Standpunkt
Herbert, Rudi und wir
Der Mensch ist ein „zoon politikon“, Politik daher Teil des Lebens, aber nicht das Leben. Der Mensch will deshalb auch politikfreie Räume, zumindest politikferne. Manche mehr, andere weniger.
„Alles ist Politik“, es gebe nichts Unpolitisches. Das verkündeten die Wortführer der 68er, meiner „politischen Generation“. Schon damals misstraute ich dieser Behauptung. „Alles sei Politik“, hätten die lautstarken Halb-Erwachsenen ehrlicherweise sagen sollen. Es war nämlich ihr Wunsch, dass alles Politik sei.
Es ist historisch unschwer beweisbar, dass nicht jeder jederzeit jedes oder auch nur das eine oder andere politische Thema erörtern oder erstreiten möchte. Einen oder mehrere politikfreie, zumindest politikferne Räume will der Mensch. Manche mehr, manche weniger.
Rückgriff auf Herbert Marcuse
Der Mensch ist ein „zoon politikon“. Wäre er jedoch nur politisch, bliebe er eindimensional. Im vereinfachten 68er-Jargon nannte man das „Fachidioten“. Herbert Marcuse prägte den Begriff des „Eindimensionalen Menschen“. Herbert Marcuse zählte zu den geistigen Vätern der 68er. Er war aber erheblich lebensklüger und kultivierter als die meisten seiner Jünger, verabscheute deshalb jegliche Eindimensionalität und bekannte sich zur „revolutionären Macht der Ästhetik“. (Damals musste alles Gute „revolutionär“ sein.) Ästhetik, so der Lehrmeister, sei als Quasi-Ideal die denkbare, gedachte und gewollte Alternative zum Realen.
Ich erinnere mich noch genau: Freie Universität Berlin, Audimax, Juni 1967: Vehement und demagogisch widersprach Studentenführer „Genosse Rudi“ Dutschke dem „Genossen Herbert“. Wer hat gewonnen? Dutschke. Zwar konnte er Herbert Marcuse intellektuell nie das Wasser reichen, doch politisch hat „Rudi“ obsiegt. Selbst, nein gerade in vermeintlich hochbürgerlichen, hochetablierten Kreisen.
Zu diesen zählt gewiss die deutsche und österreichische Rotary-Welt. Doch auch hier vervielfachen sich die Stimmen derer, die (meist wohl unwissentlich) die Stimmung von Rudi & Co. verinnerlicht haben und „mehr Politik“ wollen.
Wenn Politik dominiert, wird die Totalität, also die Gesamtheit des Menschseins allein aufs Politische reduziert oder minimiert – wird das Politische gedanklich und gefühlt totalitär. Rotary lebt davon, dass Menschen aus vielen Lebens- und Schaffensbereichen zusammenkommen und keiner dominiert, was alle stimuliert. „Volkes Stimme“ und Stimmung will weniger Politik.
Bester Gradmesser hierfür ist das Programm unserer TV-Sender. Ihr Angebot ist eine Reaktion auf die „Markt“- (gleich: Zuschauer-)Nachfrage, und für die ist Politik (wie leider auch Kultur) „ein gars- tig Lied“. Sport, genauer: Fußball, und Krimis sind Trumpf. Hier und da eine Talkshow – mehr wegen des Gehakels als des Gehalts. Der Ruf nach „mehr Politik“ ist (nur?) in Deutschland ein Oberschichtenmerkmal. Dabei wird auch hier über Politik oft mehr geredet als gewusst. Die einen wissen, die anderen nicht, beide reden. Im Sinne einer klassischen Politikdefinition sind Rotary- ebenso wie Stammtisch-Reden über Politik nur scheinpolitisch, denn, so der „Klassiker“ Harold Lasswell, Politik sei: „Wer bekommt, was wie und wann?“
Begrenzter Horizont
Weder am Stammtisch noch bei Rotary finden direkte Verteilungskämpfe statt. Indirekte durchaus. Da wird nämlich um politische Stimmungen gekämpft, aus denen dann Wählerstimmen werden sollen. Politik ist ein Teil des Lebens, aber nicht das Leben. Je mehr Politik, desto weniger Rotary, sprich: desto begrenzter der Horizont.
Sollte ein Rotary Club, gar Rotary insgesamt auf Partei- oder Staatskurs schwenken, gliche das einer Selbstdemontage. Nicht nur das Thema „Rotary und Thomas Mann seit 1933“ liefert hierfür Anschauungsunterricht.
Rotary hat den Vorteil, eine Vielzahl unterschiedlicher Menschen und damit Menschenwirklichkeiten und Menschenwünsche zu versammeln. Dabei stellt man fest: Politisch ist er/sie fabelhaft, aber als Mensch unmöglich. Oder aber: Politisch finde ich sie/ihn unmöglich, aber als Mensch ist sie/er fabelhaft. So soll es bleiben! Das ist die Totalität des Lebens.
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10/2010
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