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Über die Legitimität von Rekonstruktion, das Fremdeln der Bürger mit zeitgenössischen Bauten und die Eitelkeiten der Architekten und Bauherren

»?Wir müssen unsere Grundauffassungen neu überdenken?«

Wir müssen unsere Grundauffassungen neu überdenken

» Wenn so viele Menschen dermaßen gravierende Abneigungen gegenüber der zeitgenössischen Architektur haben, dann müssen wir nicht die Menschen umerziehen, sondern unsere architektonischen Grundauffassungen
überdenken «

08.09.2011

Zum Anfang eine einfache Frage: Wie legitim ist architektonische Rekonstruktion?

V. M. Lampugnani: Die Frage ist alles andere als einfach. Aus meiner Sicht ist architektonische Rekonstruktion grundsätzlich nicht legitim, weil unter normalen Umständen nichts dafür spricht, etwas wieder aufzubauen, was zerstört worden ist. Rekonstruktion entspricht nie dem Original, sie hat keine Authentizität und damit geht der Charakter eines Bauwerks verloren.

Allerdings gibt es Ausnahmen von zu dieser Regel. Die sind vor allem dort auszumachen, wo große Teile von Städten zerstört worden sind und wo die Bewohner das Bedürfnis und auch das Recht haben, ihre alten Bauten und Stadträume, die ja ein Stück Heimat sind, wieder zurückzuerhalten.


Nehmen wir konkret das Frankfurter DomRömer-Projekt, bei dem ein Nachkriegsbau, nämlich das Technische Rathaus, zugunsten einer „neuen Altstadt“ weichen musste. Ist dies eine Reparatur an der Stadt – oder einfach nur Retro-Kitsch?

Ich glaube, in Frankfurt ist die Reparatur vertretbar. Man kann sicher über die Bauten, die jetzt an die Stelle des Technischen Rathauses kommen, streiten. Aber grundsätzlich finde ich das Vorhaben nachvollziehbar – allerdings nur, weil vom historischen Frankfurt so wenig übrig geblieben ist.

 

Der meistdiskutierte Rekonstruktionsbau der letzten Jahre war das Berliner Schloss. Sie selbst waren Vorsitzender der Jury des Architektenwettbewerbs. Bei dem Neubau sind lediglich drei von vier Außenwänden dem Original nachempfunden und nur einer von zwei Innenhöfen, die Innenräume entsprechen noch weniger dem historischen Vorbild. Kann man ein solches Gebäude überhaupt noch „Berliner Schloss“ nennen?

Das Vorhaben, das Berliner Schloss als Volumen wieder zu errichten, unterstütze ich voll und ganz. Städtebaulich hat das Schloss eine ganz hohe Bedeutung für den gesamten Bereich um den Lustgarten und Unter den Linden. Mein Problem mit diesem Wiederaufbauprojekt liegt darin, dass es nicht wirklich ein Wiederaufbauprojekt ist; anders etwa als bei der Dresdner Frauenkirche, die genau so wiederaufgebaut wurde, wie sie war, nur mit überwiegend neuen Steinen.

 

Aber wie nennt man so ein Haus?

Es wird sicher Berliner Schloss genannt und auch als solches wahrgenommen werden. Die schönsten und baukünstlerisch wertvollsten Merkmale des Originals sollen ja wieder aufgebaut werden. Aber eigentlich dürfte man sich die Frage, was „schön“ und „wiederaufbauenswert“ ist und was nicht, bei einer Rekonstruktion gar nicht stellen. Wenn man ein Gebäude wert findet, repliziert zu werden, dann muss man auch seine Fehler und Ungereimtheiten akzeptieren. Wenn man anfängt, auszuwählen und zu sagen, das gefällt uns, das bauen wir wieder auf, und das gefällt uns nicht, das bauen wir nicht wieder auf, dann verfällt man schnell in das große Missverständnis des 19. Jahrhunderts, in dem mittelalterliche Ruinen noch mittelalterlicher wieder aufgebaut wurden, als sie ursprünglich waren.

