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Titelthema

Nicht alles ist Humboldt

Titelthema - Nicht alles ist Humboldt
Ein Denkmal schon zu Lebzeiten: Humboldt-Porträt von Julius Schrader (1859). Im Hintergrund der Chimborazo. © bpk / the metropolitan museum of art

Zum 250. Geburtstag ist es an der Zeit, die Überhöhung des Naturforschers zu hinterfragen und sachlicher auf sein Werk zu blicken.

Matthias Glaubrecht01.09.2019

Er gilt als der moderne Forscher schlechthin, als der letzte große Universalgelehrte und erste Umweltaktivist, Weltreisender und Weltbürger; ein Superstar der Wissenschaft, dabei charismatisch, spitzzüngig und voller Grandeur. Fast alles an biologischen Disziplinen hat er angeblich angestoßen, die Ozeanographie, Pflanzengeographie und Ökologie in jedem Fall.

Als Alexander von Humboldt 1802 am Chimborazo in Ecuador, damals für den höchsten Berg der Erde gehalten, die verschiedenen Vegetationszonen durchquerte, die sich höhenbedingt wie abwechselnde Gürtel um den erloschenen Vulkankegel legen, soll er angeblich begonnen haben, die Welt mit anderen Augen zu sehen. „Die Erde erschien ihm als ein riesiger Organismus, in dem alles mit allem in Verbindung stand – eine mutige, neue Sicht der Natur, die noch immer beeinflusst, wie wir heute unsere Umwelt sehen und begreifen“, so schreibt Andrea Wulf in ihrer viel gelesenen und allseits gefeierten Humboldt-Biographie. Angeblich habe Humboldt gleichsam „die Natur erfunden“, sie als erster als „globale Kraft“ erkannt und damit unser Verständnis von Ökosystemen geprägt. Er sei zudem der Begründer der Naturschutzbewegung und warnte bereits vor zwei Jahrhunderten vor dem menschengemachten Klimawandel. Behauptet Andrea Wulf – und mit ihr nicht nur im Jubeljahr das gesamte Feuilleton bis hin zum Staatspräsidenten, der mehrfach Bezug auf Wulfs Narrativ nahm. Seitdem ist alles an Humboldt „bio“ und „öko“, ganzheitlich und nachhaltig, global ohnehin. Beinahe könnte man angesichts seiner weitgespannten zehntausendfachen Briefkorrespondenz glauben, er habe sogar das Internet vor ausgedacht und die Globalisierung vorweggenommen. Alles ist Humboldt und Humboldt alles; nie geht es eine Nummer kleiner.

Unbestrittene Verdienste
Zugegeben: Nach Humboldt sind nicht nur mehr Orte auf Erden benannt als nach irgendeinem anderen Forscher. Humboldt war bereits zu Lebzeiten einer der berühmtesten und fraglos einer der einflussreichsten Wissenschaftler, ein Kosmopolit von internationalem Rang; weit gereist und hochgeachtet. Zugegeben auch: Mit seiner Geographie der Pflanzen – zusammenfassend dargestellt in seinem „Naturgemälde der Anden“, dem bekannten Querschnitt durch das Andenprofil mit horizontal gestaffelten Vegetationszonen – machte Alexander von Humboldt die Pflanzengeographie populär und trug maßgeblich zur späteren Begründung der Ökologie bei. Mit seiner ikonenhaften und stilbildenden Darstellung vom Andenvulkan Chimborazo wollte Humboldt nicht nur neue Arten, sondern vielmehr das harmonische Zusammenwirken physikalischer Faktoren und regional verschiedener Organismengruppen beschreiben. Er hat damit durchaus die Grundlage für unser heutiges Verständnis einer vernetzten Umwelt gelegt. Humboldt begriff die Natur als Kosmos, in dem vom Winzigsten bis zum Größten alles miteinander verbunden ist. Mit ihm beginnt eine neue, von der amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Susan Faye Cannon bereits 1978 als „Humboldtian Science“ ausgerufene Epoche, mit der neben empirischer Forschung auch eine neue Sichtweise in die Naturkunde einzog.

