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Titelthema

Vom Ende der Evolution

Titelthema - Vom Ende der Evolution
Drill - Mandrillus leucophaeus - Meerkatzenverwandte. Zoo in Atlanta: Stark gefährdet. In freier Wildbahn leben die Primaten noch in einigen Wäldern Kameruns, Nigerias und Äquatorialguineas. © Joel Sartore/Photo Ark

Die „Defaunation“ des Anthropozäns – die Entleerung der Tierwelt in der Menschenzeit – ist neben dem Klimawandel die wohl größte Herausforderung der Menschheit im 21. Jahrhundert.

Matthias Glaubrecht01.02.2023

Es gehört zu den Paradoxien unserer Gegenwart, dass wir zwar den Weltraum und unseren Erdtrabanten erreicht haben, auch einen Nachbarplaneten erkunden, tatsächlich aber auf einem in biologischer Hinsicht noch weitgehend unbekannten Planeten leben. Denn noch immer ist der Großteil der irdischen Tier- und Pflanzenarten unentdeckt und unbekannt, wissenschaftlich weder benannt noch beschrieben. Das gilt zwar kaum noch für die auffälligen, aber weitaus weniger artenreichen Wirbeltiere wie Vögel oder Säuger, umso mehr aber für das namenlose Heer unscheinbarer Wirbelloser – also insbesondere für Gliedertiere wie Insekten, Spinnen und Krebse oder für Weichtiere. Aktuelle Schätzungen gehen von insgesamt mehr als acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit aus. Nicht einmal ein Viertel dieser ungeheuren biologischen Vielfalt dürfte bislang systematisch erfasst worden sein. Die gesamte biologische Vielfalt, die Biodiversität mit all ihren Facetten auf den verschiedenen Ebenen – von den Genen über Arten bis zu ganzen Ökosystemen – ist der größte Reichtum der Erde. Doch dieser steht im globalen Maßstab auf dem Spiel. Und dabei geht es nicht nur um das Sterben der anderen Arten, es geht um unser eigenes Überleben als Menschheit.

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Von der Eintagsfliege zum Evolutionsfaktor

Obgleich mit einem Alter von nur 300.000 Jahren geradezu eine Eintagsfliege der kosmischen wie der organismischen Evolution, sind wir – unsere Art Homo sapiens – eine der erfolgreichsten Spezies. Mittlerweile nutzen wir drei Viertel der Erde für unsere Zwecke, vor allem für unsere Landbewirtschaftung und unsere Siedlungen, Städte und Straßen. Auch hat die von uns erzeugte anthropogene Masse – alles vom Menschen erzeugte Material wie Beton, Zement, Steine und Metalle oder Plastik – das Gewicht der von sämtlichen Pflanzen, Tieren und anderen Organismen erzeugten Biomasse der Erde erreicht. Und seit Ende 2022 leben mehr als acht Milliarden Menschen auf der Erde; noch kommen jährlich mehr als 60 Millionen, etwa die Bevölkerung Frankreichs, hinzu. Zwar geht inzwischen die Geburtenrate pro Frau weltweit zurück, doch bevor sich dadurch die Wachstumskurve der Weltbevölkerung zum Ende des Jahrhunderts hin allmählich abflacht, werden es in den unmittelbar vor uns liegenden Jahrzehnten erst einmal mehr Menschen werden. Bis Mitte des Jahrhunderts werden wir laut aktuellen Prognosen, etwa der Vereinten Nationen, knapp neun Milliarden Menschen sein; bis 2100 könnten es zehn oder gar elf Milliarden werden. Wie keine andere Spezies zuvor prägen wir die Erde, verändern alle Bereiche zwischen der oberen Erdkruste und der unteren Atmosphäre. Wir beeinflussen dabei nicht nur die Geosphäre unseres Planeten, sondern vielmehr auch dessen gesamte Biosphäre.

Artenkrise von globaler Dimension

In der Erdgeschichte sind fünf größere Massenaussterbe-Ereignisse dokumentiert, beim letzten verschwanden vor 66 Millionen Jahren infolge eines Meteoriteneinschlags unter anderem auch die Dinosaurier. Beim sechsten Artensterben nun sind wir der Meteorit. Gegenwärtig verlieren wir weltweit in dramatischer Weise biologische Vielfalt. Und zwar nicht nur große charismatische Tiere – gleichsam die sogenannten „Flaggschiffarten“ des Naturschutzes, wie etwa Tiger und Löwe, Leopard und Jaguar oder Elefanten und Nashörner –, bei denen wir noch am ehesten bemerken, dass in Afrika und Asien längst die Bestände bis auf Relikte zusammengebrochen sind, in denen die jeweils Letzten ihrer Art ums Überleben kämpfen.

