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Titelthema

Die Vergangenheit war komplexer

Titelthema - Die Vergangenheit war komplexer
Der Marktplatz von Halle an der Saale galt um 1900 als einer der schönsten Plätze Deutschlands. Einer der belebtesten war er allemal. © Taschen Verlag, Collection Marc Walter

Über die tatsächlichen und vermeintlichen autoritären Traditionen des Ostens. Anmerkungen zu einer historischen Legende

Christoph Nonn01.02.2018

Es hat sich eingebürgert, die „Alternative für Deutschland“ als eine Partei aus einer anderen Zeit zu betrachten. Ihre Anhänger, heißt es etwa, sehnten sich zurück nach dem vermeintlich geordneten Muff der Adenauerzeit. Oder noch weiter in die Vergangenheit: In Hagen ermöglichte die lokale AfD die Renovierung eines Bismarck-Denkmals. Ihr rheinland-pfälzischer Vorsitzender Uwe Junge trägt einen Bart wie Kaiser Wilhelm (der Zweite).

Nun hat die AfD ihre größten Wahlerfolge allerdings nicht am Rhein, sondern in den neuen Bundesländern feiern können. Das wird gelegentlich mit einer historisch bedingten Verhaftung des „Ostens“ in autoritärem Denken erklärt. So meinte der Historiker Magnus Brechtken in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Sympathien vieler Wähler aus den östlichen Bundesländern für die AfD – oder auch für die aus seiner Sicht gleichermaßen undemokratische Linkspartei – hätten entscheidend mit „autoritärer Tradition zu tun“, deren „Wurzeln weit in die Zeit vor 1945 zurückreichen.“ Für diese Tradition stehe in der deutschen Geschichte vor allem Preußen, das 1871 dann zur Vormacht des vereinten Deutschlands wurde – als die Zeit der klassischen Kaiser-Wilhelm-Bärte anbrach.

Die Identifikation Preußens als autoritäre Untertanengesellschaft war schon im Kaiserreich selbst äußerst beliebt. Als 1906 der Schuhmacher Wilhelm Voigt in Berlin eine Hauptmannsuniform kaufte und von der Straße weg einige Rekruten verpflichtete, mit ihm das Köpenicker Rathaus zu besetzen, um dort die Stadtkasse mitgehen zu lassen, lachte darüber nicht nur das Ausland. Der gelungene Streich des „Hauptmanns von Köpenick“ diente auch in Deutschland und in Preußen selbst Liberalen, Sozialdemokraten und Katholiken als Beleg für preußischen „Kadavergehorsam“. Doch gerade die massive Kritik daran, die der Fall Köpenick provozierte, stellt die Allgegenwart von Untertanengeist im Kaiserreich in Frage. Wilhelm Voigts Erfolg ließ sich zwar mit einem bedingungslosen Glaube an Uniformen und Autoritäten in dem Berliner Vorort selbst erklären. Das öffentliche Echo darauf belegte freilich auch die Existenz weitverbreiteter autoritätskritischer Einstellungen in ganz Deutschland.

Politische Mobilisierungsprozesse
Das klassische Image Preußens als Hort autoritärer Traditionen, das von einem Großteil deutscher Historiker in den 1960er und 1970er Jahren vertreten wurde, gilt heute als überholt. Die neuere historische Forschung zeichnet ein wesentlich komplexeres, ambivalentes Bild. Eine Feudalisierung des städtischen Bürgertums, im Sinn einer Angleichung des bürgerlichen Wertehimmels an aristokratische Traditionen, hat es danach während des Kaiserreichs kaum gegeben. Adlige Großgrundbesitzer im preußischen Osten modernisierten stattdessen ihre Güter und wurden zu kapitalistischen Agrarunternehmern. In der ganzen Gesellschaft kam es zu Prozessen politischer Mobilisierung „von unten“. Selbst auf dem platten Land der Ostprovinzen Preußens emanzipierten sich Landarbeiter und Kleinbauern vielfach vom konservativen Adel. Wenn sie dessen politische Führung weiterhin akzeptierten, dann nicht mehr aus Tradition, sondern weil die Aristokraten die wirtschaftlichen Interessen der ländlichen Unterschichten mitvertraten.

