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Über acht Tugenden des Führens in Zeiten der Ungewissheit

Richtung geben, begeistern, Gefolgschaft erzeugen

Klaus Schweinsberg erläutert in »Beruf & Branche« acht Tugenden des Führens in Zeiten der Ungewissheit

Klaus Schweinsberg16.06.2014

In unübersichtlichen Zeiten, in Dekaden des Umbruchs, waren es stets ähnliche Führungstugenden, die den Erfolg brachten. Ob in Militär, Kirche, Politik oder Wirtschaft – diese Führungstugenden gelten über die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche hinweg und sind über viele Jahrhunderte hinweg gültig. Kühne Siege errangen in Zeiten der Ungewissheit diejenigen, die ihr Sichtfeld erweiterten, in der Veränderung ihre Chance erkannten und beherzt in Führung gingen. Der Althistoriker Christian Meyer hat dafür ein schönes Bild gezeichnet: „Dann hätten also Macht zum Handeln und Ohnmacht zum Verändern nebeneinander gestanden, Macht in den Verhältnissen und Ohnmacht über die Verhältnisse.“ Dieses Bild illustriert aus meiner Sicht, so schlicht wie prägnant, den – viel und zuweilen weitschweifend diskutierten – Unterschied zwischen Management und Führung. Für den Manager geht es um die Macht in den Verhältnissen. Für eine Führungspersönlichkeit geht es um Macht über die Verhältnisse. Für Manager geht es um die Macht zu handeln. Für den Führer geht es um die Macht zu verändern. Oder, wie es der Ökonom Klaus Beckmann ausdrückt: „Führung ist Arbeit am System, nicht Arbeit im System.“ Wahre Führung genügt drei Kriterien: Sie formuliert eine Richtung, eine Vision. Sie versammelt Menschen hinter einer Idee. Und sie motiviert zu Veränderung.

Richtung geben, Gefolgschaft erzeugen, für Veränderung begeistern – das ist der Kern von Führungskunst in ungewissen Zeiten. So oder so ähnlich steht es in vielen Leadership-Lehrbüchern. Aber was heißt das konkret? In den letzten 15 Jahren durfte ich einige Führungspersönlichkeiten – teils sehr eng – begleiten. In dieser Zeit entstand nach und nach ein Bild, dass es vielleicht am Ende acht Tugenden sind, die in ihrem Zusammenspiel das ausmachen, was man als „anständig führen“ bezeichnen könnte. Tugenden, die sich disziplinübergreifend über die Jahrhunderte bewährt haben: Absicht, Authentizität, Agilität, Aufrichtigkeit, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Ambition und Ausdauer. Es sind Tugenden, die auch sehr viel mit dem rotarischen Grundtopos des Dienens zu tun haben.

ANSTAND UND KLARHEIT DER ABSICHTEN

Das erste Lehrbuch zum Thema „anständig führen“ ist wohl die vom Ordensgründer Benedikt von Nursia im 7. Jahrhundert erdachte und bis heutige gültige „Regula Benedicti“, in der er die Führung und das Zusammenwirken in einem Kloster regelt. Sein Werk beleuchtet beide Bedeutungen des Wortes „Anstand“: anständig im Sinne von handwerklich gekonnt und anständig im Sinne von moralisch angemessen, verantwortungsvoll.

Keine der Führungspersönlichkeiten, die ich über die Jahre kennenlernen und begleiten durfte, ist in jeder der acht Disziplinen hervorragend. Den Meister aller Klassen gibt es nicht. Und kaum einer würde das für sich beanspruchen. Darum geht es nicht. Aber jede, wirklich jede Führungskraft hat mindestens ein Feld, auf dem sie vorbildlich agiert. Gerade in Zeiten, da es en vogue ist, Führungskräfte generell als „kaputte Elite“ und „Nieten in Nadelstreifen“ herabzusetzen, hat es Sinn, auf Persönlichkeiten in Führungsfunktionen zu blicken, die anständig führen. Nicht weil ich blauäugig glaube, dass es kein eklatantes Versagen und unanständiges Verhalten gab, sondern weil man von den guten Beispielen mehr lernen kann als von den schlechten.
So lohnt es, wenn es darum geht, etwas über das Formulieren einer klaren Absicht der Führungsverantwortlichen zu lernen, einen Blick in die Welt des Militärs zu werfen. Mir ist wohl bewusst, dass es gerade in Deutschland nach wie vor erhebliche Berührungsängste in Sachen „militärische Führung“ gibt. Weil hierzulande häufig noch die – völlig verfehlte – Sicht vorherrscht, dass beim Kommiss ja eh nur stumpf nach Befehl und Gehorsam geführt werde. Wer das glaubt, dem kann ich nur empfehlen, sich einmal eine Stunde Zeit zu nehmen und sich erklären zu lassen, welchen – im Vergleich zur Wirtschaft – hohen Aufwand die Bundeswehr betreibt, um junge Führungskräfte zu befähigen. In einer Armee, die Menschen in Einsätze schickt, hinter denen die Ungewissheit für Leib und Leben steckt, muss der Führer seine Absicht glasklar formulieren. Jeder muss verstehen, woran er ist. Worthülsen und inhaltsleere Anglizismen, wie sie heute leider häufig von Top-Managern gebraucht werden, haben dort keinen Platz. „Der Hund vom Hausmeister muss es verstehen“, sagte mir einmal ein deutscher NATO-Vier-Sterne-General. Davon könnte so mancher Vorstandschef einiges lernen.

