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Interview

„Sehe die Gefahr einer Finanzkrise"

Interview  - „Sehe die Gefahr einer Finanzkrise"
© Thomas Fuchs

Unternehmensberater Hermann Simon kritisiert das Handeln der Bundesregierung, sieht aber die Wirtschaft für die Krise gewappnet.

Hermann Simon01.11.2022

Mit Blick auf die derzeitige Wirtschaftslage steht vor allem der Mittelstand im Fokus. Aber wie können wir den Mittelstand definieren? Welche Unternehmen zählen dazu?

Der Mittelstand ist in der deutschen Begrifflichkeit extrem breit definiert. Wenn man Umfragen macht und fragt, fühlen Sie sich dem Mittelstand zugehörig, dann sagen die meisten Unternehmen, 80 bis 90 Prozent, ja, wir sind Mittelstand. Das fängt bei der kleinen Bäckerei an der Ecke an und reicht bis hin zu einem Milliardenunternehmen wie Trumpf. Das heißt, im Grunde ist der Mittelstandsbegriff in Deutschland zu breit definiert, um irgendeine konkrete Firmenkategorie zu beschreiben.

Bedeutet, es gibt keine Kennzahlen, zum Beispiel beim Umsatz, die eine klare Abgrenzung ermöglichen?

Es gibt Definitionen von mittelständischen Unternehmen, oder wie man international sagt, Small and Mid-sized Enterprises (SME). Die reichen bis zu 250 Beschäftigte, manche bis 500 Beschäftigte, in Frankreich gar bis 1000 Beschäftigte. Aber das greift das Phänomen Mittelstand nicht, weil auch sehr viele mittelständische Unternehmen global aufgestellt sind. Die sogenannten Hidden Champions, die unbekannten Weltmarktführer, sind Unternehmen, die in diese Größenordnung fallen, aber genauso global und multinational aufgestellt sind wie große Konzerne. Dass wir so viele unbekannte Weltmarktführer haben, ist eine ganz besondere Ausprägung der deutschen Wirtschaft.

Da kommen wir später noch einmal drauf zurück. Blicken wir zunächst auf die aktuelle Situation. Steigende Energiekosten, steigende Inflation – wie gefährdet ist der Mittelstand derzeit?

Diese steigenden Kosten, die Inflation, gefährden alle Unternehmen. Besonders betroffen sind natürlich Unternehmen mit hohem Energieverbrauch. Das ist zum Beispiel in der Chemiebranche der Fall, aber auch in der verarbeitenden Industrie, wo man sehr stark mit Wärme und Hitze arbeiten muss. Beim Maschinenbau, wo es um mechanische Bearbeitung geht, etwas weniger. Daneben sind Transportunternehmen stark betroffen. Wir befinden uns in einer äußerst gefährlichen Situation für viele mittelständische Unternehmen

Trotz der Sorgen über eine durch hohe Energiepreise ausgelöste weltweite Rezession haben sich 23 erdölfördernde Staaten auf die stärkste Drosselung der Fördermenge seit 2020 verständigt. Die Ölallianz Opec+ fährt ihre Ölproduktion zurück. Schlägt jetzt die Stunde derer, die in dieser Krise abkassieren wollen?

Ja, es gibt natürlich Profiteure der Krise, dazu gehören die Öl- und Energieproduzenten. Dass diese Staaten die Krise nun ausnutzen, um die Menge noch stärker zu verknappen, ist ein unfreundlicher Akt gegenüber dem Rest der Welt. Ich bin aber nicht sicher, ob dies funktioniert. Wir haben eigentlich genug Öl. Vor zwei Jahren lag der Preis pro Barrel Öl bei 30 Euro, mittlerweile war er auf 125 Euro gestiegen und seitdem ist er zeitweise wieder auf 85 Euro gefallen. Jetzt liegt er  bei etwa 90 Euro. Das heißt, wir haben gegenüber der Spitze vor einigen Monaten einen Rückgang von etwa einem Viertel erlebt. Die Drosselung ist eine Antwort darauf. Man will den Ölpreis hochhalten, was für uns sehr schlecht ist. Aber noch einmal, wir haben genug Öl. Deshalb bin ich mir auch sicher, dass der Ölpreis wieder runter gehen wird. Wir hatten vor etwa zwölf Jahren ein höheres Niveau und dann sind aufgrund der höheren Preise auch wieder mehr Produzenten auf den Markt gekommen. Die Öl- und Gaspreise bereiten mir mittelfristig nicht so große Sorgen wie die aufgeblähten Geldmengen.