Doch längst geht es nicht mehr um die mehr als 500 Wirbeltierarten, die allein im vergangenen Jahrhundert ausgestorben sind. Inzwischen droht die „biological annihilation“ – die Auslöschung des Lebens – zu einer der Signaturen des Anthropozäns, der Menschenzeit, zu werden. Neben „deforestation“, der globalen Entwaldung, ist „defaunation“, die Entleerung der Tierwelt, das markanteste Zeichen für unsere Gegenwart. Die Naturschutzorganisation WWF geht in ihrem Living Planet Report von einem Rückgang der biologischen Vielfalt um weltweit mehr als 60 Prozent im vergangenen halben Jahrhundert aus. Und der Weltbiodiversitätsrat IPBES warnt davor, dass bald eine von acht Tier- und Pflanzenarten aussterben könnte.

Diese Schwindsucht der Vielfalt und Fülle der Arten beginnt unmittelbar vor der eigenen Haustür, im eigenen Garten und in unserer Kulturlandschaft, wo massenhaft Vögel und Insekten verloren gehen. Allein in Deutschland ist die Biomasse der Insekten in den vergangenen drei Jahrzehnten um knapp 80 Prozent zurückgegangen, das sind drei Viertel aller Fluginsekten. Unter anderem auch deshalb sind in Europa bis zu 600 Millionen Vögel verschwunden, darunter meist Acker- und Wiesenvögel; in Nordamerika sind es drei Milliarden, immerhin 30 Prozent aller Vögel dort.

So zeigt eine Vielzahl einschlägiger Studien, dass auf allen sechs Kontinenten und in sämtlichen Lebensräumen die Bestände und Vorkommen von immer mehr Arten in dramatischer Weise und immer schneller schrumpfen. Die Auswirkungen dieses rasanten Verlustes an Biodiversität aber dürfen wir nicht unterschätzen; sie sind von enormer ökologischer Brisanz und von erheblicher gesellschaftlicher Sprengkraft.

Von einem Krieg des Menschen gegen die Natur schrieb 1962 die amerikanische Biologin Rachel Carson in ihrem Buch Der stumme Frühling. Ihre Dystopie wurde zum Geburtshelfer der modernen Umweltbewegung – aber das von ihr prophezeite Artensterben auch in Teilen zur Realität. Diesen Krieg gegen unsere Um- und Mitwelt führen wir schon lange, über Jahrhunderte und Jahrtausende. Aber jüngst ist er radikaler und ausufernder geworden, vor allem ist er für eine stetig wachsende und ressourcenhungrige Menschheit längst geradezu selbstmörderisch. Denn Natur sind auch wir, und damit geht die Artenkrise uns alle an.

Die ökonomischen Folgen

2023, titelthema, Weißbauchschuppentier,
Weißbauchschuppentier - Phataginus tricuspis -  Schuppentiere - Pangolin-Aufzuchtstation, St. Ausgustine/Florida: Gefährdet. Ein Weibchen mit seinem Nachwuchs. Es ist das erste Schuppentier, das in Gefangenschaft gezüchtet wird. Die Traditionelle Chinesische Medizin glaubt an heilende Eigenschaften der Keratinschuppen, weshalb die Tiere noch immer gejagt werden. 
© Joel Sartore/Photo Ark

Natur und Umwelt sind mehr als bloß unentgeltliche Ressourcen zur Profitsteigerung. Arten sichern unsere Lebensgrundlage, die biologische Vielfalt ist gleichsam unsere Lebensversicherung. Schließlich leben wir von der Natur und verdanken ihr unsere Nahrung – von sauberem Wasser, frischer Luft und gesunden Böden, vom Brot bis zur Banane, vom Fleisch bis zum Fisch, von den Bäumen der Wälder bis zum Obst und Gemüse der Gärten, und damit vom Kaffee am Morgen über den Salat am Mittag bis zum Wein oder Bier am Abend. Überall brauchen wir die Rohstoffe und unentgeltlichen Dienste einer gesunden Natur, denken wir nur an die Bestäuber unter den vielen Insekten, die so für Kaffee und Kakao, für Äpfel, Birnen oder Tomaten sorgen.

Unzählige Arten an Organismen bauen das komplexe Netzwerk irdischer Ökosysteme auf, von denen wir alle profitieren. Je mehr biologische Arten fehlen, desto mehr ökologische Maschen gehen verloren, bis das Netz irgendwann reißt. Wenn Ökosysteme das Kapital unserer Erde wären, dann sind Arten wie Anleihen, die Geld und Gold wert sind. Ihr massenhaftes Verschwinden kommt einem biologischen Börsencrash gleich, der indes auch das Unternehmen Menschheit in den Bankrott treibt.