Unterschlagene Ziehväter
Dabei wird übersehen, dass der spätere Humboldt – durchaus nicht unabsichtlich – wesentliche geistige Ziehväter und Vorgänger und ihre heute weitgehend vergessenen Schriften nachweislich unterschlägt, auf die er sich als junger Student noch explizit berufen hat. Das beginnt mit der Vermessung der Welt und speziell der äquatorialen Anden, die bereits vom zahlenfixierten und messbegeisterten französischen Astronomen und Mathematiker Charles-Marie de La Condamine während dessen zehnjähriger Expedition von 1735 an begonnen wurde. Condamine bestieg übrigens als erster auch die Vulkanberge um Quito, darunter den Chimborazo, und beschrieb dessen Vegetation – ein Dreivierteljahrhundert vor Humboldt, der die Andenregion gleichsam nur auf Condamines Spuren bereiste, ihn dafür aber im Reisebericht weitgehend unterschlägt.

Ebenso wie die Tatsache, dass Humboldt nicht nur maßgebliche Techniken und Instrumente, sondern auch die grundlegende Idee zur Darstellung einer höhenabhängigen Veränderung montaner Vegetationszonen dem französischen Alpenforscher Jean-Louis Giraud-Soulavie verdankt, der sich im Ansatz bereits einer verblüffend ähnlichen visuellen Sprache wie später Humboldt bediente. Als junger Student in seiner ersten wissenschaftlichen Veröffentlichung 1790 hat Alexander von Humboldt Soulavie noch als den Gründungsvater der Pflanzengeographie gepriesen, dessen Methode einen neuen Zugang zur Natur bedeute. Tatsächlich hat Soulavie bereits 1783 die exakte Vermessung der Natur zum Programm erhoben und dies nicht nur am Beispiel der Bergvegetation im französischen Zentralmassiv in der Ardèche vorgeführt. Vielmehr hat er die Höhenzonierung der Vegetation auch in einer dreidimensionalen Graphik illustriert, wobei das Bergprofil – wie bei Humboldts Anden-Querschnitt – beidseits von barometrischen Höhenangaben eingerahmt wird. Mehr noch: Soulavie war zudem der Ansicht, dass im Universum alles mit allem zusammenhänge. Er verstand die Natur als eine integrierte und komplexe Einheit, in der belebte und unbelebte Faktoren vernetzt sind. „Rien n’est isolé dans la nature, le néant seule est isolé“, schrieb Soulavie; nichts ist isoliert und alles wirkt aufeinander. Was heute vielfach zitiert geradezu als Humboldt-Formel gilt – der Blick auf das große Ganze, die Erkenntnis, dass alles mit allem verbunden ist und alles Wechselwirkung – geht im Kern auf Jean-Louis Giraud-Soulavie zurück.

Hagiographischer Personenkult
Und mit dem deutschen Naturforscher Eberhard August Wilhelm von Zimmermann hatte Humboldts Kartographie der Pflanzen-Verbreitung einen weiteren, von ihm systematisch übergangenen geistigen Vater. Zimmermann hatte die Tiergeographie samt genuiner graphischer Darstellung in einem dreibändigen Werk – zwischen 1778 und 1783 erschienen und Humboldt nachweislich bekannt – etabliert, lange vor der Pflanzengeographie. Zimmermann geriet aber – nicht zuletzt dank Humboldts Zutun – wieder in Vergessenheit. Einmal mehr indes sind Methoden und Leistungen, die bislang allein Humboldt zugeschrieben wurden, bereits zuvor im Werk Zimmermanns projektiert und praktiziert worden.

Buchstäblich der Gipfel dann: Im Frühsommer 2019 deckte ein Team französischer und ecuadorianischer Botaniker durch den minutiösen Vergleich mit Humboldts Aufzeichnungen auf, dass er es mit den Fakten nicht so genau genommen hat. Denn als Humboldt sein später berühmtes „Naturgemälde“ vom Chimborazo zeichnete, trug er darin das Vorkommen von Pflanzen ein, die er nachweislich am Antisana sammelte und von denen viele – was zwei Jahrhunderte niemand bemerkte – auf dem Chimborazo gar nicht vorkommen; wo Humboldt noch dazu oberhalb von 3600 Metern wegen heftigen Schneefalls gar keine Pflanzen mehr gesammelt hat.

Dass viel vom Gedankengut der Humboldt-Zeit noch immer allein ihm zugeschrieben wird, zeugt mehr von einem hagiographischen Personenkult, als dass es das Wissen um die Disziplin-Genese befördert. Humboldt wird dadurch nicht nur als Initiator beinahe aller naturkund - lichen Disziplinen idealisiert, der durch seine Forschungs- und Denkanstöße bis heute angeblich unser Verständnis der Umwelt geprägt habe. Einmal mehr wird er als volksaufklärender „Weltwissenschaftler“, als „mobiler Forschungsreisender rund um die Welt“ und als Leitbild der Globalisierung stilisiert.

