Editorial
Kulturhauptstadt in unruhigen Zeiten
Selten war der Titel einer Kulturhauptstadt Europas so aktuell wie in diesem Jahr. Nur wenige Tage, bevor die schlesische Metropole Breslau mit ihren Feierlichkeiten begann, verabschiedete das Parlament in Warschau eine Reihe von Gesetzen, die europaweit als nationalkonservative Kurskorrektur verstanden wurden. Während die Regierung an der Weichsel die „Heilung der Nation“ verkündet, präsentiert sich die Stadt an der Oder als „europäischster Ort Polens“. Nicht zu Unrecht, wie die Briten Norman Davies und Roger Moorhouse schon vor ein einigen Jahren zeigten, als sie das jahrhundertelang zu Österreich und Preußen gehörende Breslau als „Blume Europas“ beschrieben.
Diesseits der Neiße ruft das Kulturhauptstadtjahr in Erinnerung, welche geistigen Landschaften infolge von NS-Diktatur und Zweitem Weltkrieg, von Vertreibung und Kommunismus ausgelöscht wurden. Neben Schlesien, das für Namen wie Joseph v. Eichendorff, Gerhart Hauptmann und Kurt Masur sowie für zahlreiche Nobelpreisträger steht, gehört dazu auch das alte Ostpreußen, wo in Frauenburg am Frischen Haff Nikolaus Kopernikus unser modernes Weltbild begründete und wo an der Königsberger Albertus-Universität Immanuel Kant mit seinen Lesungen das aufgeklärte Denken der Neuzeit prägte.
Mit dem Verlust der großen deutschen Kulturlandschaften im Osten, die – der Baltendeutsche Eduard von Keyserling steht dafür ebenso wie der Czernowitzer Paul Celan und die Siebenbürgerin Herta Müller – weit über die Grenzen Schlesiens und Ostpreußens hinaus reichten, ging weit mehr verloren als ein paar Städte und Dörfer. Seit Jahren fehlt hierzulande nahezu jedes Gespür für das Geschehen jenseits von Oder und Neiße, sind Polen und Ungarn, die Ukraine und all die anderen Staaten des einstigen sowjetischen Herrschaftsbereichs allenfalls als Absatzmärkte für westliche Konsumgüter oder als Lieferanten möglichst billiger Arbeitskräfte von Interesse.
Was die Menschen an Weichsel, Don und dem unteren Lauf der Donau bewegt, wird bestenfalls ignoriert. Um so größer freilich dann das Erstaunen, wenn wie zuletzt auf der Krim und im Donbass scheinbar aus dem Nichts heiße Konflikte ausbrechen, oder wenn die Nachrichten über nationalistische Bestrebungen wie in Budapest und Warschau berichten.
Die Europäische Kulturhauptstadt Breslau bietet eine gute Gelegenheit, in den nächsten Monaten den Blick Richtung Osten zu richten und dabei Landschaften zu entdecken, die unsere Gegenwart weit mehr prägen als den meisten bewusst ist. Lohnenswert, das zeigen die Beiträge ab Seite 28, ist es allemal.