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Titelthema

Endlose baltische Weite

Titelthema - Endlose baltische Weite
© Reinhard Schmid / Schapowalow

Die Deutschen waren hier, die Dänen, Schweden und Russen. Doch Saaremaa blieb Saaremaa – auch in Fragen von Natur, Kultur und Kulinarik.

Neil Taylor01.08.2019

Die politischen Ansichten der Esten mögen weit auseinander gehen, aber bezüglich der Anziehungskraft der größten Insel des Landes, Saaremaa, herrscht bei allen Einigkeit. Tatsächlich gehören noch über 1000 weitere Inseln zu Estland, von denen es an Reiz jedoch keine mit Saaremaa aufnehmen kann. Das mag daran liegen, dass die Insel zu Sowjetzeiten zu einem großen Militärstützpunkt ausgebaut wurde und kaum jemand einen Fuß auf sie setzen durfte. Ein weiterer Grund ist die Entschlossenheit, auf Saaremaa das Beste vom Estland aus der Vorkriegszeit von 1920 bis 1940 zu bewahren, als das Land nicht besetzt war. Junge Esten verdienen heute ihr Geld gern in den Glastürmen Tallins, aber zum Entspannen kommen sie alle jeden Sommer nach Saaremaa. Dank der Weite, Zeitlosigkeit und Farbpracht der Insel fühlen sie sich wieder als Esten, nicht als internationale Bürger. Hier reicht die Palette an regionalen Produkten von Gin über Walnussstollen bis zu Besteck aus Wacholderholz oder regionalem Marmor.

Die Burg der Inselhauptstadt Kuressaare ist die einzige in ganz Estland, die weitgehend unbeschadet aus dem 14. Jahrhundert erhalten geblieben ist. Sie wurde von deutschen Ordensrittern erbaut, aber ähnlich wie unter den Schweden, Dänen und Russen, die ihnen folgten, bewahrte Saaremaa den estnischen Charakter stets besser als das Festland, und jeder Fremde, der das ändern wollte, tat dies auf eigene Gefahr. Ab dem 15. Jahrhundert hatte hier kein erfolgreicher Eroberer mehr seinen Sitz.

Lange, helle Sommerabende
Heute finden sich in der Burg Exponate aus dem Mittelalter, aber die Schwerpunkte liegen auf der Darstellung des Lebens während der 20 Jahre zwischen den Weltkriegen sowie den Schrecken der 46 Jahre unter sowjetischer Besatzung von 1945 bis 1991. Konstantin Päts, der Präsident aus Vorkriegszeiten, heißt die Gäste als Wachsmodell in der Ausstellung willkommen. Er liebte Saaremaa und freute sich über jeden Vorwand, die Insel zu besuchen, vor allem im Sommer, wenn die langen, hellen Abende zusammen mit dem Golfstrom selbst den Trägsten zum Schwimmen in die Ostsee locken. Damals wie heute bietet Saaremaa Weite und Ruhe. Diese Elemente machen einen Besuch der Insel aus und stehen in scharfem Kontrast zu den überlaufenen Stränden auf dem Festland.

Der Präsident konnte sich wohl kaum länger in den Kurorten aufhalten, aber es gab genug andere, die die Zeit dafür hatten. Heute mischen sich unter die Esten viele Ausländer, die sich gern für wenig Geld jünger und fitter machen lassen. Hauptbestandteil der Behandlung ist direkt auf der Insel gewonnener Schlamm. Überhaupt ist vieles auf Saaremaa typisch für die Insel, vom Essen über Handwerk und Traditionen, die den Besucher in ihren Bann ziehen und im wahrsten Sinne des Wortes vom Rest der Welt abschotten.

Herrschaft der Natur
Gewisse Dinge, die das Inselleben zwischen den beiden Weltkriegen ausmachten, gehören heutzutage wohlweislich der Vergangenheit an. Die Kühe trotten nicht mehr jeden Abend über die Hauptstraße der Hauptstadt Kuressaare, wenngleich das wahrscheinlich nach wie vor möglich wäre, so gering ist das Verkehrsaufkommen. Da nur an wenigen Gebäuden Änderungen vorgenommen wurden, dominieren zweistöckige Holzhäuser das Bild. Nicht nur die meisten Häuser auf Saaremaa wurden aus Eiche gefertigt, sondern auch die stabilen Boote, die es mit dem Festland verbinden. Auch außerhalb der Eichenwälder ist die Herrschaft der Natur uneingeschränkt: Über 700 Schmetterlings- und 200 Mottenarten wurden in einem einzigen Naturschutzgebiet auf der Insel gefunden. Mit dem Voranschreiten des 21. Jahrhunderts beweist Saaremaa, dass die Anziehungskraft der frühen Jahre des 20. Jahrhunderts nach wie vor ungebrochen ist. Wollen wir hoffen, dass Besucher in zehn und 20 Jahren das auch noch so sehen.

Neil Taylor
Neil Taylor lebt in Tallinn und London und verfasste zahlreiche Schriften und Bücher über die Geschichte und Kultur Estlands. 2018 erschien im Hurst-Verlag „Estonia. A Modern History“, 256 Seiten, 18 Euro. Sein tiefes Wissen vermittelt er Gästen auf Kulturreisen durch das Baltikum.