Warum die Bürger das Vertrauen in die Regeln und Institutionen der parlamentarischen Demokratie verlieren
Die Arroganz der Eliten
Wir haben keine Krise des Kapitalismus. Kapitalismus war und ist immer auch Krise, das gehört zu seinem Wesen, man sollte sich daran gewöhnt haben, schließlich überwiegen seine Vorzüge. An der derzeitigen Lage sind auch keine Blutsauger und Vampire schuld, kein Raubtierkapitalismus plus Heuschreckengeschwader, keine „Märkte“ oder andere gesichtslose Mächte, sondern Menschen, die es gut meinen. Der Weg in den Abgrund ist mit besten Absichten gepflastert. Die Staatsschuldenkrise hat Name und Adresse, denn sie ist politisch verursacht. Es war die Billigzinspolitik der amerikanischen Notenbank, die vorgeführt hat, wie man mit besten Absichten katastrophale Wirkungen erzeugt. Jeder Amerikaner sollte sich sein Häuschen leisten können, lautete die politische Vorgabe. Das verlockte auch die zum Schuldenmachen, die es sich nicht leisten konnten. Das Ergebnis ist bekannt. Staatenlenker sind nicht weniger verführbar als Privatmenschen, im Gegenteil. Nicht nur in Griechenland, auch in Deutschland baute man an der Kulisse, die Wachstum und Wohlstand für alle vorgaukelt. Mittlerweile schiebt der deutsche Staat zwei Billionen Euro Schulden vor sich her. Auch wenn Politiker gern von der „Zukunft unserer Kinder“ schwallen: die ist mit einer rein gegenwartsorientierten Politik längst verbraten. Man lasse sich nicht einreden, das liege am Starrsinn deutscher Rentner. Und nun Griechenland. Und Spanien und Italien und ein Rettungsschirm nach dem anderen. Und wir in Deutschland die Retter – denn die EU ist der Euro ist Europa. So der Appell. Und an Europa will sich niemand versündigen – ebensowenig wie an der Natur oder der Menschheit oder dem Klima oder wie die großen Werte noch heißen, auf die sich beruft, wer erpressen will.
Vernunft und Vertrauen
Mehrere Stockwerke tiefer, auf der Ebene wirtschaftlicher Vernunft, stellen sich die Dinge natürlich anders dar. Es ist wenig ratsam, gutes Geld verlorenem hinterher zu werfen. Auch eine Insolvenz wäre nicht so sehr für Griechenland schlimm, das damit seine Schulden los wäre, sondern für seine Gläubiger, die den Verlust jedoch längst eingepreist haben. Selbst der Austritt Griechenlands aus der EU wäre kein Debakel. Und sollte Deutschland wirklich ohne die EU nicht lebensfähig sein? Was ist dann mit der Schweiz? Ohne den Euro? Was ist dann mit Großbritannien? Und nein, auch der Frieden in Europa hängt nicht von der EU in ihrer heutigen Form ab. Und dennoch: mir scheint der Preis für die Rettung Griechenlands schon jetzt viel zu hoch zu sein, allerdings nicht in barer Münze, sondern als kaum zu ermessender Schaden, was das Vertrauen in Regeln und Institutionen und nicht zuletzt in die repräsentative Demokratie betrifft. An unseren Staatsschulden sind nicht die Banken schuld, sondern die Politiker, die sich ihrer Kredite bedient haben. Wer sich die Zahlen des Statistischen Bundesamts anschaut, weiß, dass der deutsche Staat kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem hat. Niemand will einem prosperierenden Gemeinwesen einen Kredit auf die Zukunft verwehren, das wäre kurzsichtig. Der Bund der Steuerzahler aber kann jedem interessierten Bürger lang und breit vorerzählen, wieviele dieser „Investitionen“ nicht der Zukunft, sondern rein der Gegenwart dienten – man denke an „Rentengarantien“ kurz vor einer wichtigen Wahl. Da darf der Bürger schon mal fragen, ob mit seinen Steuergeldern achtsam umgegangen worden ist, ohne dass er sich als Egoist beschimpfen lassen muss.
Und doch: Es geht nicht ums Geld allein. Es geht um Vertrauen. Dass wir überhaupt über „Rettungsschirme“ reden, verdankt sich eklatantem Rechts- und Vertragsbruch. Die No-Bailout-Klausel, einst das Sine qua non der deutschen Emissäre bei den EU-Verhandlungen, ist im Handstreich erledigt worden. Jetzt steht der nächste Schritt zur Transferunion an. Und dabei wäre es Kanzlerin und Finanzminister offenbar am liebsten, die Entscheidung über große und steigende Beträge dem Haushaltsrecht des Parlaments zu entziehen.
