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Besser als zuvor

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Kinderarbeit in der Textilindustrie in Bangladesch: Kosten Kleidungsstücke bei international agierenden Modeketten nur wenige Euro, können sie unmöglich unter fairen und nachhaltigen Bedingungen produziert worden sein. © Ziaul Haque/Nurphoto/Picture Alliance

Stärker als früher wird Unternehmen von der Gesellschaft eine Ethikkompetenz zugeschrieben. Dieses Vorschussvertrauen gilt es durch Integrität zu mehren.

Klaus Michael Leisinger01.05.2022

Mangelndes Vertrauen in Politik und Wirtschaft ist immer bedauerlich – in Zeiten von Corona, zunehmender Digitalisierung und neuer struktureller Arbeitslosigkeit wirkt sich dieses Defizit besonders nachteilig aus, weil zur Bewältigung neuartiger Probleme innovative Formen der Zusammenarbeit und Lösungsansätze notwendig sind. Man kann nicht auf frühere Erfahrungen zurückgreifen. Dabei werden auch bei bestem Wissen und Gewissen Fehler nicht vermeidbar sein. Ohne ein breit aufgestelltes robustes Grundvertrauen in die Integrität der Verantwortungstragenden kommt es zu Schuldzuweisungen anstatt zu neuen, gemeinsamen Lösungsversuchen. Dadurch wird Innovation behindert.

Einmal im Jahr veröffentlicht das Kommunikationsunternehmen Edelman in seinem Trust-Barometer das Ergebnis der Umfragen in 28 Industrie- und Schwellenländern zum Sachverhalt, welcher Institution die Menschen vertrauen, nach bestem Wissen und Gewissen das Richtige zu tun. In den vergangenen zehn Jahren schnitten Unternehmen immer schlecht ab, kaum die Hälfte der Befragten traute ihnen in dieser Hinsicht über den Weg. Dass Regierungen und Medien noch schlechter abschnitten und einzig Nichtregierungsorganisationen besser dastanden, ist gleichermaßen beklagenswert. Misstrauen ist Sand im Getriebe einer jeden Gesellschaft.

Doch nun – coronabedingt? – kommt eine unerwartete Botschaft: Nach den Umfrageergebnissen des EdelmanTrust-Barometers 2021 sind 68 Prozent der Menschen in 28 Ländern der Ansicht, Führungskräfte der Wirtschaft müssten mehr Verantwortung übernehmen, wenn Regierungen nicht in der Lage sind, soziale Probleme zu lösen. Zwei Drittel der befragten Menschen sehen Unternehmen als Teil der Lösung, nicht als Teil des Problems. Zum ersten Mal überhaupt wird Unternehmen mehrheitlich Lösungskompetenz und Ethikkompetenz zugeschrieben. Dieses Vorschussvertrauen gilt es, durch Integrität im geschäftlichen Handeln zu nutzen und zu mehren.

Vertrauen als Produktionsfaktor

Vertrauen ist das im Voraus gewährte Zutrauen von Menschen in die Redlichkeit, das Wohlwollen und die Sachkompetenz anderer. Wo man sich darauf verlassen kann, dass andere dieselben Werte anerkennen wie man selbst und entsprechend handeln, sind komplizierte Verträge und das ausschließliche Abstellen auf anonyme bürokratische Rechtsverfahren überflüssig. Wo Menschen mangels Sachwissen und Erfahrungen nicht wissen können, welche Handlungsweisen richtig sind, wirkt Vertrauen komplexitätsreduzierend. Man muss nicht mehr jedes Detail einer Entscheidung kennen und verstehen, man kann sich auf die Redlichkeit der Verantwortlichen verlassen.

Nachhaltige Entwicklung, wie sie als Agenda 2030 von der Internationalen Gemeinschaft vereinbart wurde, ist ohne technische (und gesellschaftliche) Innovationen schwieriger, wenn überhaupt erreichbar. Da die Entwicklung komplexer Technologien hohe finanzielle Mittel, Risikobereitschaft und einen hohen Organisationsgrad erfordert, findet sie heute meist in Unternehmen statt. Wo aber robustes Vertrauen in die Integrität der Wirtschaft fehlt, nimmt die Regulierungsdichte zu – die Risikobereitschaft jedoch ab. Integrität im geschäftlichen Handeln verhindert dies.

