Was deutsche Historiker von ihren britischen Kollegen lernen könnten
Wir können auch anders
Während sich die großen Arbeiten deutscher Historiker in jüngster Zeit der allgemeinen Weltgeschichte widmeten, legten ihre britischen und amerikanischen Kollegen immer wieder neue impulsgebende Werke zur deutschen Geschichte vor. Anmerkungen zu einer nachdenklich stimmenden Entwicklung
Es ist ein gerne und viel strapaziertes Klischee: Deutsche Historiker schreiben lange, langatmige, schwer lesbare Bücher. Britische Geschichtsschreibung dagegen ist ebenso klar wie knapp.
Wie bei allen Klischees ist viel davon unzulässige Verallgemeinerung. Die Hitler-Biographie von Ian Kershaw, Richard Evans‘ Geschichte des Nationalsozialismus oder Joachim Whaleys „Heiliges Römisches Reich“ zählen alle weit über 1000 Seiten. Und vergleichbar voluminöse Werke wie etwa Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens“, Hans-Ulrich Wehlers deutsche Sozialgeschichte oder Jörg Leonhards „Büchse der Pandora“ sind ebenso gut lesbar. Reihen wie „Beck Wissen“ stellen zudem vielfach unter Beweis, dass nicht wenige deutsche Historiker auch die Kunst der prägnanten Darstellung beherrschen.
Komplexe Satzmonster contra gute Lesbarkeit
Und doch: Jedes Klischee hat einen wahren Kern. Um die Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert zu erklären, braucht Jürgen Osterhammel mehr als 1500 Seiten. Christopher Bayly schafft das gleiche nicht weniger meisterlich in einem um zwei Drittel kürzeren Buch. Um die komplexe Struktur des Nationalsozialismus zu erklären, reden deutsche Historiker in sperriger Begrifflichkeit von „kumulativer Radikalisierung“ – was nur weitere umfangreiche Erklärungen nötig macht. Ian Kershaw spricht dagegen von „working towards Hitler“, Hitler zuarbeiten – und erklärt damit den nationalsozialistischen Herrschaftsmechanismus ebenso klar wie einfach.
In Großbritannien gilt es als Qualitätsmerkmal, wenn fachhistorische Bücher gut lesbar und verständlich sind. Wer in Deutschland als Historiker zur Veranschaulichung Metaphern verwendet, aber keine Relativkonstruktionen auftürmenden Satzmonster produziert, muss sich darauf gefasst machen, in Fachzeitschriften und selbst im Feuilleton „saloppe“ und „journalistische“ Schreibweise attestiert zu bekommen. Wer Fachchinesisch meidet, Ironie als Stilmittel nutzt oder gar Kapitel mit einem „cliffhanger“ abschließt, dem wird nicht selten das Etikett „unwissenschaftlich“ angeheftet.
Anschauliche Darstellungsweisen wie die des kontrafaktischen Experiments erfreuen sich in der angelsächsischen Geschichtsschreibung großer Beliebtheit. Hochrenommierte Historiker wie Kershaw oder Niall Ferguson sind in ihren Büchern wiederholt der Frage „Was wäre wenn“ nachgegangen. Nutzen und Grenzen kontrafaktischer Spekulationen werden in der britischen Geschichtswissenschaft intensiv diskutiert. In Deutschland beschäftigten sich damit außer dem Althistoriker Alexander Demandt bisher fast nur Romanautoren. Die meisten Spezialisten für deutsche Geschichte hierzulande verorten die kontrafaktische Methode im Reich der Fantasie oder ignorieren sie ganz.
Sehnsucht nach dem „happy-end“
Dabei macht die Frage „Was wäre wenn“ historische Darstellungen nicht nur unterhaltsam. Sie schärft auch das Bewusstsein für die prinzipielle Offenheit von Entwicklungen. Das erscheint gerade in Deutschland bitter nötig. Ist doch die Neigung zu teleologischen Geschichtskonstruktionen hierzulande immer noch allzu verbreitet. Sahen frühere Historikergenerationen lange die Reichsgründung von 1871 als Vollendung deutscher Geschichte, so galt Vertretern der „Historischen Sozialwissenschaft“ später die Ära Willy Brandts als Nonplusultra. In Ulrich Herberts „Deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts“ hat diese Praxis gerade Wiederauferstehung gefeiert. Für Heinrich August Winkler, Hagen Schulze oder Eberhard Kolb gilt dagegen die Wiedervereinigung als „happy-end“.