Welche Sorgen sprechen Unternehmer Ihnen gegenüber an?

Im Moment steht die Inflation im Vordergrund. Die Unternehmen sind von massiven Preissteigerungen betroffen. Das betrifft alles, was sie zukaufen. Es ist eine Illusion, diese Preissteigerungen eins zu eins weitergeben zu können. Da muss man die Unternehmen warnen, wenn sie denken, dass sie bei einer zehnprozentigen Preissteigerung einfach ihre Preise ebenfalls um zehn Prozent anheben können. So funktioniert der Markt nicht. Da geht man das Risiko ein, dass die Verbraucher sehr negativ reagieren. Wir erleben ja bereits, dass Verbraucher auf billigere Produkte ausweichen. Zum Beispiel haben in einer Umfrage unseres Beratungsunternehmens Simon-Kucher 54 Prozent gesagt, dass sie an der Supermarktkasse auf billigere Produkte ausweichen, wenn die Preise steigen. Deshalb ist es für Unternehmen unter dem Inflationsaspekt sehr wichtig, diese Preisbereitschaft der Kunden zu verstehen. Sind die Kunden bereit, mehr zu zahlen? Wie viel mehr? Das sind wichtige Fragen.

Anhand steigender Preise spüren Menschen, dass sie es mit einer Inflation zu tun haben.

Wenn man die Leute auf der Straße fragt, was Inflation bedeutet, antworten sie, die Produkte werden teurer. Das stimmt natürlich. Aber im Kern ist Inflation etwas anderes. Das Geld wird weniger wert,  wird zur verderblichen Ware. Das kann man  schön illustrieren. Nehmen wir mal Gold. Der Wert der Ware hat sich da nie verändert. Eine maßgeschneiderte Tunika im Alten Rom hat eine Unze Gold gekostet. Für eine Unze Gold bekommen Sie heute einen maßgeschneiderten Anzug. Das bedeutet, der Wert der Ware hat sich nicht geändert, was sich ändert, ist der Wert des Geldes. Der geht in der Inflation schnell runter. Was bedeutet das zum Beispiel für Unternehmen? Sie müssen zusehen, dass sie  ihr Geld schnellstmöglich bekommen und anschließend auch schnell wieder loswerden. Das habe ich kürzlich einem Handwerker erzählt. Der sagte mir, dass er es genauso macht. Der hat wieder zwei Prozent Skonto für Zahlungen innerhalb von acht Tagen eingeführt. Jahrelang haben wir keinen Skonto mehr gesehen und nun taucht er wieder in Rechnungen auf. Genau richtig! Der Unternehmer, ein Gartenbauer, erzählte auch, dass er jetzt Maschinen kaufe, die keinen Wertverlust haben und im kommenden Jahr teurer wären. Also, das Geld bleibt nicht auf dem Konto. Das ist ein interessanter Aspekt. Inflation besteht im Kern nicht  darin, dass die Waren teurer werden, sondern dass das Geld weniger wert wird.

Dies erfahren aber zum Beispiel Menschen, die regelmäßig in der Türkei Urlaub machen. Die dortige Inflationsentwicklung ist noch dramatischer.

Ja, in der Türkei liegt die Inflationsrate bei 80 Prozent. In unserem Büro in Istanbul wickeln wir aufgrund der dortigen Inflationsentwicklung unsere Aufträge in Dollar oder Euro ab und nicht in Türkischer Lira.