Doch Humboldts Ideen haben zum einen wichtige, bislang weitgehend unbekannt gebliebene Wurzeln. Zum anderen waren viele seiner Ideen keineswegs derart wirkungsmächtig, wie etwa Andrea Wulf uns glauben machen will. Während Wissenschaftshistoriker inzwischen beginnen, sich kritisch mit dem preußischen Gelehrten und seiner Epoche der „Humboldtian Science“ zu befassen, bedient Andrea Wulf ein aus der Zeit gefallenes Narrativ, das nur Gipfel kennt, keine Gebirgsketten. Bei allen Verdiensten Humboldts, in Wulfs seltsam unzeitgemäßer Biographie wird dieser als Wissenschaftler maßlos überzeichnet.

So hat Humboldt zwar tatsächlich bereits um 1800 die verheerenden Umweltfolgen von Abholzung und Monokultur in Venezuela gesehen und davor gewarnt, dass Menschen ihre unmittelbare Umwelt zerstören, weil dies eine – wie wir heute sagen – ökologische Kettenreaktion auslöse, mit Auswirkungen für kommende Generationen. „Alles ist Wechselwirkung“, schrieb Humboldt. Doch einerseits ging es ihm um nachhaltiges Wirtschaften für den Bergbau, der damaligen Hight-Tech-Industrie; andererseits darf ein nennenswerter Einfluss auf die heutige transdisziplinäre Wissenschaft, die sich mit den globalen Konsequenzen des Klimawandels beschäftigt, getrost bezweifelt werden.

Eine Figur des Übergangs Humboldts
Vorstellungen zu Natur und Kosmos stammen aus der antiken Philosophie, waren rückwärtsgewandt und in vielem allzu sehr der Goethezeit verhaftet. Als Wissenschaftler wollte Humboldt die Natur einerseits vermessen; andererseits glaubte er, dass sie mit allen Sinnen zu erfahren sei. „Die Natur muss gefühlt werden“, schrieb er an Goethe, der ebenfalls überzeugt war, dass man die Natur nur so vollkommen verstehen könne. Tatsächlich beschrieb Humboldt sie poetisch wie ein Dichter und stellte sie illuster wie ein Maler dar.

Was bisher der von Literaturwissenschaftlern dominierten Humboldt-Forschung und in ihrem Gefolge Andrea Wulf gänzlich entging: wie grundlegend Humboldts Naturverständnis spätestens in seinem Todesjahr 1859, als Darwins epochales Werk „Über den Ursprung der Arten“ erschien, von dessen Theorie der Evolution durch natürliche Selektion abgelöst wurde, die die erste Darwinsche Revolution einleitete. Statt natürlicher Harmonie des Kosmos, einer „Wohlgeordnetheit“ der Welt, sehen wir seitdem eine äußerst dynamische und sich stetig wandelnde, vor allem aber eine unerbittlich auslesende Natur. Mit Darwin wurde das Erlöschen der Arten so selbstverständlich wie die Entstehung neuer Arten durch natürliche Zuchtwahl. Und so angenehm uns bis heute mit Humboldt der Gedanke ist, es gäbe diese Harmonie in der Natur und der Mensch hätte wenigstens einstmals in Harmonie mit ihr gelebt; es ist das eine wie das andere höchst zweifelhaft.

Statt einer überkommenen Heroisierung Humboldts wird es Zeit, die geläufigen Erzählmuster seiner Biographie aufzubrechen und zu erkennen, dass der kosmische Ansatz von Humboldts Naturverständnis nicht zukunftsfähig war und sein Weltbild längst veraltet ist. Seine Rolle ist weniger die eines Begründers der modernen Wissenschaft als vielmehr die einer Übergangsfigur von der frühneuzeitlichen Welt zur Moderne. Andrea Wulfs „Erfindung der Natur“ ist, nach der überzeichneten Romanfigur Daniel Kehlmanns, die weitere Erfindung eines Humboldts, den es so nicht gab. Den wahren Humboldt zu entdecken bleibt weiterhin die Herausforderung. 

Matthias Glaubrecht
Matthias Glaubrecht RC Hamburg ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Uni Hamburg und Leiter des Projekts „Evolutioneum“ am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB).

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