Interview mit Spieleentwickler Martin Filipp
"Spiele sind ein Hochrisikobereich"
Entwickler Martin Filipp spiegelt in seinen Spielen die Diversität der Gesellschaft und hofft auf Zuspruch am Markt.
Sehr geehrter Herr Filipp, wir würden gerne mit Ihrer Firma Mipumi ein neues Computerspiel entwickeln. Was wäre der erste Schritt?
Wir fangen ähnlich wie beim Film mit einer Konzeptionierung an. Innerhalb dieser Konzeptionierung muss man bestimmte Parameter festlegen, die das Volumen, das Budget und den Zeitumfang definieren. Das bedeutet, dass man sich entscheiden muss, welches Genre man bedienen möchte. Ist es ein Sportspiel, ein Puzzlespiel oder ein Strategiespiel? Das muss man zu Beginn klären, weil dies wieder Entscheidungen mit sich bringt, die technischer Natur sind und die Software betreffen. All diese Fragen klärt man in der Konzeptionierung. Danach folgt ein grobes Konzept mit einem erstmals geschätzten Budget. Auch unsere Industrie wird getrieben von dem Dreieck Budget, Zeit und Qualität. Diese drei Parameter muss man definieren, und wo immer man schraubt, beeinflusst man den anderen Teil des Dreiecks. Die Kunst besteht darin, ein Projekt über einen längeren Zeitraum zu führen und am Ende ein erfolgreiches Produkt auf dem Markt zu haben.
Gibt es Spielegenres, die ausgeschlossen wären?
Bei uns ja. Wir lassen aus Überzeugung die Finger von Krypto. Wir versuchen Games als Medium weiterzuentwickeln. Das heißt bei Mipumi, dass bei eigenen Projekten, die wir finanzieren, nicht testosterongetriebene, muskelbepackte Männer im Mittelpunkt stehen, sondern die Diversität, die sich in der Gesellschaft darstellt, auch in unseren Spielen widerspiegelt. Wir haben häufig weibliche Protagonisten und versuchen andere Geschichten mit einem starken narrativen Aspekt zu erzählen.
Bedeutet, Sie wollen den Einfluss, den Spiele auf die Gesellschaft haben, auch nutzen.
Ja, einerseits das, auf der anderen Seite verstehen wir Spiele als Spiegel der Gesellschaft. Zudem wollen wir bestimmte Zielgruppen ansprechen. Die Coronapandemie hat gezeigt, dass Spiele ein besonders wichtiges Medium waren. Das Medium hat geholfen durch schwierige Zeiten zu kommen. Wir sind ein wenig aus der Schmuddelecke rausgekommen. In Deutschland werden wir stärker als in Österreich als ernstzunehmende Industrie wahrgenommen. Das zeigt sich auch in der Wahrnehmung von Seiten der Politik.
Darauf kommen wir später nochmal zurück. Wenn sich der muskelbepackte Mann als Hauptprotagonist besser verkauft, müssten Sie ihn dann nicht doch als Charakter für Ihr Spiel auswählen?
Nein. Das ist unser Produkt. Wir müssen grundsätzlich gar nichts. Wir wollen unsere Geschichte erzählen und nutzen das Medium Spiel, um unsere Inhalte zu transportieren und uns selbst kreativ auszudrücken. Das sehen wir nicht im muskelbepackten Mann. Wir konzentrieren uns auf das, worin wir nach eigener Auffassung gut sind und einen Unterschied machen können. Das ist mehr auf der emotionalen Ebene und bei Themen wie Inklusion und Diversität. Da gibt es genug Raum zum Erzählen. Gerade narrative Spiele haben in den vergangenen Jahren stark zugelegt. Wir sind auf einem guten Weg.
Dann entwickeln wir gemeinsam ein Spiel mit einer Hauptprotagonistin, was Diversität widerspiegelt. Wie viele Kolleginnen und Kollegen wären zu Beginn an diesem Projekt beteiligt?
Bei der Konzeptionierung wäre es zunächst ein kleiner Teil. Da bedarf es von jeder Disziplin eine Person. Also sprechen wir von drei bis vier Personen. Technik, Design, Projektmanagement und Qualitätssicherung müssen abgedeckt sein. Das kleine Team sucht und stellt zunächst Fragen. Im Zuge des Projektes wird versucht, diese Fragen zu beantworten. Jede Disziplin konzentriert sich auf ihre eigenen Stärken. Die notwendigen Teilaspekte müssen so herausgearbeitet werden, dass das Projektmanagement ein gesamtes Bild darstellen kann, mit dem sich ein Projektplan über einen längeren Zeitraum definiert.