Voraussetzung für langfristigen Erfolg

Integrität bedeutet Redlichkeit, Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Anständigkeit. Integres Handeln im geschäftlichen wie im privaten Umfeld ist Handeln in Übereinstimmung mit den Werteüberzeugungen und Idealen, denen man sich unumstößlich verpflichtet fühlt. Angesichts der Dimension und Komplexität der heutigen Probleme umfasst Integrität nicht nur wertegeleitetes Handeln, sondern auch Handeln in Übereinstimmung mit dem Wissen über die sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Konsequenzen des eigenen Tuns. Integres Handeln aller Menschen und nicht nur solcher, die in Unternehmen arbeiten, ist daher proaktives Handeln zur Überwindung von Hindernissen, die einer weltweit nachhaltigen Entwicklung im Wege stehen.

Integres Handeln ist verantwortungsethisches Handeln im Sinne von Max Weber: Der Handelnde fühlt sich für die Folgen des eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, verantwortlich und wälzt sie nicht auf andere ab. Wer sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken Bangladeschs ausspricht oder gegen qualvolle Haltungs- und Transportbedingungen von Tieren, bringt seine Werte und sein Wissen auch mit seiner Kaufkraft zum Ausdruck: Billigjeans und Billigschnitzel stehen nicht auf dem Einkaufszettel. Professionelles und privates Handeln wider besseres Wissen ist ein Mangel an persönlicher Integrität.

Führungseliten haben jedoch eine besondere Verantwortung. Sie haben die nicht delegierbare Verantwortung für die Ausrichtung der Unternehmenspolitik und Schaffung einer integren Unternehmenskultur. Sie definieren die verbindlichen Werte und leben sie vor; sie sorgen für ethisch angereicherte Anstellungs-, Beförderungs- sowie Anreiz- und Entlohnungssysteme. Die von Herbert Taylor vor fast 90 Jahren entwickelte rotarische Vier-Fragen-Probe sowie die vom Unternehmer Karl Schlecht (RC Stuttgart-Flughafen-Messe) erweiterte Version bieten im Zweifel hilfreiche Prüfkriterien.

Aber: Auch in Unternehmen sind ethische Ansprüche leichter formuliert als in konkreten Situationen umgesetzt: Das Sollen und das Wollen hängen von der ethischen Musikalität der jeweiligen Verantwortungsträger ab; das Können im Sinne der konsequenten Umsetzung unter Wettbewerbsbedingungen hängt jedoch auch von politischen Rahmenbedingungen ab, auf die selbst aufgeklärte Führungspersönlichkeiten wenig Einfluss haben. Eingelebte Denk- und Verhaltensweisen und ein Netz kurzfristiger Interessen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik machen nachhaltige Veränderungen zu einem langwierigen und komplexen Prozess mit kleinen Schritten.

Und dennoch: Was man als Einzelperson bei bestem Willen kurzfristig verbessern kann, mag bei ambitionierten Menschen Ernüchterung auslösen – sollte es aber nicht, denn das Ergebnis der Addition der kleinen Fortschritte über längere Frist sieht völlig anders aus. Heute sind zum Beispiel in der Informations- und Kommunikationstechnologie, der präventiven und kurativen Medizin, aber auch bei der Entwicklungszeit von Impfstoffen Dinge möglich, die noch vor zehn Jahren als Utopie galten. Warum sollte es nicht auch im Lichte der gegenwärtigen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Krisen möglich sein, nach Corona durch ganzheitlich definierte Integrität ein „building back better“ einzuleiten, das unsere Gesellschaft menschenfreundlicher, gemeinwohlverträglicher und zukunftssichernder macht?

In der Zukunft wird die gesellschaftliche Akzeptanz von Unternehmen zusätzlich zu ökonomischen Spitzenleistungen vermehrt daran gemessen, in welchem Ausmaß sie den sozialen, ökologischen und politischen Erwartungen der Menschen gerecht werden. Obwohl man im Kantschen Sinne richtiges Handeln um seiner selbst willen tun und nicht vom Beifall anderer abhängig machen sollte, wäre es wünschenswert, wenn Akteure der Zivilgesellschaft und der Politik vorbildliches Handeln als solches hervorheben würden. Das dadurch verliehene moralische Reputationskapital würde zusätzliche Verantwortungsbemühungen belohnen und dadurch mit der Zeit eine neue Wettbewerbsebene schaffen. Das wiederum läge im Interesse aller, deren Anliegen eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung ist.

Wir wissen viel mehr, als wir umsetzen, und könnten viel mehr, wenn wir denn wollten: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.


Buchtipp

 

Klaus Michael Leisinger

Integrität im geschäftlichen Handeln,

Friedrich Reinhardt Verlag,

432 Seiten, 29,80 Euro

Klaus Michael Leisinger
Klaus Michael Leisinger ist Gründer und Präsident der Stiftung Globale Werte Allianz, ehemaliger Präsident und CEO der Novartis Stiftung für Nachhaltige Entwicklung, Professor (em.) an der Universität Basel und Senior Advisor von Uno-Institutionen.  globalewerteallianz.ch