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Historischer Paradigmenwechsel

Der Abschied vom »Deutschen Sonderweg« in der Geschichtsschreibung

Mit seinem Buch »Die Schlafwandler« hat der Historiker Christopher Clark einen Nerv getroffen. Seine These, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs weniger deutschem Großmachtstreben geschuldet war als vielmehr einer komplizierten Mächtekonstellation, die während der Juli-Krise 1914 zu einer Verkettung fataler Entscheidungen geführt hat, wird im In- und Ausland breit diskutiert. Die Beiträge des März-Titelthemas hinterfragen, was diese neue Sicht für das Verständnis der jüngeren Geschichte bedeutet.

Axel Schildt14.03.2014

Dutzende von Büchern über den Ersten Weltkrieg sind bereits zum 100. Jahrestag seines Ausbruchs erschienen, weitere werden folgen. Das verwundert nicht. Die mörderische Dimension von 17 Millionen Toten und das Ende von vier großen Kaiserreichen, dem deutschen, habsburgischen, zaristischen und osmanischen, markieren einen tiefe Zäsur in der Weltgeschichte. Der Erste Weltkrieg schloss eine Epoche ab und stand am Anfang der Gewaltorgien des 20. Jahrhunderts.

In der Öffentlichkeit wird vor allem ein Buch intensiv diskutiert: „Die Schlafwandler“ des australischen Cambridge-Historikers Christopher Clark sind zur maßgeblichen Erzählung einhundert Jahre nach der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George Kennan) avanciert. Die Botschaft verrät schon der Titel: Der Erste Weltkrieg wurde nicht geplant, sondern resultierte aus einem tragischen Szenario, in dem „Schlafwandler – wachsam, aber blind“ (Clark) der Katastrophe entgegentaumelten.

Der Zeitgeist der 60er

Welch ein Unterschied zum 50. Gedenkjahr! Vor einem halben Jahrhundert hatte sich ein von dem Hamburger Historiker Fritz Fischer 1961 veröffentlichtes Buch endgültig durchgesetzt. Auch dieses Buch trug seine Botschaft bereits im Titel: „Griff nach der Weltmacht“. Fischer analysierte hier die aggressiven Planungen der deutschen Reichsleitung und machte sie an erster Stelle für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich. Man sollte zwei so unterschiedliche Botschaften im Abstand von einem halben Jahrhundert nicht einfach als wissenschaftlichen Fortschritt verbuchen. Vielmehr verweist deren Gegensätzlichkeit darauf, dass bei historischer Literatur nicht nur interessiert, über welche vergangene Zeit erzählt wird, sondern auch gefragt werden muss, in welchem Kontext eine Veröffentlichung erfolgt, die den Nerv ihrer Zeitgenossen trifft.

Eine zentrale Bedingung für einen solchen publizistischen Erfolg ist, dass der historische Inhalt für höchst gegenwärtige Debatten brauchbar sein muss. Historiker sprechen von „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei) bzw. „Geschichtspolitik“ (Edgar Wolfrum). Mit anderen Worten, die Rezeption von Fritz Fischer und Christopher Clark ist auch eine erstrangige Quelle für die politische Kultur der 1960er Jahre und der Gegenwart.

Hinter der These von der geplanten Auslösung des Ersten Weltkrieges durch Deutschland seit den 1960er Jahren stand die Vorstellung eines „deutschen Sonderwegs“ in die Moderne, die durch Fischers Veröffentlichung zwar nicht in die Welt gesetzt worden war, aber einen enormen Schub erhielt.

Fischer musste zunächst heftige Angriffe über sich ergehen lassen, wurde als Nestbeschmutzer gebrandmarkt, weil er darauf beharrte, dass Deutschland keinen Verteidigungskrieg geführt habe. Damit hatte er ein Tabu angegriffen. In jedem Schulbuch stand nämlich, dass alle Großmächte in den Ersten Weltkrieg zufällig hineingeschlittert seien. Deshalb wiederum seien die mit dem berüchtigten Kriegsschuldartikel juristisch begründeten Reparationsbestimmungen des Versailler Vertrags ungerecht gewesen, hätten die alliierten Siegermächte also eine Verantwortung dafür zu tragen, dass die Nationalsozialisten mit ihrer maßlosen Polemik gegen das System von Versailles zur Macht gelangten. Wenn aber nun der deutschen Reichsleitung nicht die Alleinschuld – die hat Fischer nie behauptet –, aber eine hohe Verantwortung für den Krieg zukam, war Hitler kein „Betriebsunfall der Geschichte“. Dann musste vielmehr nach deutschen Traditionen gefragt werden, die hinter den Angriffsplanungen der Reichsleitung standen. In der Einleitung seines Buches ist vom „deutschen Imperialismus“ und dessen „Weltmachtpolitik“ die Rede, und Fischer selbst wies auf die Ähnlichkeit der deutschen Kriegsziele im Ersten und Zweiten Weltkrieg hin. Der öffentliche Erfolg von Fischers Interpretation fällt in jene Zeit, als die Ära Adenauer endete und vor allem die jüngere Generation energisch die kritische Befassung mit der braunen Vergangenheit anmahnte. Fischers Andeutung einer weitgehenden Kontinuität, die erst 1945 abbrach, passte zu einer kritischen Grundhaltung, die auch in den großen Medien immer stärker vertreten wurde.

