Rotary Entscheider
„Das 21. Jahrhundert wird das der Chinesen“
Brexit, Corona, Minimierung des CO2-Ausstoßes – die Liste der Herausforderungen der Logistikbranche ist lang. Karl Gernandt über die Gegenwart, die Zukunft und seine bewegte Zeit als HSV-Aufsichtsratschef
Die Hamburger Hafencity ist immer einen Besuch wert, aber von oben sieht man mehr. Im großen Konferenzraum des Logistikdienstleisters Kühne + Nagel liegt einem die ganze Stadt zu Füßen – hier die Elbphilharmonie, da der Michel, dort die Altstadt. Dann betritt Karl Gernandt den Raum, trägt eine blaue Rotary-Maske, wirft sie vor sich auf den Tisch und sagt: „Ich find die Dinger cool.“
Herr Gernandt, die Logistikaktivitäten gelten als Frühindikator für die Konjunktur. Wie geht es der Weltwirtschaft?
Die Welt hat auch schon vor dem Ausbruch der Krise begonnen, sich sehr differenziert zu entwickeln. Es gab traditionell zwei große Handelsrouten, die transatlantische und den Fernost-Handel, der letztlich auf Marco Polo zurückgeht, den Begründer der Seidenstraße zwischen Europa und Asien. Das hat sich in den letzten zwei Dekaden deutlich verändert, denn der Handel im Pazifikraum sowie der innerasiatische Handel haben eigene Dynamiken entwickelt. Während der Handel innerhalb Asiens aktuell oberhalb der Werte von 2019 liegt, stockt der Transatlantikhandel wegen eines geringeren Konsums und geringerer Produktion auf beiden Seiten des Atlantiks. In Asien geht das Leben inzwischen normal weiter, die Menschen konsumieren und haben sich an einen Alltag mit Masken gewöhnt.
Wie geht es in Europa weiter?
Die Antwort ist nicht leicht. Wir haben drei Herausforderungen, eine medizinische, eine ökonomische und eine politische, und alle drei reagieren dynamisch auf die aktuellen Covid-19-Entwicklungen. Europa und die USA sind noch stark verunsichert, politisch wie wirtschaftlich. Wann Europa wieder auf das Transportvolumen von 2019 kommen wird, ist schwer zu sagen. Aber Panik ist nicht notwendig. Die Wirtschaft funktioniert!
Seit 2018 gibt es die EU-Asien-Konnektivitätsstrategie. Sie soll ein europäisches Pendant zur chinesischen Seidenstraßeninitiative sein. Haben Sie das Gefühl, dass sich da etwas bewegt?
Hier bin ich ziemlich desillusioniert. Politische Initiativen aus Brüssel kommen leider wieder nicht in der Realwirtschaft an. Ernster nehme ich die „OneBelt-One-Road“-Initiative der Volksrepublik China, die die Machtachsen in der Welt nachhaltig verschieben wird.
Inwiefern?
China investiert hohe Summen in die Infrastruktur in strategisch wichtigen Ländern der Welt und ändert dadurch fundamental das Netzwerk des internationalen Transports und Handels. Das 21. Jahrhundert könnte das Jahrhundert der Chinesen werden, so wie das 20. Jahrhundert das der Amerikaner war. Hier waren es amerikanische Produkte, die die Welthandelsströme bestimmten. Es entstanden globale Brands im Konsumgüterbereich. Meine Jugend war geprägt von Levi’s Jeans, McDonald‘s oder Cornflakes. Die Chinesen hingegen nehmen mit ihrer Investitionsdynamik Einfluss über die Infrastruktur, was ich für geschickt und nachhaltig halte. Wenn Sie mit Vertretern etwa aus Ostafrika sprechen, empfinden sie dies als positive Hilfe. Alle können sich an dem steigenden Wohlstand in der Welt beteiligen. Diese Rolle der Globalisierung und der Logistik, nämlich immer mehr Ländern wirtschaftliches Wachstum zu ermöglichen, ist wichtig zu erkennen.
Die Logistikbranche trägt sieben Prozent zum weltweiten CO2-Ausstoß bei. Der Unternehmenswebsite von Kühne + Nagel ist zu entnehmen, dass Sie seit diesem Jahr CO2-neutral sind bei eigenen Emissionen. Wie wurde das erreicht?
Das wird durch Reduktion und Kompensation ermöglicht, und dafür wurde das ganze Unternehmen durchleuchtet. Ebenso setzt Hapag Lloyd beispielsweise modernste Schiffe ein, die mit vergleichsweise sauberen Treibstoffen unterwegs sind, und den Kunden wird auch die Möglichkeit eröffnet, den Transport
für sie CO2-neutral zu gestalten. Für uns ist es elementar, die gesellschaftliche Akzeptanz für die Art und Weise, wie wir unsere Dienstleistung erbringen, zu erhalten. Dies ist für mich eine generelle Verpflichtung aller Manager in allen Branchen des Wirtschaftslebens.
Ab 2021 sind für alle Waren, die die Grenzen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU überschreiten, vollständige Einfuhrkontrollen erforderlich, und damit einhergehend auch eine Zollanmeldung. Was bedeutet das für den Warenfluss?