Zurück zu den Sorgen der Unternehmer. Welche Probleme gibt es noch zu beklagen?

Zwei andere Themen, die nicht ganz so beängstigend sind wie die Inflation, sind die Knappheit bei Lieferteilen, insbesondere bei elektronischen Chips, und der Nachwuchsmangel. Das Problem der Chips wird sich mittelfristig lösen, da sehr viele neue Fabriken im Bau sind. Der Nachwuchsmangel bleibt ein langfristiges Problem. Handwerker und Mittelständler würden gerne neue Leute einstellen, werden aber nicht fündig. Insofern sehe ich das Problem der Arbeitslosigkeit als nicht so dringend an gegenüber dem Inflationsproblem. Aufgrund der Demografie wird der Nachwuchs- und Talentmangel auf viele Jahre anhalten. Letztlich können wir ihm nur mit gezielter Einwanderung entgegenwirken.

Bleiben wir nochmal bei der Inflation. Haben es die sogenannten Hidden Champions leichter, weil sie in Nischensegmenten unterwegs sind, und weniger billigere Konkurrenz zu fürchten haben?

Das ist definitiv der Fall. Hidden Champions haben oft Produkte, die einfach unverzichtbar sind. Diese Firmen haben im Weltmarkt im Schnitt einen Anteil von 40 Prozent. Die Kunden können den Marktführer nicht ersetzen. Es gibt ein schönes Beispiel: Vor einigen Jahren hat der Weltmarktführer für Außenspiegel von Autos Insolvenz angemeldet. Die Autoindustrie musste ihn retten, weil man keine Autos ohne Außenspiegel ausliefern kann. Das ist kein Hightech-Produkt, aber unverzichtbar. Firmen, die so eine Pricing-Power haben, wie wir sagen, können ohne nennenswerte Konkurrenz höhere Preise durchsetzen. Sie haben es in der Inflation leichter als Firmen, deren Produkte austauschbar sind oder die nur kleine Marktanteile haben. Insofern gibt es sehr große Unterschiede bei der Bewältigung der Inflationsproblematik.

Wie kann der Weltmarktführer für Außenspiegel überhaupt in Schieflage geraten?

So etwas  geschieht, wenn große unternehmerische Fehler gemacht wurden. Überexpansion kann ein Grund sein, da die Autoindustrie ja auch eine Schwankung von zehn Prozent aufweist. Wenn man eine zu große Kapazität aufbaut, dann kann das einen in Schwierigkeiten bringen. Unternehmen können auch ungünstig finanzieren oder einkaufen. Es gibt sehr viele Ursachen, warum man in die Insolvenz geraten kann.

Welche Branchen sind derzeit besonders nervös?

Besonders nervös sind die energieabhängigen Branchen. Das sind auch Branchen, an die man gar nicht denkt. Ich bin heute  an einer großen Tomatenfabrik vorbeigefahren. Die produzieren 13 Tonnen Tomaten pro Tag. Wie machen die das? Natürlich mit Energie. Solche Firmen mit hohem Energieeinsatz sind massiv betroffen. Zudem sind Firmen betroffen, die derzeit keine Teile beschaffen können. Ein Beispiel: Ich habe vor einem Dreivierteljahr ein Hoftor bei einem Spezialisten bestellt. Der sagt mir, ich kann derzeit nicht liefern, weil ihm Teile wie die Fernsteuerung fehlen. Da liegt eher das Problem als auf der Absatzseite. Kosten und Beschaffung machen es für manche Unternehmen gerade schwierig.

Wir haben also kein Nachfrageproblem, sondern das Problem, dass die Nachfrage nicht bedient werden kann?

Ja. In der Finanzkrise 2008 hatten wir ein Nachfrageproblem, weil die Menschen kein Geld mehr ausgegeben haben. Ich kann mich an einen Hidden Champion, einen Maschinenbauer, erinnern, der hatte 150 fertige Maschinen auf dem Hof stehen und niemand hat sie gekauft. Jetzt will er Lieferzeiten einhalten, bekommt aber die Teile nicht, um die Maschinen fertig zu bauen.