Damit rückte die sozialhistorische Aufarbeitung der deutschen Geschichte als einer spezifischen Fehlentwicklung in den Mittelpunkt des Interesses. Etikettiert wurde dies als „deutscher Sonderweg“, der in den Ersten Weltkrieg mündete und erst mit dem Zweiten Weltkrieg abbrach. Die damit konstruierte Kontinuitätslinie drehte eine viel ältere positive Vorstellung um, wonach Deutschland eine Sonderstellung unter den Völkern einnehme. Diese Idee einer deutschen Sendung findet sich schon bei Fichte und, mit antifranzösischem Affekt, bei den Schriftstellern der Romantik: Mochten die westlichen Nationen, England und Frankreich, zivilisatorisch weiter entwickelt sein, was bedeutete dieser Vorsprung schon gegen die viel tiefere deutsche Kultur? Deutschland, das „Land der Dichter und Denker“, war eine geistige Weltmacht und damit seinen Feinden überlegen. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellten Professoren die überlegenen „Ideen von 1914“ als nationales Ordnungsdenken gegen die überlebten „Ideen von 1789“, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

»?Irrweg einer Nation?«??

Die Kritik der Ideologie einer deutschen kulturellen Überlegenheit wurde zwar schon von Zeitgenossen im 19. Jahrhundert, von Heinrich Heine oder Karl Marx, geübt. Aber erst die 1933 in die Emigration gezwungenen Intellektuellen beschäftigten sich systematisch mit dem Thema. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Sonderwegs-Literatur in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Marxist Alexander Abusch den „Irrweg einer Nation“ beschrieb, der bereits im Mittelalter begonnen habe. Allerdings wurde diese Konstruktion einer schwarzen Linie der deutschen Geschichte von den SED-Ideologen bald abgelehnt, weil sie die nationale Propaganda störte.

In den 1960er und 1970er Jahren griffen jüngere Historiker, berühmt geworden ist Hans Ulrich Wehlers Buch „Das deutsche Kaiserreich“ (1973), mit sozialhistorischen Forschungen auf die Traditionen der Vorstellung eines deutschen Sonderwegs zurück. Die deutsche Entwicklung sei durchgehend nicht durch Revolutionen von unten, sondern durch Reformen von oben gekennzeichnet. Das gelte für die preußischen Reformen, die Niederlage der Liberalen 1848 und die Reichseinigungspolitik von Bismarck. Dadurch habe in Deutschland keine bürgerlich-liberale Gesellschaft entstehen können. Im Kaiserreich seien Entscheidungen stets „im Interesse der agrargesellschaftlichen Führungseliten“ getroffen worden, statt die industrielle und gesellschaftliche Modernisierung zu befördern. Das Großbürgertum habe sich den adligen Eliten angepasst und der Militarismus die ganze Gesellschaft sozialisiert.

Der Sonderwegs-Ansatz konnte der Kritik, die seit Ende der 1970er Jahre laut wurde, nicht standhalten. Eingewandt wurde, dass es doch durchaus liberale und rechtsstaatliche Elemente in Politik und Kultur des Kaiserreichs gegeben habe. Der „Sozialmilitarismus“ (Hans Ulrich Wehler) konnte immerhin in satirischen Zeitschriften mit hoher Auflage wie etwa dem „Simplicissimus“ durch den Kakao gezogen werden.

Widerlegung des »?Sonderwegs?«

Der in Michigan lehrende Historiker Geoff Eley wies nach, dass das Bürgertum im Kaiserreich viel einflussreicher gewesen war, als dies zur These vom Sonderweg passte. Falsch sei auch Wehlers Gleichsetzung von Bürgertum und Liberalismus. Gerade in den nationalistischen Verbänden dominierten bürgerliche, nicht adlige Schichten. Außerdem sei die Entwicklung in England im Gegensatz zur deutschen keineswegs demokratisch gewesen. Die Annahme eines Sonderwegs sei generell irreführend, weil es gar keinen „normalen“ Weg gebe.

Insofern bedurfte es des Buches von Christopher Clark nicht, um die Sonderwegs-These zu widerlegen, sie war längst tot. Eher handelt es sich um eine weitere Begräbnisfeier. Indem Clark ein europäisches Szenario entwirft, entgeht er den methodischen Gefahren der Sonderwegs-These. Hierin ist sein transnationaler Ansatz, ansonsten der aus den Akten gearbeiteten Studie Fischers methodisch nicht unähnlich, weit überlegen.

Die Fachwissenschaft spart deshalb nicht mit Lob, weist aber auf einige Schwachstellen hin, etwa, dass Clark entgegen seiner Ablehnung einer Schuldzurechnung doch den Eindruck eines neuen Rankings entstehen lässt, in dem Serbien als Schuldiger ganz oben steht, während Deutschland fast am besten wegkommt, ohne dass die Befunde von Fischer widerlegt werden. Aber das wird in der Zunft der Historiker in ruhigem Tonfall erörtert, weil der eigentliche Streitpunkt im Hintergrund – der deutsche Sonderweg – längst verabschiedet ist. Da Clark aber auch die Ähnlichkeit der Zeit vor 1914 mit unserer Gegenwart beschwört, wird er in den Medien als Kronzeuge für außenpolitische Krisenstrategien aufgerufen, die geschichtspolitisch aufgewertet werden sollen. Die im einprägsamen Titel enthaltene Botschaft wird dann zur Hauptsache. Aber das ist eine andere Geschichte.
Axel Schildt
Professor Dr. Axel Schildt war von 2002 bis 2017 Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte und Professor für Neuere Geschichte an der Universität in Hamburg. Zu seinen Werken gehören u.a. „Annäherungen an die Westdeutschen: Sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik“ (Wallstein Verlag, 2011). Als Mitherausgeber veröffentlichte er zuletzt „Dissidente Kommunisten: Das sowjetische Modell und seine Kritiker“ (Metropol-Verlag, 2018).

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