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Die Bundesrepublik als »Kulturstaat« – eine zeitgeschichtliche Skizze

Wiederauferstehung im Zeichen der Kultur

Provisorium in der Provinz - In der Nachkriegsbundesrepublik wurde das Bildungswesen, verfassungsgemäß verankert, Ländersache. Die Kultur war regional und lokal geprägt.

Axel Schildt27.06.2012

Mit Bezeichnungen wie „Kultur-Flatrate“, „Internet-Kultur“ oder „Kultur-Management“ hätten die Zeitgenossen nach dem Zweiten Weltkrieg nichts anfangen können. Erstens gab es diese Begriffe noch nicht, zweitens wären sie angesichts von vier bis fünf Prozent der Bevölkerung, die Fremdsprachenkenntnisse hatten, nicht verständlich gewesen. Und „Kulturstaat“? Einen Staat gab es bis 1949 nicht, nur Besatzungszonen.
Gleichwohl: Kultur war in der unmittelbaren Nachkriegszeit wichtig als moralisches Überlebensmittel in materieller Not, als Befreiung aus der Düsternis zumindest für einige Stunden. Zugleich trug die Beschwörung der Kultur in der Nachkriegszeit eine politische Botschaft in sich.

Die braune Diktatur, so hieß es in Ansprachen zur Wiedereröffnung von Schulen und Universitäten, habe der deutschen klassischen Dichtung der Weimarer Dioskuren oder der Musik von Bach bis Beethoven nichts anhaben können. Der greise Historiker Friedrich Meinecke schlug vor, sich künftig in Goethe-Gemeinschaften zusammenzufinden.
Die Beschwörung eines Neuanfangs im Zeichen klassischer Kultur wird heute von Literaturwissenschaftlern und Zeithistorikern eher als Spätblüte eines traditionellen deutschen Deutungsmusters angesehen, in dem hohe Kultur und niedere Zivilisation als absolute Antipoden erschienen. Auch die energischen Bemühungen der Besatzungsmächte, Amerikahäuser, der Import von westlicher Literatur und Kulturreisen in die USA konnten an der Dominanz dieses Denkmusters zunächst wenig ändern.

In den Gründerjahren der Bundesrepublik schien die alte Trennung von Geist und Politik, von kultureller Elite und kulturferner Massengesellschaft wieder zu gelten. Älteren Bildungsbürgern schauderte es geradezu bei dem Gedanken, die Werke von Goethe oder Schiller könnten im Taschenbuchformat erscheinen – erstmals angeboten von Rowohlt 1950. Wolfgang Koeppens legendärer Roman „Das Treibhaus“ wiederum drückte die innere Distanz der Kulturszene zur Bonner Politik aus.

Trennung von Geist und Politik

Daneben gab es frühe Bemühungen um einen symbolischen Schulterschluss von Politik und Kultur. So stand neben dem Bundeskanzler Konrad Adenauer, der angeblich mit einem Schatz von 500 Wörtern auskam, der Bundespräsident Theodor Heuss als literarisch geschätzter Homme des lettres, für die Sozialdemokraten saß der literarische „Schöngeist“ Carlo Schmid im Bundestag und als erster Gesandter in Paris fungierte seit 1950 der renommierte Dichter Wilhelm Hausenstein. In aller Welt öffneten seit der Mitte des Jahrzehnts Goethe-Institute ihre Pforten und präsentierten dem Ausland den deutschen „Kulturstaat“.
Im Kalten Krieg befand man sich in ständiger Konkurrenz zur DDR, die sich als die wahre deutsche Kulturnation zu profilieren suchte. Einige prominente Intellektuelle – Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Anna Seghers – waren aus dem Exil in den Osten Deutschlands gegangen. Thomas Mann, einer der bedeutendsten Schriftsteller im 20. Jahrhundert, wahrte Neutralität zwischen den beiden deutschen Staaten, ließ sich in der Schweiz nieder und besuchte zu den Goethe-Feierlichkeiten Frankfurt am Main ebenso wie Weimar.
Die westdeutschen Kulturschaffenden, Schriftsteller und Künstler, so skeptisch sie gegenüber der Bonner Politik eingestellt sein mochten, teilten allerdings überwiegend die Abneigung gegenüber dem kommunistischen Osten. Es ist symptomatisch, dass der internationale „Kongress für kulturelle Freiheit“ in West-Berlin 1950, der sich gegen den Stalinismus richtete, vor allem liberale und sozialdemokratische Intellektuelle versammelte. Am Ende des Jahrzehnts wechselten immer mehr Schriftsteller und Künstler von Ost nach West, darunter Ernst Bloch, Hans Mayer und Fritz J. Raddatz.

Die 1950er Jahre standen im Zeichen des erfolgreich wiederaufgebauten „Kulturstaats“. Dieser war – und ist – föderal organisiert. Das Bildungswesen wurde, verfassungsmäßig verankert, Ländersache, die Kultur zudem regional und lokal geprägt. Berlins einstiger Ruhm und Glanz, begründet nicht zuletzt von den vertriebenen und ermordeten jüdischen Künstlern, war weitgehend erloschen. Die neuen kulturellen Zentren hießen München, Frankfurt, Hamburg, Köln, Stuttgart – also vor allem jene Städte, in denen die ARD-Rundfunkanstalten, Hochschulen, Buchverlage, Zeitungs- und Zeitschriften-Redaktionen in ihrem Verbund eine urbane kreative Szene entstehen ließen.

