Entscheider
„Mut zur Revision von Entscheidungen haben“
Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, über Lehren aus der Finanzkrise, den Brexit und die Stimmung bei den Unternehmen
Sein Büro sei neuerdings „eine Art Coworking-Space“, sagt Michael Hüther. Gerade ist die neue Holzplatte für den Arbeitstisch geliefert worden, an dem nun bequem der Chef sitzt und fünf Kolleginnen und Kollegen Platz finden. An der Wand ein großer Bildschirm, außerdem Tuschezeichnungen seines Sohnes. Die Familie, sagt Hüther, sei der Teil des Lebens, an dem alles hänge und der Balance für alles andere schaffe. Im Büro verteilt stehen auch deshalb „geliebte Gegenstände“ wie die bei Ebay gemeinsam mit dem Sohn ersteigerte Knollennasenmänchenskulptur von Loriot, eine Holzgiraffe als Geschenk seiner Frau oder ein alter Biedermeier-Stuhl, ein Abschiedsgeschenk vorheriger Kollegen. „Völlig verrottet“, wie Hüther sich erinnert, aber inklusive eines Gutscheins zum selbst Aufarbeiten in einer Schreinerei. Die Arbeit am Holz habe ihm großen Spaß gemacht. Obwohl er, ganz Makroökonom, ein „Grobmotoriker“ sei, so sagt er das. Deshalb beim Sport lieber Gerätetraining als Golf.
Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hat aus seinem Büro am Konrad-Adenauer-Ufer direkten Rheinblick. Als gebürtiger Düsseldorfer allerdings nun von der anderen, der Kölner Seite.
Herr Prof. Hüther, hat die Finanzwelt seit Beginn der weltweiten Finanzkrise vor einem Jahrzehnt dazugelernt?
Wir alle haben gelernt, dass mehr Stabilität durch mehr Eigenkapital sinnvoll ist. Ein Kennzeichen der Finanzkrise war ja, dass Banken ihre Eigenkapitalbasis damals extrem überdehnt haben. Die Idee, man könne alle Risiken mit Preisen versehen und mit ihnen handeln, war eine Illusion. Das war eine bittere Erfahrung. Jede Bank muss genügend eigene Mittel haben, um handlungsfähig zu sein. Ebendies wird nun durch Regulatorik und die Finanzaufsicht eingefordert. Manches, das in der Theorie funktioniert, scheitert in der Praxis. Fiktive modellbasierte Preise für Risiken haben eben keine wirkliche Aussagekraft.
Selbst Wirtschaftsinstitute wie das IW wurden damals von der Wucht der Ereignisse überrascht. Was machen Sie seither anders?
Wir fragen uns noch immer, wie das passieren konnte. Damals, im Frühjahr 2007, haben wir die Immobilienbewertung in den USA zwar zumindest schon hinterfragt. Was wir allerdings nicht gesehen haben – was keiner gesehen hat – war, wie eine Finanzinnovation – die Verbriefung von Krediten – ganze Branchen kaputt gemacht hat. Ein Beispiel: Eine Bank hat 100 Euro Eigenkapital. Sie nimmt weitere 900 Euro auf, um insgesamt 1000 Euro Eigenkapital zu haben. Mit diesem Geld kann sie Kredite vergeben, sagen wir zweimal 500 Euro. Diese Kredite werden in den Büchern verzeichnet. Da sie mit dem gesamten Eigenkapital belegt sind, kann die Bank keine weiteren Geschäfte machen. Das Risiko dieser zwei Kredite dann aber weiterzuverkaufen war eine Finanzinnovation, ein neues Geschäftsmodell, das – vereinfacht gesagt – dazu geführt hat, dass das Eigenkapital erneut belegt werden konnte und die Rückzahlung der Kredite nicht mehr überwacht wurde. Das Risiko, das sich daraus ergab, haben auch wir unterschätzt.
Droht mit dem Brexit eine nächste Finanzkrise?
Der Brexit wird keine Finanzkrise auslösen, da bin ich sicher. Es werden lediglich Standorte von Aktivitäten verlagert. Der Brexit belastet eher Handelsbeziehungen, genauer Vorleistungsgüterverflechtungen als die Finanzmärkte. Dann müssen wir sehr genau nach Italien schauen, wo die Regierung die Regelvorgaben aus Brüssel nicht einhalten will. Da sehe ich Risiken, die sich ja auch in den Bewertungen der Börsen widerspiegeln.
Wie ist denn die Stimmung bei Ihren Mitgliedern, welche Sorgen treibt die deutschen Unternehmen um?
Nach dem Referendum für den Brexit dachten anfangs alle, dass es irgendwann schon ein konstruktives Ergebnis für den Übergang geben wird. Mittlerweile haben sich die meisten Unternehmen auf einen harten Brexit eingestellt. Jetzt noch abzuwarten wäre naiv. Das Dilemma ist: Die Unternehmen werden ihre Hard-Brexit-Strategien nicht mehr revidieren, egal, was an Konstruktivem noch passiert.