Solche politischen Mobilisierungsprozesse auf dem Land gab es auch in Regionen wie Mecklenburg, Vorpommern und Brandenburg. Nur die beiden letzteren gehörten allerdings zu Preußen. Überhaupt sind große Teile der späteren DDR nie preußisch gewesen. Das gilt für das besonders bevölkerungsreiche Sachsen, Thüringen, Mecklenburg und Teile des heutigen Sachsen-Anhalt. Hier wurde auch nach der Gründung des Deutschen Reiches ein Sonderbewusstsein gehegt und gepflegt. Antipreußische Ressentiments gab es etwa in Sachsen kaum weniger als in Bayern oder Württemberg. Auch wenn Zollschranken 1871 längst abgebaut waren, während Rechtssystem, Transport- und Kommunikationswesen in den Jahren nach der Reichsgründung vereinheitlicht wurden: Die Mauern in den Köpfen blieben. Nicht nur der Sachse Karl May legte bei seinen Phantasiereisen durch den Orient oder den Wilden Westen stets Wert darauf, ein Untertan des sächsischen Königs und kein Preuße zu sein. Erst recht hätten er und seine Landsleute allergisch darauf reagiert, wenn man sie als „Ostdeutsche“ bezeichnet hätte.

Hier steckt ein weiterer Pferdefuß der These vom rückständigen, traditionell autoritätshörigen „Osten“. Denn was heute gemeinhin Ostdeutschland genannt wird, war bis 1945 eben „Mitteldeutschland“. Die These vom traditionsverhafteten Osten traf bereits im späten Kaiserreich selbst auf die ländlichen preußischen Provinzen östlich der Oder kaum noch zu. Für die Mitte dieses Reiches, aus der dann später die DDR wurde, wäre sie völlig abwegig gewesen. In Sachsen stand schließlich die Wiege der deutschen Industrialisierung. Abgesehen von Ruhrgebiet und Rheinschiene war während des Kaiserreichs nirgendwo sonst der Anteil der Industriebeschäftigten höher als in dem Dreieck zwischen Leipzig, Plauen und Zittau. Auch Thüringen, das heutige Sachsen-Anhalt und Berlin mit Brandenburg gehörten damals zu den boomenden industriellen Zentren Deutschlands. Von den fünf neuen Bundesländern der heutigen Berliner Republik war allein das Gebiet Mecklenburg-Vorpommerns im Kaiserreich wirtschaftlich unterentwickelt oder „rückständig“.

Das „rote Königreich“
Bildete das damalige „Mitteldeutschland“ wirtschaftlich gesehen also eine Avantgarde, so war es auch aus politischer Sicht alles andere als traditionsverhaftet und konservativ. Sachsen galt vor dem Ersten Weltkrieg als das „rote Königreich“, weil die Sozialdemokratie dort ihre besten Ergebnisse erzielte. Bei den Reichstagswahlen von 1912 gewann die SPD bis auf drei alle sächsischen Wahlkreise. Auch in Thüringen, dem heutigen Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Berlin errangen die Sozialdemokraten damals die meisten Mandate. In Mecklenburg und Vorpommern hatten die Linksliberalen die Nase vorn. Auf dem Gebiet der heutigen DDR waren die demokratischen Parteien bei diesen letzten Wahlen des Kaiserreichs damit am stärksten vertreten. Weiter östlich überwogen dagegen die eine Demokratisierung entschieden ablehnenden Konservativen, während im Westen katholisches Zentrum und Nationalliberale dominierten.