 

Woher kommt eigentlich die Sehnsucht nach historischen Bauten? Bei der Kleidung und der Musik will der moderne Mensch doch auch auf der Höhe der Zeit sein.

Das sagen Sie, dass wir bei der Kleidung auf der Höhe der Zeit sind. Ich glaube das nicht.

 

Inwiefern?

Schauen Sie, wir ziehen Hemden und Jackets an und binden sogar Krawatten um, obwohl sie rein funktional betrachtet einigermaßen unsinnig sind. Aber wir benutzen sie, weil sie ein Teil unserer Tradition sind und ein Teil unseres Lebens. Und aus genau dem gleichen Grunde trauern viele Menschen – ich zähle mich übrigens dazu – der alten Architektur und der alten Stadt nach, wo sie zerstört ist: weil sie ein Stück Heimat ist und weil sie zu uns gehört. Und ganz nebenbei: Wenn so viele Menschen dermaßen gravierende Abneigungen gegenüber der zeitgenössischen Architektur haben, dann müssen wir nicht die Menschen umerziehen, sondern unsere architektonischen Grundauffassungen überdenken.

 

Bei manchen Ihrer Kollegen hat man allerdings nicht den Eindruck von Nachdenklichkeit, sondern eher von Entrücktheit, nach dem Motto, der normale Mensch hat gar keine Ahnung davon, was Architektur ist.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts orientiert sich die Architektur eng an den Avantgarde-Kunstrichtungen und sieht sich selbst auch als Avantgarde. Damit beansprucht sie ein schönes utopisches Potential, läuft aber Gefahr, die Bindung zur Brauchbarkeit des Gebauten aufzukündigen.

 

Zur Brauchbarkeit eines Hauses gehört auch die Umgebung, in der Regel die Stadt. Dort passen jedoch viele zeitgenössische Gebäude nicht hinein. Ist uns die Idee von der Stadt verloren gegangen?

Leider ja. In der Nachkriegszeit, aber auch schon in den zwanziger Jahren, deren architektonische Verdienste außer Frage stehen, ging viel von der Fähigkeit verloren, gute städtische Räume zu bauen. Wir sind jetzt langsam dabei, das wieder aufzuholen.

 

Was sind die größten Fehler der modernen Stadtentwicklung?

Ich schätze die Architektur der zeitgenössischen Stadt nicht besonders, glaube aber, dass die Grundprobleme unserer Ballungsräume nicht architektonisch, sondern politisch, ökonomisch und sozial sind. Die Stadt verkommt immer mehr zu einem Ort, der lediglich der Gewinnmaximierung dient. So sind selbst die Häuser, die wir heute für ein bürgerliches Publikum bauen, von ihrer Bauqualität schlechter als die armseligsten Spekulationsprodukte für Schlechtverdienende des 19. Jahrhunderts. Das müsste uns eigentlich zu denken geben. Hinzu kommt die Obsession der Verkehrsgerechtigkeit. Es ist ein großes Missverständnis unserer Zeit, dass die Stadt vorrangig ein Ort der Mobilität sein muss, und dass diese Mobilität mit dem Privatfahrzeug geschehen soll. In Wahrheit ist die Stadt zunächst für den Fußgänger da. Natürlich müssen auch die Autos fahren, aber dem Fußgänger und seinen Bedürfnissen untergeordnet. Die historischen Stadtzentren sind für den Fußgänger geplant worden, alle Proportionen sind auf ihn zugeschnitten, dadurch sind das höchst lebenswerte Stadtstücke geworden und geblieben.


Ein anderes Merkmal der alten Stadt ist die klare Grenze, z. B. eine Mauer oder ein Verteidigungswall. Heute greifen Gewerbegebiete soweit aus, dass man oft nicht mehr weiß, wo die Stadt aufhört und wo das Land beginnt. Kann man diese Entwicklung wieder einfangen?

Man könnte das, wenn man wollte. In der Schweiz etwa gibt es neuerdings ein Gesetz, das die Ausweisung von Bauland extrem reduziert. Ich glaube, da kann man gar nicht radikal genug sein. Sonst wirken die ökonomischen Mechanismen so, dass es weiterhin attraktiver ist, Gewerbe- und Wohngebiete im Grünen zu errichten und locker zu streuen.