Solche Konstruktionen von einem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ in der eigenen Gegenwart hat es auch in Großbritannien gegeben. Die „Whig Historiography“ sah in der Entstehung einer liberalen britischen Nation den einsamen Höhe- und Schlusspunkt westlicher Zivilisation. Doch das ist lange her. Die Mythen der „Whig Historiography“, die auch in Deutschland lange nachwirkten, haben gerade britische Historiker wie David Blackbourn nachhaltig demontiert. Und weder mit der Ankunft im Westen noch mit der Wiedervereinigung ist die deutsche Geschichte zu Ende.
Bei der Rückschau auf sie werden bestimmte Bezugspunkte zwar ihre Prominenz behalten. Das gilt in erster Linie für den Nationalsozialismus. Dessen Verankerung als negativer Bezugspunkt deutscher Erinnerungskultur ist die wichtigste Errungenschaft der Geschichtsschreibung in den letzten fünfzig Jahren. Manchmal freilich scheint der Schatten dieser Erinnerungskultur so groß, dass er hierzulande Möglichkeiten zur Erkenntnis, zur Erweiterung von Perspektiven verdunkelt. Britische Historiker gehen da unverkrampfter zu Werke. Christopher Clarks Buch zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs ist ein gutes Beispiel. Unter deutschen Historikern war das Echo darauf immer noch geprägt von der seit den 1960er Jahren geführten Debatte um die „Schuld“ Deutschlands am Kriegsausbruch, die als Vorgeschichte des Nationalsozialismus verstanden wird. Dass es Clark ausdrücklich um etwas ganz anderes ging, nämlich um die Parallelen zwischen den Reaktionen auf Sarajevo und 9/11, wurde dabei vielfach gar nicht einmal wahrgenommen.
Das richtige Maß
Bezeichnenderweise meiden britische Historiker, die über deutsche Geschichte schreiben, überhaupt meist den Begriff „Schuld“ und sprechen stattdessen von Verantwortung. Auch davon könnten wir lernen. Ein Historiker hat andere Aufgaben als ein Jurist. Oft beginnt seine Aufgabe gerade dort, wo die des Gerichts aufhört. Jedenfalls erschöpft sie sich nicht darin festzustellen, was geschah und wie Personen in der Vergangenheit gehandelt haben. Es geht auch darum, deren Spielräume auszuloten. Und nicht zuletzt geht es um die Frage nach dem Warum – nach den Motiven, den Ursachen, den Umständen, unter denen Menschen handelten.
Wenn es um die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus geht, insbesondere um die mit NS-Tätern, wird diese Frage hierzulande nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern sogar unter Historikern manchmal schon als geradezu unanständig angesehen. Doch das verwischt den Unterschied zwischen Verstehen wollen und Verständnis haben. Wer nach den Kontexten nationalsozialistischer Taten fragt, hat deswegen noch keineswegs Verständnis für die Täter und will sie nicht entschuldigen. Kritische Distanz ist wichtig. Aber wo sie ebenso zum bloßen Ritual wird wie die Identifikation mit den Opfern des Nationalsozialismus, verhindert das nur die Erkenntnis von dessen Natur und erschwert damit das Lernen aus der Vergangenheit.
Eine Orientierung an der Praxis von Historikern wie Ian Kershaw, Richard Evans und vielen ihrer britischen Kollegen kann uns in Deutschland dabei helfen, auch hier das richtige Maß zu finden.
Weitere Artikel des Autors
2/2018
Die Vergangenheit war komplexer
3/2015
Nach der deutschen Einheit
Mehr zum Autor