DIE MENSCHEN WOLLEN VERSTEHEN

Stichwort Authentizität: Menschen wollen verstehen, wer sie führt. Deshalb müssen Führungskräfte ihre Lebensgeschichte für ihr Umfeld sichtbar und spürbar machen. Auch Details sind da enorm wichtig. Nur wer von sich Zeugnis ablegt, kann überzeugen. Wer etwa den heutigen Bahnchef Rüdiger Grube verstehen will, muss wissen, dass der Mann sich aus einfachen Verhältnissen durch so ziemlich alle Bildungseinrichtungen hochgearbeitet hat, die es in Deutschland gibt: zuerst Hauptschule, dann zwei Jahre Realschule, dann Lehre als Metallflugzeugbauer, dann Fachhochschule, dann Universität und schließlich Promotion. Wer beispielsweise das Denken und Handeln eines Top-Managers wie René Obermann verstehen will, muss wissen, dass der langjährige Telekom-Chef sein Studium früh abgebrochen hat, um eine eigene Firma aufzubauen. Lange Zeit kursierte von ihm unwidersprochen das Bild des stromlinienförmigen Konzernkarrieristen, obschon der Mann ein Vollblutunternehmer ist. So wie heute in den Medien sein Nachfolger an der Spitze der Telekom, Timotheus Höttges, als engagierter Katholik beschrieben wird, obwohl Höttges Protestant ist und aus einer Familie stammt, die mit Stolz auf eine ganze Reihe von Pastoren in der Familiengeschichte zurückblickt. Warum ist das wichtig zu wissen? Weil diese Information ein Stück weit die eiserne Disziplin und protestantische Leistungsethik eines Tim Höttges erklärt.

In der Welt der Ungewissheit braucht es bestimmte operative Fähigkeiten. Führungskräfte müssen Risiken schneller erkennen und bekämpfen sowie Chancen rascher identifizieren und ergreifen. Dafür braucht es „professionelle Agilität“. Wer also dafür Sorge tragen will, dass seine Führungspersönlichkeiten nicht nur entscheiden wollen, sondern in anspruchsvollen Zeiten auch entscheiden können, sollte die Leute darin trainieren. Und dort Wissen saugen, wo professionelle Entscheidungsfähigkeit im wahrsten Sinne (über)lebenswichtig ist: bei (Notfall)Medizinern, Piloten und Militärs. In keinem der genannten Bereiche käme man ernstlich auf die Idee, dass es doch in Ordnung ist, wenn jedermann seinen ganz individuellen Entscheidungsstil entwickelt und kultiviert, auf dem Weg zu seinem Entschluss ganz eigenen Regeln folgt. Wer im Nebel der Ungewissheit operiert, dessen Entscheidungen müssen für sein Umfeld berechenbar und nachvollziehbar sein.

Im Jahr 2010 kam bei einem tragischen Unfall der Erbprinz des fürstlichen Hauses Löwenstein-Wertheim-Rosenberg ums Leben, Erbe eines umfangreichen Vermögens. Über Nacht stand die junge Witwe, Erbprinzessin Stéphanie, in der Verantwortung für den Besitz und die Mitarbeiter. Die Mutter von vier kleinen Kindern hatte bis dahin mit der Führung des Unternehmens wenig zu tun, sie war als Kinderchirurgin tätig. Notgedrungen hängte sie den Arztkittel an den Nagel und übernahm die Unternehmensleitung. Interessant ist das Kompliment, das heute von ihrem Schwiegervater, Fürst Alois, kommt: „Medizinerin und Frau, das ist eine fast unschlagbare Kombination. Frauen sind Weltmeister in Sachen Komplexitätsbewältigung. Mediziner sind trainiert, blitzschnell und systematisch eine Lage zu analysieren und sofort klar zu entscheiden. Damit hat Stéphanie den meisten Managern einiges voraus.“

DAS ERBE DER ROTARY-VÄTER

Es würde den Rahmen dieses Essays sprengen, auch für die weiteren Tugenden wie Aufrichtigkeit, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Ambition und Ausdauer anhand einzelner Beispiele aufzuzeigen, wie „anständige Führung“ im Einzelfall ganz konkret aussieht. Zentral ist die Botschaft, dass es für Führungskräfte wichtig ist, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken, um gute Vorbilder in Sachen Führung zu finden. Jede Zunft hat ihre Stärken und ihre Schwächen. Das haben Paul Harris und seine drei Freunde bereits 1905 bei der Gründung des ersten Rotary Clubs erkannt und deshalb den Rotary Clubs eine möglichst breite Interdisziplinarität ins Stammbuch geschrieben. Es ist an uns heutigen Rotariern, die interdisziplinäre Zusammensetzung unseres Clubs auch aktiv und beherzt zu nutzen. Um zum Beispiel im Kreis von Wissenschaftlern, Managern, Anwälten, Politikern, Kirchenmännern und -frauen, Militärs etc. darüber zu diskutieren, was „anständige Führung“ ausmacht.

Klaus Schweinsberg
Prof. Dr. Klaus Schweinsberg (RC Köln am Rhein) ist Gründer des Centrums für Strategie und Höhere Führung und u.a. Honorarprofessor für Wirtschaftspolitik und Strategie der Rheinischen Fachhochschule Köln. 2014 erschien im Herder-Verlag sein Buch „Anständig führen. Acht Erfolgstugenden in Zeiten der Ungewissheit. Mit Streiflichtern aus der Praxis: von A wie Achleitner bis Z wie Zetsche“. klaus-schweinsberg.de