Die meisten historischen Zentren können nicht weiter verdichtet werden, schon vor über hundert Jahren wurde deshalb großflächig an den Städten angebaut. Aber auch die riesigsten Stadterweiterungen des 19. Jahrhunderts sind noch vergleichsweise kompakt. Und es sind ja oft die Orte, wo man heute noch gern wohnt, etwa in Hamburg an der Alster oder in den einstigen Bürgerbauten von Kreuzberg in Berlin. Die zweite Welle der Stadterweiterung nach dem Krieg ist allerdings völlig aus dem Ruder gelaufen. Dem Landschaftsverbrauch wurden überhaupt keine Grenzen mehr gesetzt. Dies wieder ins Lot zu bringen ist eines der großen Themen der heutigen Stadtplanung.

 

Auf der Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt haben Sie sich 2010 mit dem Thema „Langfristige Stadtkultur statt kurzfristiger Funktionskultur“ befasst. Wie kommen wir dorthin, dass die Stadt in erster Linie wieder als Kulturgut verstanden wird?

Entscheidend sind die ökonomischen Mechanismen. Im Augenblick ist es einfach zu günstig für einen Projektentwickler, ein Grundstück zu kaufen, schnell und billig zu bebauen, das fertige Objekt zu vermieten oder zu verkaufen und dann zum nächsten Projekt zu eilen. Ich bin nicht gegen Spekulation an sich, die hat es in der Geschichte der Stadt immer gegeben, aber sie muss auch der Gemeinschaft zugutekommen und nicht nur dem Investor. Wenn es nicht gelingt, durch ökonomische, steuerliche und politische Anreize eine Bindung zwischen dem Investor und der Stadt zu schaffen, dann werden alle Aufrufe zur Kultur der Stadt Sonntagspredigten bleiben.

 

Zur klassischen Stadtbaukultur gehörte auch das Detail. Doch wo früher Säulen, Gesims und Pilaster die Blicke der Betrachter anlockten, dominieren heute große glatte Fassaden. Fehlt es da am Mut zur Zierde? Oder darf der Anblick eines Hauses heute einfach keine Freude machen?

Die Freude, der Mut, das ist alles richtig. Aber Sie dürfen auch nicht die ganz handfesten finanziellen Möglichkeiten vergessen, die es braucht, um solche Zierart zu entwickeln. Die glatten Flächen sind Produkte der ständigen Reduktion der Baukosten. Selbst die wenigen Architekten, die noch an eine Fassadengestaltung glauben, können sie nicht umsetzen, wenn ihre Bauherren nicht willens oder in der Lage sind, sie zu bezahlen.

 

Den billigen Bauten gegenüber stehen die Schöpfungen von Stararchitekten, die sich als „solitäre“ Kunstwerke verstehen, und sich möglichst weit vom vorhandenen Stadtbild absetzen wollen.

Ja, etliche Kollegen sind eitel und wollen besonders extravagante Solitäre bauen, um im Feuilleton und in den Fachzeitschriften groß herauszukommen. Aber diese Schwäche wird gefördert durch die mindestens ebenso große, wenn nicht größere Eitelkeit der Bauherren. Egal, ob es Kommunen sind oder große Konzerne oder auch nur Sparkassen: Sie alle wollen sich ihre eigene, unverwechselbare Welt schaffen, und zwar mit Häusern, die unbedingt anders sein müssen als alle anderen. Allerdings kompensieren die Städte, die mit großen Namen und Solitärbauten auftrumpfen wollen, ihr eigenes Defizit, nämlich dass sie als Stadt nicht mehr wirklich funktionieren. Ein Ort wie Siena hat es nicht nötig, mit spektakulären Neubauten Touristen anzulocken. Der Palazzo Comunale oder die Piazza del Campo sind dort Attraktion genug. Ich glaube, auf derlei öffentliches Kulturgut müssen sich die Kommunen wieder besinnen. Sonst wird die Stadtzerstörung weiter voranschreiten.