Alle Warnungen ungehört

An Warnungen vor den vielfältigen Degradierungen der Natur hat es nicht gefehlt. Bereits vor einem halben Jahrhundert mahnte der Club of Rome die Grenzen des Wachstums an. Spätestens damit wussten wir um den grundlegenden Konflikt von Ökonomie und Ökologie; bereits damals wäre es folgerichtig gewesen, das Ruder umzulegen und den Kurs einer nachhaltigen Weltwirtschaft einzuschlagen. Inzwischen warnen diverse Reports vor dem Wachstumsdogma, vor einer Abhängigkeit unserer Zivilisation von fossilen Energieträgern und vor ökologischen Krisen wie den Folgen des globalen Verlustes von Biodiversität. Im Global Risks Report errechnete das Weltwirtschaftsforum, dass etwas weniger als die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts wesentlich von der Natur abhängig ist. Auf etwa 40 Billionen Euro pro Jahr werden darin die Leistungen der Natur beziffert, was fast 40 Prozent der globalen Wirtschaftskraft entspricht. Dieser Beitrag der Natur zu unserem Wohlstand aber ist durch den Verlust der Artenvielfalt zunehmend gefährdet, weshalb der Schwund an Biodiversität als eines der größten globalen Risiken in naher Zukunft eingestuft wird. Auch ein Team von Bioökonomen um Anthony Waldron hat in einer umfassenden Kosten-Nutzen-Analyse konkreter Naturschutzziele ermittelt, dass jeder dabei investierte Euro das Fünffache an Ertrag bringt. Es lohnt sich also, in die Natur zu investieren; mehr Wildnis zu wagen ist nicht nur für Tiere und Pflanzen, sondern auch für die Wirtschaft durchaus ein guter Deal.

Doch wir vernichten gleichsam unser Naturkapital. Unlängst hat es der Umweltökonom Partha Dasgupta im Auftrag der britischen Regierung unternommen, den Naturverlust in ökonomischer Hinsicht zu quantifizieren. Er betont, dass Biodiversität kein Wirtschaftsgut sei, sondern das Kapitalvermögen der Ökosysteme und als solches einen echten ökonomischen Wert brauche, der mehr abbildet als den reinen Nutz- oder Marktwert. Die fehlende Wertberechnung der Natur samt ihren Gratis-Dienstleistungen und eben auch des Verlustes dieser hohen Werte ist gleichsam der blinde Fleck unseres Wirtschaftssystems. Denn in dessen überkommene Logik geht weder der unermessliche Reichtum der Natur noch der Nutzen für den Menschen ein. Deshalb ist das Fazit des Dasgupta Review zur Ökonomie der Biodiversität: Wenn wir Natur zerstören, zerstören wir uns, weil wir ohne es einzuberechnen unsere ökonomische Grundlage vernichten. Biodiversität ist nicht nur ein essenzieller Teil der Natur, die das Netzwerk des Lebens ausbildet, sondern stellt damit auch die entscheidende Voraussetzung für das globale Wirtschaftssystem bereit. Natur und Umwelt zu schädigen, ist daher nicht einfach ein klassischer externer Effekt wirtschaftlichen Handelns, sondern unterhöhlt langfristig dessen Fundament.

Der Montreal-Moment

Tatsächlich hat inzwischen auch die Politik erkannt, dass „die Artenkrise der nächste große Kampf und mindestens so dramatisch wie die Klimakrise ist“. Zwar ist das Problem des globalen Biodiversitätsverlustes damit längst noch nicht so allgemein bekannt, wie es nötig wäre, geschweige denn die Gefahr gebannt. Aber es gibt erste Schritte in die richtige Richtung, um den weiteren Schwund der Arten sowie den Verlust biologischer Vielfalt zu stoppen. So wurde auf der UN-Weltnaturschutzkonferenz (COP15), die im Dezember 2022 in Montreal tagte, beschlossen, bis zum Jahr 2030 wenigstens 30 Prozent des natürlichen Lebensraumes an Land und in den Meeren unter Schutz zu stellen. Zudem sollen im selben Zeitraum erhebliche Finanzmittel in der Größenordnung von zusammen 200 Milliarden US-Dollar für Länder des globalen Südens bereitgestellt werden, um die vor allem dort befindliche Biodiversität zu schützen.

Der Biodiversitätsgipfel in Montreal ist damit der bislang bedeutendste Meilenstein beim Bemühen der internationalen Gemeinschaft um den Schutz der Natur. Zwar ist das Abkommen in vielen Punkten vage, dennoch ist die Botschaft deutlich: Die Natur ist kostbar, und wir Menschen dürfen ihr nicht überall den Raum streitig machen. Jetzt muss es darum gehen, das Abkommen zügig mit Leben zu füllen und auf nationaler Ebene umzusetzen, um vor allem das gesteckte 30 x 30-Ziel zu erreichen und die Artenvielfalt zu erhalten.

Wenn dies nicht gelingt, wird das Leben auf der Erde andere Wege einschlagen, doch dann sehr wahrscheinlich bald ohne uns.


Buchtipps

 

Matthias Glaubrecht

Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten

C. Bertelsmann 2019, 1072 Seiten,

38 Euro

 

2023, buchtipp, titelthema, glaubrecht
© Ullstein 2022

 

Matthias Glaubrecht

Die Rache des Pangolin. Wild gewordene Pandemien und der Schutz der Artenvielfalt

Ullstein 2022, 640 Seiten,

29,99 Euro 

Matthias Glaubrecht
Matthias Glaubrecht RC Hamburg ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Uni Hamburg und Leiter des Projekts „Evolutioneum“ am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB).

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