Expansion des kulturellen Lebens

Die Transformation der Bundesrepublik in den sogenannten langen 60er Jahren zur postindustriellen Gesellschaft hatte enorme Auswirkungen für die Beschaffenheit des „Kulturstaats“. In dieser Phase beschleunigte sich die Expansion höherer Bildung, neue Hochschulen (von Bielefeld bis Konstanz) wurden gegründet, die traditionelle Trennung von hoher Kunst für die Eliten und niederer Unterhaltung für die Massen fand lauten Widerspruch vornehmlich jüngerer Akademiker, die Beatmusik, Dokumentartheater und experimentelle Literatur als zeitgemäße Moderne goutierten.

Die Politisierung der Schriftsteller und Künstler zeigte sich zunächst in der Hinwendung ihrer tonangebenden Vertreter aus der Gruppe 47, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser u.a., zur Sozialdemokratie – als kleinerem Übel – in den Bundestagswahlkämpfen seit 1961, nach der Vereinbarung der Großen Koalition 1966 allerdings auch in heftiger Opposition gegen das gesamte politische und gesellschaftliche System, dessen Demokratisierung gefordert wurde. Nicht nur die Studierenden und Schüler revoltierten, in großen Buchverlagen tobten „Lektorenaufstände“, Journalisten – z.B. beim Spiegel, Stern und in der Süddeutschen Zeitung – forderten redaktionelle Mitbestimmung, kein Bereich der kulturellen Sphäre blieb von diesem Aufbruch unberührt.  

Der „Kulturstaat“ seit den 1970er Jahren zeigte sich deutlich modernisiert. Ein reformerischer Slogan in jener Dekade lautete „Kultur für alle“ – die Teilhabe einer immer gebildeteren Bevölkerung an den staatlich, vor allem kommunal präsentierten Angeboten gehörte zu den Kernforderungen progressiver Kulturamtsleiter, wie etwa Hilmar Hoffmann in Frankfurt oder Hermann Glaser in Nürnberg. Zugleich lebte das Misstrauen gegen den Staat der „inneren Sicherheit“ fort. Die mediale Erfindung der Figur des linken „Sympathisanten“ der RAF- Terroristen, zu der etwa der Nobelpreisträger Heinrich Böll gestempelt wurde, führte zu heftigen Auseinandersetzungen. Erst allmählich, zum Ende der „alten Bundesrepublik“ hin, entspannte sich das Verhältnis kritischer Intellektueller zum Staat, man sprach von der „Selbstanerkennung“ der Republik, ein neuer „Verfassungspatriotismus“ (Dolf Sternberger 1979) fand viel Zustimmung. Zugleich erfolgte ein Wiederaufstieg der Bürgerlichkeit, in der Wochenzeitung Die Zeit wurde Ende der 1980er Jahre über die „Renaissance des Elitären“ diskutiert.

Von der Bonner zur Berliner Republik

Aus der Sicht des Zeithistorikers ist die Bestimmung einer weiteren Zäsur in der Entwicklung des „Kulturstaats“ schwierig. Der Übergang von der Bonner zur Berliner Republik gab zwar den Rahmen für wichtige Debatten über das politische Engagement von Schriftstellern und Künstlern ab, etwa im deutsch-deutschen Literaturstreit der 1990er Jahre um Christa Wolf u.a. Aber aus dem Rückblick ist zu konstatieren, dass die entscheidenden Veränderungen nicht im nationalstaatlichen Rahmen passierten, sondern in einer globalen Revolution der Massenmedien seit der Mitte der 1980er Jahre und dem Aufkommen gänzlich neuer Kommunikationsmittel. Das Internet ließ seit den 1990er Jahren neue Branchen kreativer Berufe entstehen und veränderte kulturelle Bedürfnisse sowie Verhaltensweisen grundlegend. Die neuen technischen Voraussetzungen haben Entwicklungen bewirkt, die noch kaum überschaut werden können. Allerdings scheint der Begriff des „Kulturstaats“ problematisch geworden zu sein, denn die Rahmenbedingungen werden immer stärker von multinationalen Konzernen (im engeren Sinne Microsoft, Apple, Samsung, Google, Facebook) eines digitalen Finanzmarktkapitalismus gesetzt. Die traditionelle intellektuelle Wächterrolle gegenüber einem hilflos sich anpassenden Staat scheint demgegenüber anachronistisch geworden zu sein.

Axel Schildt
Professor Dr. Axel Schildt war von 2002 bis 2017 Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte und Professor für Neuere Geschichte an der Universität in Hamburg. Zu seinen Werken gehören u.a. „Annäherungen an die Westdeutschen: Sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik“ (Wallstein Verlag, 2011). Als Mitherausgeber veröffentlichte er zuletzt „Dissidente Kommunisten: Das sowjetische Modell und seine Kritiker“ (Metropol-Verlag, 2018).