Wir suchen also nach Lösungen, sind aber immer wieder erstaunt über die Ratlosigkeit, der wir begegnen in Gesprächen mit Botschaftern, Politikern und Unternehmern in Großbritannien. Den Brexiteers ist die Gestaltung des EU-Austritts völlig egal, nach dem Motto „Koste es, was es wolle“. Der harte Brexit ist ein abgehobenes Elitenprojekt. Die Realeinkommen sind bereits während der Verhandlungen gesunken, ebenso die Investitionen. Den Briten ging es schon nach der Bankenkrise bei den Löhnen schlecht. Jetzt kommt die steigende Inflation dazu und der Abzug von Produktionsstätten.
Birgt die Verlagerung von Produktionsstätten eine Chance für Deutschland?
Die Branche in Deutschland, die am stärksten vom Brexit betroffen ist, ist die sehr wichtige Automobilbranche. Sie erhält einen beachtlichen Teil ihrer Vorleistungsgüter, die für den Bau von Fahrzeugen benötigt wird, aus Werken in Großbritannien. Die deutsche Wirtschaft ist durchaus eng mit Großbritannien verwoben. Käme es zu einem harten Brexit und daraus folgenden WTO-Zöllen, müssten im Extremfall allein die deutschen Automobilunternehmen zwei Milliarden Euro jährlich an Zöllen zahlen. In der Finanzwirtschaft zeigen sich die Auswirkungen ja jetzt schon, zum Beispiel durch steigende Mieten in Frankfurt am Main. Da werden Banklizenzen beantragt und Fakten geschaffen. Eine Region wie Frankfurt gewinnt dazu. Insgesamt schwächt der Austritt Großbritanniens aus der EU natürlich ganz Europa. Weil vieles aus der Finanzwelt eben nicht nach Kontinentaleuropa verlagert werden wird, sondern zum Beispiel nach New York.
Mittlerweile bereuen viele Briten ihre Entscheidung, für den Brexit gestimmt zu haben. Welche Art Entscheider sind Sie?
Zahlen, Daten, Fakten sind mir wichtig, aber auch mein Bauchgefühl muss stimmen. Ich bespreche Dinge gern in der Geschäftsleitung. Wenn ich die Verantwortung für eine Entscheidung zu tragen habe, wird jedoch schnell entschieden. Ich bin kein Zauderer. Man muss den Mut haben, eine Entscheidung zur Not zu revidieren. Diese Fähigkeit ist viel zu wenig ausgeprägt. Dabei ist eine Entscheidung doch immer auch eine zeitlich begrenzte Überbrückung von Nichtwissen. Letztendlich ist die Zukunft trotz aller Studien und Vorhersagen ungewiss. Die Angst nicht zu entscheiden, ist eigentlich die Angst vor der Revision der Entscheidung. Die darf nicht sein. Unser Umfeld wird immer dynamischer. Wir müssen diese Dynamik annehmen und ebenfalls schneller werden. In allen Bereichen. Das setzt Faktenkenntnis voraus, aber auch, andere Meinungen anzuhören und sich mit anderen zu beraten. Dabei können Netzwerke wie Rotary hilfreich sein. Sie geben Impulse und zeigen: Die Realität ist vielseitig.
Die Realität verändert sich, auch Gesetze müssen manchmal angepasst werden. Seit einiger Zeit wird wieder über den Soli, die Hartz-Gesetze und das Steuersystem debattiert. Wie ist Ihre Meinung?
Für mich ist die Abschaffung des Soli eine Frage der Glaubwürdigkeit. Man kann nicht eine Ergänzungsabgabe, die zeitweise eingerichtet wurde, weiterführen, wenn der Grund nicht mehr da ist. Dieser fehlt mit dem Auslaufen des Solidarpakts II im kommenden Jahr. Der Soli gehört abgeschafft.
Die Hartz-Gesetze wiederum waren ein wichtiger Baustein, um den Arbeitsmarkt dahin zu bringen, wo er heute ist. Von den 25- bis 64-Jährigen sind heute 80 Prozent in Arbeit. Gut zehn Prozentpunkte mehr als im Jahr 2000. Wir haben eine Beschäftigungsdynamik, die wettbewerbsfähigen Unternehmen, einer angemessenen Lohnpolitik, aber auch den Sozialreformen geschuldet ist. Dabei ist die Grundsicherung für Menschen im Alter heute großzügiger als früher. Natürlich gibt es immer Dinge zu verbessern. Kernthema beim Arbeitsmarkt ist für uns jedoch der Fachkräftemangel.
Auf die Frage nach einem einfachen Steuersystem kann ich sagen: Das gibt es lediglich in Ländern, die sich in einem Transformationsprozess befinden und in dem Zuge etwa das Steuersystem der kommunistischen Ära abschaffen. In dieser Situation ist Deutschland nicht. Man muss realistisch sein, was in der Politik möglich ist. Ein extrem vereinfachtes System ist politisch unattraktiv.