In der Weimarer Republik veränderte sich an dieser Dreiteilung der politischen Landschaft Deutschlands lange wenig. Während der 1920er Jahre blieb die Mitte, also das Gebiet der späteren DDR, eine sozialdemokratische Hochburg. 1932 setzte sich zwar hier, wie überall in den mehrheitlich protestantischen Gebieten Deutschlands, die NSDAP als stärkste Partei fest. Ihre besten Ergebnisse erzielten die Nationalsozialisten aber nie in den heutigen neuen Bundesländern, sondern in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen und östlich von Oder/Neiße.
Wer nach historischen Ursachen für die aktuellen Wahlerfolge der AfD in den neuen Bundesländern sucht, wird in der Zeit zwischen 1871 und 1945, den Jahren des ersten deutschen Nationalstaats, kaum fündig werden.

Einleuchtender erscheint es schon anzunehmen, dass eine Neigung zu autoritärem Denken in den Jahrzehnten der SED-Diktatur entstand. Schließlich wurden zwischen 1945 und 1990 zwei Generationen in den undemokratischen Strukturen der DDR sozialisiert. Das wirkt um einiges plausibler als Erklärung dafür, dass zunächst PDS bzw. Linkspartei und nun auch die AfD in den neuen Bundesländern überdurchschnittlich abschneiden.

Allerdings sollte man bei aller Begeisterung für Erklärungen aus historischer Langzeitperspektive die letzten 27 Jahre nicht vergessen. Die Anfälligkeit der Wähler in den neuen Bundesländern für politische Extreme dürfte sich nicht zuletzt aus ihren Erfahrungen mit dem demokratischen System der Bundesrepublik erklären lassen. Seit der Wiedervereinigung ist den Bewohnern der ehemaligen DDR einiges an Transformationsschocks zugemutet worden: erst Industriebrachen statt der versprochenen blühenden Landschaften; dann ein Exodus der jungen Generation in den „goldenen“ Westen; im Gegenzug eine Invasion von kapitalistischen Glücks- und bürokratischen Spesenrittern; und dann auch noch endloses Lamentieren über die Undankbarkeit der „Ossis“. Dabei sind doch angebliche Zumutungen wie der Solidaritätszuschlag im Vergleich zu dem, was den DDR-Bürgern zwischen 1949 und 1990 zugemutet wurde, schlicht banal.

Geschichte kann vieles besser verstehen helfen. Aber oft muss man dabei gar nicht so weit zurückgehen. Und schon gar nicht hilfreich ist es, wenn abgestandene historische Klischees über den „Osten“ bemüht werden, um zu erklären, warum in den neuen Bundesländern so viele Wähler Sympathien für populistische  Parteien haben. Eher wäre etwas mehr Sensibilität und Selbstkritik angebracht – statt den Besserwessi zu spielen...


 

Bilder großer Kulturlandschaften

Abb.: Taschen Verlag

Wie präsentiert man eine Region, der nachgesagt wird, rückständig und unterentwickelt zu sein? Am besten mit alten Fotografien, die das Gegenteil belegen. Darum zeigen die Aufnahmen innerhalb dieser Titelstrecke historische Städte und Landschaften von Sachsen-Anhalt bis Ostpreußen, von Pommern bis Galizien. Wir sehen Orte, die unabhängig von den politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts große kulturelle Zentren von europäischem Rang waren und sind. Die Aufnahmen stammen zum großen Teil aus den Bildbänden Deutschland um 1900, Taschen Verlag, und Leipzig um 1900, Lehmstedt Verlag, sowie aus weiteren Quellen.

Christoph Nonn
Prof. Dr. Christoph Nonn ist Professor für Neueste Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zuletzt erschienen „Eine andere deutsche Geschichte 1517-2017: Was wäre wenn...“ (Verlag Ferdinand Schöningh, 2017) und „Das deutsche Kaiserreich: Von der Gründung bis zum Untergang“  (C.H.Beck, 2017). geschichte.hhu.de

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