Ein Instrument, um der Energiekrise zu begegnen, sollte von Seiten der Bundesregierung die Gasumlage sein. Wie groß ist die Erleichterung bei den Unternehmen, dass sie doch nicht eingeführt wurde?

Ich denke, die Erleichterung ist vorhanden. Was stattdessen auf die Unternehmen noch zukommen könnte, wissen wir nicht. Wenn der Gaspreis etwas gesenkt werden kann, hilft das vielen Unternehmen. Hoffentlich entscheidet sich bald, wie das gelingen soll.

Blicken wir mal auf unseren Wirtschaftsminister Robert Habeck. Verspielt er nicht Glaubwürdigkeit und Vertrauen, wenn er erst eine Gasumlage auf den Weg bringt und sie vor der Einführung wieder zurücknehmen muss?

Natürlich. Man hat den Eindruck, das Wirtschaftsministerium wird von Leuten geführt, die von Wirtschaft wenig verstehen. Man muss aber auch anerkennen, dass sie unter enormem Druck stehen und die Rahmenbedingungen sich täglich ändern. Denken wir nur an den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines. Jetzt ist gewiss, dass kein Gas im Winter durch diese Röhren kommen wird. Bisher hing das nur vom russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin ab. Die Verantwortlichen im Ministerium haben viel zu bewältigen derzeit. Das muss man anerkennen.

Können wir insgesamt von einer Zeitenwende sprechen? Hat das urdeutsche Modell des starken Mittelstandes nun ausgedient?

Nein, das sehe ich nicht so. Ich glaube sogar, dass der Mittelstand, was Anpassungsfähigkeit und Agilität angeht, sehr viel schneller ist als typische Großunternehmen. Der Mittelstand wird sich sehr schnell an die veränderten Rahmenbedingungen anpassen. Ich habe von einigen gehört: Wir haben bereits die Vorkehrung getroffen, Gas durch Öl zu ersetzen. Das ist eine der Stärken des Mittelstandes, schnell auf veränderte Umstände zu reagieren. Die Berichtswege sind kurz, die Entscheidungsgewalt ist klar geregelt und man benötigt keine komplizierten Gremien. Insofern wird der Mittelstand auch mit dieser Krise zurechtkommen.

Jetzt schlägt somit die Stunde derer, die Krise auch als Chance begreifen?

Das ist bei jeder Krise so. Es werden natürlich einige Unternehmen in die Knie gehen, aber das ist für die Überlebenden die Chance, Marktanteile zu gewinnen. Die Krise bringt eine Neuverteilung der Marktpositionen mit sich. Das war auch 2010 so und das wird jetzt wieder so sein. Es kommt noch ein Faktor hinzu. Wir hatten über Jahre hinweg diese völlig unrealistisch niedrigen Zinsen von null, ein oder zwei Prozent. Das hat dazu geführt, dass sich auch Unternehmen finanzieren konnten, die nicht wirklich dauerhaft lebensfähig sind. Die Hilfsmaßnahmen in der Coronapandemie haben zusätzlich dazu beigetragen. Insofern wird es da zu einer Bereinigung kommen. Man kann sagen, zu einer notwendigen Bereinigung, denn diese Firmen wären schon früher ausgeschieden, wenn die Umstände normal gewesen wären.

Bedeutet, Sie sind ein Anhänger der These, dass es Unternehmen, die jetzt in der Krise sind, früher oder später eh getroffen hätte?

Definitiv.

Wie blicken andere Länder derzeit auf Deutschland und seine Energiekrise?

