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Ein Blick auf die Realität der Sozialen Marktwirtschaft

Der Januskopf des Wachstums

Karl Heinz Paqué05.10.2011

Es ist merkwürdig: Gerade mal zwei Jahrzehnte nach dem krachenden Zusammenbruch der Planwirtschaft hat ihr Gegenentwurf, die Marktwirtschaft, einen Tiefpunkt der Akzeptanz und Sympathie in unserer Gesellschaft erreicht. Ihr wird Schlimmes vorgeworfen: Zerstörung von Klima und Umwelt, Umverteilung von Arm zu Reich, Finanzkrisen aus Gier und Profitsucht. Was ist dran an diesen Vorwürfen?

Wirtschaftswachstum hat zwei Seiten, eine gute und eine schlechte. Die gute ist der Zugewinn an neuen Gütern und Dienstleistungen, die täglich durch Innovationen aus den Forschungsabteilungen der Unternehmen hervorgebracht werden. Längst geht es dabei in Deutschland vor allem um qualitatives Wachstum. Kaum jemand wäre bereit, sein heutiges Auto gegen das weit weniger umwelt- und bedienungsfreundliche Vorgängermodell von vor zwanzig Jahren zu tauschen. Kaum jemand wünscht sich die alte Schreibmaschine zurück, anstelle des Laptops. Kaum jemand will auf das Handy verzichten und noch per Festnetz telefonieren. Wirtschaftswachstum ist eben vor allem Wachstum des Wissens, und dies kommt nicht nur der Wirtschaft, sondern vor allem den Menschen zu Gute. Übrigens ganz besonders den Bedürftigen, denn auch die Fortschritte bei der medizinischen Behandlung schwerer Krankheiten sowie bei Hör-, Seh- und Bewegungshilfen sind das Ergebnis technischer Innovationen, die in erster Linie kommerziell motiviert sind.

Die Kehrseite des Wachstums ist der Verbrauch an natürlichen Ressourcen, von Kohle, Öl und Gas über die Verschmutzung von Wasser und Luft bis zur Veränderung des Klimas durch Emissionen von Treibhausgasen. In dieser Hinsicht hat es allerdings hierzulande massive Fortschritte gegeben: Die Flüsse in Deutschland sind heute viel sauberer als vor dreißig Jahren, und der Smog der Industriestädte gehört der Vergangenheit an. Die heutigen Umweltprobleme sind vor allem globaler Art: die Überfischung der Meere, die weltweite Knappheit an Trinkwasser und der Klimawandel, soweit er vom Menschen überhaupt steuerbar ist. Diese Probleme sind deshalb auch nur global zu lösen. Denn die Dynamik der künftigen Veränderung wird nicht in Deutschland bestimmt, sondern in China, Indien, Indonesien und Brasilien, um nur die größten Schwellenländer der Welt zu nennen, die zusammen fast die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen. Diese Länder wachsen schnell, viel schneller als wir. Und deren (und nicht unser) Ressourcenverbrauch wird über unser globales Schicksal entscheiden. Soll Umwelt- und Klimapolitik global etwas leisten, so muss sie deshalb auch global konzipiert sein. Daran fehlt es noch. Der Grund ist einfach: Die großen Schwellenländer der Welt sind gerade erst dabei, die bitterste Armut hinter sich zu lassen. In dieser Phase der Entwicklung liegt ihre politische Priorität noch eindeutig auf der materiellen Versorgung der Bevölkerung, so wie in Deutschland bis in die 1970er Jahre. Aber dies wird sich ändern, was im Ansatz schon im heutigen China zu beobachten ist. Dort werden riesige Investitionsprogramme im Bereich erneuerbarer Energien aufgelegt; und die Verwaltungen der großen Städte beginnen, gegen die urbane Umweltverschmutzung vorzugehen. Es wird nicht lange dauern, dann entsteht auch in China (und anderswo) jene Wertschätzung der Umwelt, wie sie sich in den letzten 30 Jahren in Deutschland entwickelt hat. Erst dann wird es möglich sein, zu wirksamen internationalen Abkommen zu kommen.

Arme immer ärmer?

Tatsächlich wird das rasante Wirtschaftswachstum in China, Indien, Indonesien, Brasilien und anderen großen Schwellenländern zu der entscheidenden Veränderung des 21. Jahrhunderts. Denn im Kern heißt dies: Mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung verlassen endlich den Zustand bitterer Armut und haben die Chance, zu bescheidenem Wohlstand zu kommen. Global gesehen ist deshalb nichts falscher als die beliebte Behauptung, die Armen würden ärmer und die Reichen reicher. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Mit der Industrialisierung in Europa und Nordamerika im 19. und 20. Jahrhundert entstand die größte Distanz des globalen Wohlstands zwischen Arm und Reich, die es jemals in der Weltgeschichte gegeben hatte. Genau diese Distanz beginnt, zügig zu schrumpfen, und zwar nicht, in dem die Reichen verlieren, sondern in dem die Armen gewinnen.