Kein Respekt vor dem Recht
Das sei pragmatisch sinnvoll, weil womöglich schnell gehandelt werden müsse? Wer’s glaubt. Die Kanzlerin hat mehr als einmal gezeigt, dass sie es mit Recht und Gesetz nicht so genau nimmt, wenn sie glaubt, sich auf einen gefühlten Notstand berufen zu können. Der Bürger soll sich zwar, siehe Stuttgart 21, mit allem möglichen abfinden, solange es nur regelgerecht entschieden wurde. Die Kanzlerin aber erklärt Beschlusslagen schon mal zu Makulatur, wenn’s passt – siehe den Schnellausstieg aus der Atomkraft kurz vor der Wahl in Baden-Württemberg. Wenn sie schon nicht als Klimakanzlerin mehr glänzt – ein Thema, das sie längst abgeschrieben hat – dann will Angela Merkel doch wenigstens als Kanzlerin der Energiewende in die Geschichtsbücher eingehen. Besser noch: als Euroretterin. Egal wie. Merkels Freude am Regelbruch zerstört Vertrauen – auch, dass nur wenige wagen, sich ihr zu widersetzen. Die Axt liegt an der Wurzel der repräsentativen Demokratie – und alle spüren es. Die größte Partei hierzulande ist die der Nichtwähler, und das sind nicht die bloß Politik“verdrossenen“, die man mit dem Appell an ihre Bürgerpflicht wieder an die Urne treiben könnte. Es sind auch diejenigen, die sich von keiner der Parteien und Politiker mehr repräsentiert fühlen. Denn wir haben ja noch nicht einmal eine kräftige Opposition. Die Kanzlerin braucht für die elementare Entscheidung über diese und künftige Rettungsschirme keine Kanzlermehrheit, wie Leute behaupten, die noch an alte Sitten und Gebräuche glauben. Es reicht, dass SPD und Grüne mit ihr stimmen würden: für das Unvernünftige, was links, wo angeblich das Herz schlägt, zum Gefühlsbestandteil deutscher Politik gerechnet wird. Die hochmoralischen Stichworte heißen: Frieden, Vision Europa, Solidarität. Und Deutschland an vorderster Front: wegen der Vergangenheit. Als ob die sich erledigt hätte, wenn das Land im Vereinigten Europa ein- und untergegangen wäre.
Die ewige Vergangenheit
„Die Vergangenheit“ ist ein besonders unwürdiges Mittel aus dem Giftschrank der Überredungskunst. Dass die verschreckten Griechen auch mal mit dem Hakenkreuz fuchteln – gut, das sei ihnen verziehen. Aber wenigstens wir selbst sollten Invektiven wie „Berliner Diktat“ oder „Deutschland über alles“ von uns abperlen lassen. Doch man wird den Verdacht nicht los, dass sich auch deutsche Politiker nicht ungern des Generalverdachts gegen „die“ Deutschen bedienen. Wenn man sie „wegen Auschwitz“ zum Engagement im Kosovo überreden kann, wird man ihnen doch wohl noch Opfer für Europa aufschwatzen können, der Vergangenheit wegen, weshalb Deutschland „eingebunden“ gehört, oder? Tatsächlich steht ja das „Einbinden“ und Unschädlichmachen eines womöglich zu mächtigen Deutschlands am Beginn der deutsch-französischen Verabredung. Auch ihre Zustimmung zur Wiedervereinigung musste von den europäischen Nachbarn solcherarts erkauft werden. Ein Mitspracherecht der Deutschen war damals nicht vorgesehen – und ist es heute erst recht nicht. Auch nicht von den Grünen, die nach Volksentscheiden nur rufen, wenn sie sich davon eine in regulären Wahlen nicht erzielte zusätzliche Legitimation erhoffen. Die Kanzlerin exekutiert den gefühlten Volkswillen nur, wenn ihr der Schaden gering zu sein scheint. Im Übrigen sprechen sie alle warnend von „Populismus“, wenn jemand dem Volk „nach dem Munde“ redet, dem großen Lümmel, dem Stammtischpack. Dabei hat längst Stimmungsdemokratie das Prinzip der Repräsentation ausgehöhlt, worüber sich ausgerechnet die beklagen, die am lautesten nach Partizipation zu rufen pflegen, wenn es gerade passt. Klar ist das „Volk“ wetterwendisch, sieht oft nicht weiter als bis zum nächsten Kirchturm, will kein Kohlekraftwerk und keine Hochspannungsmasten in seiner Nähe haben und wird trotzdem beim Wort „Atom“ schon hysterisch. Das ist sein verdammt gutes Recht. Doch auch im Volk blickt man über den Tellerrand, kann rechnen und gewinnt das berechtigte Gefühl, dass seine Eliten es einerseits populistisch bedienen, um es andererseits über die längst vonstattengehende Selbstermächtigung zu täuschen. Wenn die repräsentative Demokratie sich in der Debatte über das, was zuvörderst Deutschland nützt und darüber hinaus auch Europa frommt, nicht bewährt, wenn der Bürger sich nicht in seinen vernünftigen Interessen repräsentiert sieht, erleiden alle Schaden. Denn die Stunde der Wahrheit kommt. Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 macht unter Absatznummer 227 klar, dass die Umwandlung Deutschlands in einen europäischen Bundesstaat von der Zustimmung des Volkes abhängt. Unsere Politiker fürchten sich zu Recht davor. Denn je länger das unwürdige Spektakel sich hinzieht, desto mehr leidet das Ansehen aller Parteien. Und das der repräsentativen Demokratie, und das ist weit schlimmer.