Wir haben in der Europäischen Union gehört, dass das 200-Milliarden-Euro-Hilfspaket nicht auf breite Zustimmung stößt. Deutschland ist relativ niedrig verschuldet,  Anleihen bekommt die Bundesrepublik zu niedrigen Zinsen. Wir können uns Dinge leisten, die sich ärmere Länder, die an der Schuldengrenze knabbern, nicht leisten können. Diese Umstände führen dazu, dass wir uns nicht überall Freunde machen. Umgekehrt schaut man auch mit großem Erstaunen auf Deutschland, was beispielweise die Einstellung zur Atomenergie angeht. Man kann sagen, fast alle anderen Länder setzen weiterhin auf Atomenergie und bauen neue Atomkraftwerke. Blicken Sie mal nach Finnland. Die Finnen sind nicht dafür bekannt, unvernünftige Entscheidungen zu treffen. Wir beziehen den Atomstrom aus Frankreich, haben direkt angrenzend an unser Land in Belgien und Tschechien wesentlich unsichere Atomkraftwerke als unsere eigenen, lehnen aber selbst Atomkraft ab.

Was man auf europäischer Ebene vermisst, ist solidarisches Handeln. Da reist der Bundeskanzler samt Minister nach Spanien, um künftig LNG-Gas von Spanien zu beziehen und dann scheitert die Einigung an Frankreich, was eine notwendige Gasleitung durch sein Land ablehnt. Warum steht die EU in Krisenzeiten nicht zusammen?

Die EU selbst hat ja wenig Macht. Es sind die einzelnen Mitgliedsstaaten, bei denen nach wie vor die Entscheidungsgewalt liegt. Da denkt nun jeder an sich zuerst.

Die Bundesregierung selbst wirkt in dieser Krisenzeit zerstritten und überfordert. Wie nehmen Sie das Regierungshandeln wahr?

Das ist so. Wenn man die Grundpositionen von SPD, FDP und Grünen vergleicht, sind die nicht miteinander vereinbar. Die Grünen für sich genommen sind schon eine gespaltene Partei. Es gibt einen Flügel, der schwere Waffen an die Ukraine liefern will, während andere als Pazifisten das vehement ablehnen. In der SPD ist es seltsamerweise so, dass sie mit großer Mehrheit ebenfalls gegen diese Waffenlieferungen sind. Da scheint der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich entscheidenden Einfluss zu haben. Die FDP hat bei Wirtschafts- und Finanzthemen, als auch in der Waffenfrage eine völlig andere Position. Wir haben es hier mit  Grundpositionen zu tun, die kaum miteinander vereinbar sind, und das zeigt sich auch im täglichen Handeln.

In diesem Fall ist Kompromissfähigkeit gefragt. Steckt hier auch eine Chance, weil der ausgehandelte Kompromiss dann auch eine breite Unterstützung in der Bevölkerung erfährt?

Wenn wir an die gigantischen Programme denken, die von der Regierung fast täglich neu verkündet werden, 100 Milliarden für die Bundeswehr, 200 Milliarden für die Energieversorgung, diverse weitere Hilfsprogramme in zweistelliger Milliardenhöhe, ist meines Erachtens seitens des Finanzministers Christian Lindner und seiner FDP kein Kompromiss mehr möglich. Ich sehe die ernsthafte Gefahr, dass unser Staat in eine gravierende Finanzkrise gerät. Die Herausforderungen sind mit faulen Kompromissen nicht zu lösen. Arbeitsminister Hubertus Heil führt fast wöchentlich neue Programme ein, die gigantische Beträge verschlingen. Ich weiß nicht, wie das auf Dauer finanzierbar ist. Das wird über Schulden und neugedrucktes Geld finanziert, aber das bedeutet eine anhaltende Inflation. Ich halte die Inflation für das anti-sozialste, was man sich denken kann. Die Inflation betrifft vor allem Leute, die wenig Geld haben und derzeit auf jeden Cent achten müssen. Die trifft weniger die Wohlhabenden, die mehr finanzielle Spielräume haben. Vieles von dem, was jetzt gemacht wird, treibt die Inflation weiter an.