Eigentlich eine höchst erfreuliche Entwicklung. Die größten Verlierer könnten allerdings innerhalb der reichen Nationen zu finden sein. In der neuen weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung ist die Rolle der deutschen Wirtschaft klar vorgezeichnet: Wir werden unsere Spitzenposition nur halten können, wenn wir noch stärker auf Innovationskraft setzen. Nur intelligente Produkte können uns helfen, in Wertschöpfung und Einkommen einen Vorsprung zu bewahren. Deshalb wird hierzulande die Bildung in all ihren Facetten eine so entscheidende Rolle spielen – von der Universität bis zur dualen betrieblichen Qualifikation. Wer da nicht mithalten kann, der wird zumindest im eigenen Land in der Einkommensverteilung an Boden verlieren. Diese Entwicklung hat sich in den letzten Jahren schon abgezeichnet, und sie macht zu Recht Sorgen. Es droht auf Dauer eine gespaltene Gesellschaft: nicht mit absoluter Armut, zumindest nicht im globalen Maßstab, wohl aber mit einer Gruppe von Menschen, die es schwer hat, am Rande des Wohlstands gesellschaftlich mitzuhalten. Die demographische Entwicklung wird dieses Problem noch akzentuieren: Mit dem Ausscheiden der Babyboom-Generation im Laufe der nächsten Dekade werden Fachkräfte extrem knapp. Ihre Löhne werden deshalb steigen, und nur wenn es gelingt, die Lücken an Qualifizierten zu füllen, wird eine weitere Spreizung der Einkommen zu vermeiden sein. Für Politik und Wirtschaft liegt darin eine große Herausforderung: Sie müssen dafür sorgen, dass auch Schwächere eine Ausbildungschance erhalten, qualifizierte Ausländer zuwandern und Ältere länger arbeiten. Nicht mehr der Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit wird im Zentrum stehen, sondern die Mobilisierung und Motivation einer Erwerbsbevölkerung, die im Trend schrumpft. Nur dann kann die Soziale Marktwirtschaft auch „sozial“ bleiben – im Sinne von Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“.

Funktionierende Finanzmärkte

Sollen Wirtschaftswachstum und Strukturwandel nachhaltig sein, bedarf es funktionierender Finanzmärkte. Die Globalisierung hat in dieser Hinsicht die Welt radikal verändert, im Guten wie im Schlechten. Tatsächlich ist es heute besser denn je möglich, für Investitionsprojekte eine Finanzierung zu finden, zumal die riesigen Ersparnisse der großen Schwellenländer nach Möglichkeiten der Anlage in Industrieländern suchen. Dies hat geholfen, seit fast zwei Jahrzehnten die Zinsen niedrig zu halten. Es hat gleichzeitig aber viele zu fahrlässigem Finanzgebaren verführt: Die Staaten bauten gigantische Schuldenlasten auf, und die privaten Kreditnehmer sorgten für Immobilienblasen. In Deutschland war es vor allem der Staat, der unsolide wirtschaftete. Die richtige politische Konsequenz war die Einführung einer Schuldenbremse. Im krisengeschüttelten Europa wird diese immer mehr zum Vorbild. Dies ist gut so, genauso wie die scharfen Maßnahmen der Haushaltskonsolidierung, die jetzt in den Krisenländern aufgelegt werden. Es wird aber nicht reichen. Es bedarf vielmehr eines Rahmens der Finanzmarktregulierung, der es erschwert, hohe Risiken in der Gewissheit einzugehen, dass letztlich die Verluste doch irgendwie sozialisiert werden. Höhere Eigenkapitalquoten für Banken sowie die Rückkehr zu Vorschriften der Bilanzklarheit und Bilanzwahrheit mit angemessener Abbildung aller Risiken sind dabei unabdingbare Schritte. Seit dem Beginn der Weltfinanzkrise 2007/08 wird an all diesen Reformen gearbeitet. Sie werden zu Ergebnissen führen, die für mehr Nachhaltigkeit sorgen. Aber sie werden natürlich nicht jene unvermeidbaren Risiken beseitigen können, die nun einmal zu einer dynamischen Marktwirtschaft gehören. Insofern muss man vor illusionären Hoffnungen warnen: Krisen gehören zur Geschichte der Marktwirtschaft, genauso wie Innovationen, Wachstum und boomartige Übersteigerungen. Und wer jede Krise vermeiden will, der sorgt letztlich für das Ende des Lernens. Es ist in einer Volkswirtschaft eben nicht viel anders als bei einem einzelnen Menschen: Wer niemals eine Krise durchlebt, der hat kaum Chancen auf eine Weiterentwicklung seiner Persönlichkeit.

Karl Heinz Paqué
Professor Dr. Karl Heinz Paqué war von 2002 bis 2006 Finanzminister in Sachsen-Anhalt und ist seit September 2018 Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Außerdem ist er Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft sowie Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Als Herausgeber veröffentlichte er zuletzt „Der Untergang eines Imperiums“ (Springer Gabler, 2015). ovgu.de

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