
So sehr diese in eine zweite Revolution mündende Entwicklung nach der Staatsvereinigung abgelenkt und überformt wurde, so heftig, etwa beim Dresdner Brückenstreit, zwei agonale Lager aufeinander stießen – ein auf kulturelle Maßstäbe und ein auf ökonomische Interessen fixiertes (keine Frage, wem der Sieg gehörte) –, so schlecht beraten wäre Politik, wenn sie die existentielle Bedeutung der kulturellen Überlieferung in den von einigen noch immer als „neu“ bezeichneten Ländern übersehen würde. In drei von ihnen – Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt – ist die Dichte relevanter Kultureinrichtungen und Erinnerungsstätten größer als in allen andern deutschen Ländern. Es war ein Alarmsignal, als im vorigen Jahr die Berliner SPD-Regierung ein Theaterensemble liquidierte, das sich in Berlin-Mitte seit einem Vierteljahrhundert als ein Aggregat bewährt hatte, das im Zeichen eines gebildeten Anarchismus die Voraussetzungen der gegenwärtigen Gesellschaft lustvoll auf den Prüfstand stellte; es trug, gerade auch in der jungen Generation, auf weltweit ausstrahlende Weise zu der kulturellen Vereinigung der Stadt bei. Was hier von seiten des Staates mit ressentimentgeladenem Dilettantismus durchgepaukt wurde, war ein verheerendes Indiz politischer Selbstgefälligkeit. Eine Herrschaftspraxis, der dergleichen unterläuft, ist in Gefahr, auf Verhältnisse zuzusteuern, die der einstige DDR-Bürger in deutlicher Erinnerung hat: solche des Scheiterns...
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