Das schafft eine neue und unnötige Komplexität, die wir in Europa längst hinter uns gelassen hatten. Es wird zu einem Mehraufwand in der Logistik führen und wahrscheinlich zu einer gewissen Marktisolierung der Briten kommen. Dies ist die notwendige Folge nationalistischer und populistischer Tendenzen einzelner Politiker. Diese in vielen Ländern zu beobachtende Entwicklung der Isolation ist für mich ein fundamentaler Rückschritt. Wir geben damit Freiheiten auf, die global längst grundlegend akzeptiert waren. Und darum ist Rotary für mich auch so brandaktuell, weil es auf allen Ebenen das Miteinander fördert. Rotary ist Treiber einer gleichberechtigten Gesellschaft und ich meine, das könnte Rotary ruhig noch engagierter kommunizieren.
Kühne + Nagel ist Weltmarktführer im Bereich der Seefracht, hat aber keine eigenen Schiffe. Ihr Firmenlogo fährt nun mit Boris Herrmann auf der Vendée Globe trotzdem um die Welt. Warum?
Kühne + Nagel ist die Nummer zwei in der globalen Luftfracht und Nummer eins in der Seefracht, wir haben aber keine eigenen Flugzeuge und Schiffe. Wir verpflichten uns damit zur Neutralität und garantieren den Kunden, den besten Deal im Transportmarkt zu erzielen. Dass Boris Herrmann unser Logo auf dem Hauptsegel seines Schiffs bei der in wenigen Tagen startenden Einhandregatta um die Welt führt, heißt, dass wir auf unsere Umweltaktivitäten aufmerksam machen wollen. Er ist ein wunderbarer Vermittler, der nicht nur sehr kompetitiv segeln kann, sondern gleichzeitig wichtige Daten über den ökologischen Zustand der Weltmeere sammelt. Hierzu nutzt er mehrere Kilogramm schwere Messgeräte vom Max-Planck-Institut und bringt Proben für Forschungszwecke mit. Das passt zu unserem Umweltprodukt Sea Explorer, anhand dessen Kunden sich aussuchen können, wie CO2-optimiert Waren per Seefracht transportiert werden.
Welche Rolle spielt Sportsponsoring in der Unternehmenskommunikation?
Keine. Es gibt bei uns kein Sport-Sponsoring – auch nicht beim Hamburger SV.
Vielen Menschen sind Sie aus Ihrer Zeit als HSV-Aufsichtsratschef ein Begriff. Trauen Sie sich noch, einen HSV-Schal zu tragen?
Ja, natürlich, aber es gab Phasen, da habe ich mich unsicher gefühlt, zum Beispiel als wir das erste Mal in der Relegation spielen mussten. Damals hat man unseren wirtschaftlichen Sanierungsversuch mit dem sportlichen Niedergang verbunden und für einige Anhänger war ich die Hassfigur. Das war nicht so lustig.
Sie selbst haben maßgeblich daran mitgewirkt, im Mai 2014 „HSV Plus“ zu realisieren, also den Profifußball in eine Kapitalgesellschaft auszugliedern. Wieder einmal war viel frisches Geld da, wieder einmal ist der Effekt verpufft. Warum?
Der Schritt der Ausgliederung war alternativlos, aber kam wohl zu spät. Aber ich erkenne auch, dass wir die neuen finanziellen Mittel nicht immer richtig eingesetzt haben. Unterschätzt habe ich in jedem Fall die Vielzahl der Kräfte, die bis heute in diesem Umfeld wirken. Ich wünsche dem HSV, dass er sich in Zukunft weniger an Einzelinteressen orientieren wird, sondern die große Linie konstant verfolgen kann. Der HSV emotionalisiert allerdings die Menschen so sehr, dass leider schnell eine Klientelpolitik entstehen kann.
Wenn Sie heute wieder Aufsichtsratschef wären wie von 2014 bis 2016, was würden Sie ändern?
Ich habe mir das Ziel gesetzt, niemals meine Nachfolger zu kommentieren. Aber was ich mir wünschen würde, wäre, dass alle Beteiligten sich mehr Vertrauen entgegenbringen und mehr Geduld haben.
Was macht Ihnen Mut für die Zukunft des HSV?
„Jede Krise ist auch eine Chance“, dieser Spruch fällt mir dazu ein. Ich freue mich, dass die Achse Aufsichtsrat—Vorstand heute gut funktioniert. Alle stehen auf einer Linie und keiner schubst – das war nicht immer so. Was ich an Jonas Boldt und Marcell Jansen schätze, ist, dass sie sich wirklich für den Verein und ohne Eigeninteressen einsetzen. Der HSV sollte unter diesen beiden Managern wieder eine gewisse Demut vor dem Leistungsstreben im Sport hinbekommen. Das ist uns, Dietmar Beiersdorfer und mir, damals nicht schnell und gut genug gelungen. Die Leistungskultur war verlorengegangen und eine Homogenität in der Mannschaft zu wenig erreicht.
Welcher Club macht mehr Spaß, der HSV oder Ihr Rotary Club?
Mein Rotary Club, weil seine Mitglieder immer konstruktiv miteinander arbeiten und mich jederzeit inspirieren.
Das Gespräch führte Björn Lange.