Das ist ja der Grund, warum Finanzminister Christian Lindner ab 2023 die Schuldenbremse wieder einhalten will, weil ansonsten die Inflation weiter ansteigt. Aber wie realistisch ist es, angesichts der Programme, die auf den Weg gebracht wurden und werden sollen, dass die Schuldenbremse wirklich eingehalten wird?

Das ist völlig unrealistisch. Es wird mit Tarnen und Täuschen gearbeitet. Nehmen wir mal die 100 Milliarden für die Bundeswehr, die in einen Sonderfonds fließen. Nur weil man die nicht zum Bundeshaushalt rechnet und als Sondervermögen deklariert, bedeutet das ja nicht, dass es einen Unterschied bei der faktischen Verschuldung macht. Bei den Summen ist die Einhaltung der Schuldenbremse unmöglich.

Tricksen und Täuschen auf der einen Seite, die Angst der Bevölkerung vor sozialem Abstieg auf der anderen Seite. Wäre es jetzt nicht an Bundeskanzler Olaf Scholz sich direkt ans Volk zu wenden, um Ängste zu nehmen? Ich kann mich erinnern, dass einst Kanzlerin Angela Merkel mit dem damaligen Finanzminister Peer Steinbrück vor die Presse getreten ist und in der Finanzkrise erklärt hat, dass die Spareinlagen der Deutschen sicher sind.

Das ist leichter gesagt als getan. Die Bundeskanzlerin hat seinerzeit eine Aussage getroffen, die rechtlich gar nicht haltbar war. Sie hat aber dadurch Vertrauen geschaffen. Ich halte die momentane Situation für schwieriger, weil es für den Staat nahezu unmöglich ist, die Inflation zu kontrollieren. Dabei müssen wir zwei Kategorien von Inflationsursachen unterscheiden, zum einen die kurzfristig wirkenden. Dazu gehören die Energiekrise, die Lieferengpässe und der Ukrainekrieg sowie die Coronapandemie. Die längerfristig wirkende Ursache ist die Aufblähung der Geldmenge. Die Geldmenge ist in den vergangenen zehn Jahren um das Dreifache gestiegen. Das Bruttoinlandsprodukt ist aber nur um 30 Prozent gestiegen. Das heißt, wir haben zu viel Geld, was zu wenig Ware jagt. Das ist der langfristige Treiber der Inflation. Die erstgenannte Kategorie von Ursachen wird sich im Zeitraum von ein, zwei, drei Jahren auflösen. Aber die Geldmenge kann nicht so schnell zurückgeführt werden, weil sonst die Staaten, vor allem die südeuropäischen, und auch Banken in große Schwierigkeiten kommen. Deshalb gehe ich davon aus, dass uns die Inflation über einen längeren Zeitraum, vielleicht fünf bis zehn Jahre, begleiten wird. Das war schon einmal in den 1970er Jahren der Fall. Da ist es nicht leicht, sich als Bundeskanzler eine Aussage einfallen zu lassen, die wirklich an den Kern des Problems reicht. Wenn er glaubhaft sagen könnte, wir werden diese Inflation im nächsten Jahr in den Griff bekommen, die Preise werden im kommenden Jahr nicht um acht oder zehn Prozent steigen, dann könnte das die Leute beruhigen. Aber eine solche Aussage kann er nicht treffen. Allein schon nicht, weil  die Lohn-Preis-Spirale in Gang kommt. Natürlich müssen die Gewerkschaften höhere Löhne fordern, um einen Kaufkraftausgleich zu erreichen. Ich weiß nicht, welche Aussage Olaf Scholz jetzt treffen könnte, die vergleichbar wäre mit der Aussage von Angela Merkel zum Schutz der Spareinlagen.

Kommen wir von Aussagen zu Maßnahmen. Was sind für Sie die drei wesentlichen Punkte, die die Bundesregierung jetzt angehen müsste?

Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Es liegt derzeit so viel auf dem Tisch, dass man nicht sagen kann, es gibt drei Maßnahmen, die das Problem lösen. Die Energiepreise zu senken ist sicherlich sehr wichtig. Etwas für die Leute zu tun, die aufgrund der Inflation wirklich arm dran sind, ist wichtig. Das heißt  nicht so etwas wie der Tankrabatt, der über alle ausgegossen wird. Ich brauche keinen Tankrabatt. Also gezielte Maßnahmen, die den wirklich hart Betroffenen helfen. Ansonsten rate ich zur Sparsamkeit. Bitte nicht jeden Tag ein neues Programm auflegen, weil das ein Minister wie Heil möchte. Wir müssen jetzt schauen, wo wir einsparen können, um an den wirklich wichtigen Stellen gezielt zu investieren. Das sehe ich derzeit leider überhaupt nicht. Die Wasserhähne sind überall geöffnet.

Krisenzeiten zeichnet eigentlich immer eins aus: Bund und Länder sowie Regierung und Opposition stehen zusammen. Nun erleben wir, dass Bund und Länder über die Finanzierung von Entlastungspaketen streiten und die Opposition gegen die Regierungspläne wettert. Warum fehlt es in dieser Krisenzeit an dieser Geschlossenheit?

Ich weiß nicht, ob wir diese Gemeinsamkeit  früher wirklich immer in Krisenzeiten hatten. In der Finanzkrise 2008 hatten wir eine Große Koalition. Sie haben ja selbst eben Angela Merkel und Peer Steinbrück erwähnt. Die Regierung stellte damals rund zwei Drittel der Bundestagsabgeordneten. Das war eine andere Situation als heute. Wenn es finanziell knapp wird, dann werden zwischen Bund und Ländern die Verhandlungen auch härter geführt. Aber ich denke, dass es normale Verhandlungsmarathons sind. Da wird man sich am Ende schon einigen und den Betrag aufteilen.

Sie fürchten nicht, dass einzelne Politiker diese Situation ausnutzen, um sich selbst zu profilieren?

Zumindest nicht von den akzeptierten Parteien. Dass natürlich Parteien wie die AfD und die Linke die Situation nutzen werden, war zu erwarten. Das Thema Soziale Unruhen halte ich in dem Zusammenhang für sehr ernst. Diese werden von solchen Parteien bewusst angestachelt.

Werden wir Soziale Unruhen erleben?

Das hängt davon ab, wie der Winter verläuft. Ich weiß nicht, was passiert, wenn die Leute in kalten Wohnungen sitzen. Diese Situation hatten wir noch nicht. Das ist schon eine ernstzunehmende Gefahr.

Sie können nicht in die Glaskugel schauen. Trotzdem bitte ich Sie um eine Prognose. Wird Deutschland mit einem blauen Auge aus dieser Krise kommen oder wird es massive wirtschaftliche und gesellschaftliche Verwerfungen geben? 

Ich denke, dass wir durch diese Krise kommen werden. Die deutsche Wirtschaft ist sehr stark, trotz des momentanen Pessimismus. Wir haben auch 2008 geglaubt, dass die Welt untergehen würde, und wir sind ziemlich gut durch die Krise gekommen. In vorherigen Krisen war das auch so.

Es gibt ein paar Faktoren, die wir nicht kontrollieren können. Wir wissen nicht, wie es im Ukrainekrieg weitergeht. Aber ich prognostiziere, wenn die Probleme nicht ausufern, werden wir durch diese Krise kommen. Wir müssen natürlich Einbußen hinnehmen, aber wir werden in der Substanz nicht gefährdet.

Das Gespräch führte Florian Quanz.


Hermann Simon
Die Inflation schlagen - agil, konkret, effektiv
CampusVerlag
2022, 280 Seiten, 30 Euro

Hermann Simon
Hermann Simon ist ein deutscher  Unternehmensberater, Unternehmer sowie emeritierter Wirtschaftsprofessor. 1985 gründete er das Beratungs­unternehmen Simon­-Kucher & Partners. Zuletzt erschien von ihm "Die Inflation schlagen - agil, konkret, effektiv" im Campus-Verlag.

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