Könnte jede dieser vier Personen mit einer Spielidee auf die anderen zukommen?
Ja. Jeder ist eingeladen, eine Idee an den Tisch zu bringen. Jeder ist eingeladen als sogenannter Champion für diese Idee dann einzutreten. Die Designabteilung übernimmt dann eine überzeugende Idee, da sie das notwendige Knowhow hat, um aus einer Idee ein Spiel zu entwickeln.
Was müsste ich an Qualifikationen mitbringen, um bei Ihnen als Spieleentwickler arbeiten zu können?
Liebe und Affinität zum Medium. Wir sind eine immer noch kleine Szene in Österreich und wir wollen Menschen, die sich bewusst für unser Medium Spiel entscheiden. Wir suchen Menschen, die Emotionen mitbringen und den Drang haben, sich mit dem Medium auszudrücken.
Brauche ich eine Ausbildung?
Im deutschsprachigen Raum gibt es seit zehn bis 15 Jahren sehr gute Ausbildungsstätten. Qualifizierte, junge Absolventen kommen von Schulen und Universitäten. Die bringen das notwendige Rüstzeug mit.
Was sollte ich studieren, um anschließend bei Ihnen anzufangen?
Das hängt davon ab, ob Sie in der Technik oder im Art- und Designbereich arbeiten wollen. Fast alle Universitäten haben diese Unterscheidung. Art- und Design ist bei uns sehr vielfältig, weil es auch das Entwickeln von Hintergrundgeschichten für Charaktere und den Aufbau ganzer Welten umfasst. Von der Games-Academy in Berlin bis hin zur Fachhochschule in Salzburg, gibt es viele Studienorte, die sehr erfolgreich ausbilden. Sie finden anschließend leicht Jobs, und dies auch international. Dort lernt man die gesamte Bandbreite von Spieleentwicklung. Das interdisziplinäre Zusammenarbeiten ist enorm wichtig und auf der Schule lernt man dieses interagieren und kommunizieren über Disziplingrenzen hinweg. So versteht der Grafiker auch die Anforderungen, die an einen Programmierer gestellt werden. Ansonsten kann der Grafiker nicht verständlich formulieren, was er vom Programmierer braucht. Wir sind eine teamgetriebene Industrie, und dankbar für die Ausbildung, die dort geboten wird.
Wie sind Sie selbst zum Spieleentwickler geworden?
Ich mache das seit dem Jahr 2000. Damals gab es noch keine Ausbildungsmöglichkeit. In Österreich gibt es die seit etwa 2007. Ich bin ein klassischer Quereinsteiger. Ich habe Publizistik und Politik studiert und war im Eventbereich tätig. Ich bin über einen Studienkollegen, der eine Spieleentwickler-Firma gegründet hatte, in die Branche gekommen und habe sie nicht wieder verlassen.
Was hat Sie gereizt an der Branche?
Meine Generation ist mit Brett- und Rollenspielen groß geworden. Wir hatten die ersten Heimkonsolen, Atari, Commodore und Amiga zu Hause. Ich selbst habe immer Rollenspiele geliebt, und so etwas nun in ein Computerspiel umzusetzen und dann andere Menschen zu erleben, die dieses dann spielen, ist unbezahlbar. Das ist die Motivation vieler, die in unsere Branche kommen. Ich kann meiner Oma oder meiner Tante ein Videospiel als Ergebnis meiner Arbeit präsentieren, und das löst Freude aus.
Wie lange brauchen wir von der ersten Idee bis hin zum fertigen Spiel?
Das hängt von Ihrem Geldtopf ab.
Sprich, je mehr Kapital und je mehr Menschen gleichzeitig an einem Spiel arbeiten können, desto schneller ist das Spiel auf dem Markt?
Das ist der Wunschtraum vieler Projektleiter, entspricht aber meist leider nicht der Realität. Zunächst hängt viel davon ab, welche Plattform und welches Genres man wählt. Habe ich eine bestehende Franchise oder muss ich bei Null anfangen? Es gibt Spiele für Handys, die nicht komplex sind, und die ich sehr schnell innerhalb von ein paar Monaten entwickeln kann. Da sprechen wir von einem niedrigen sechsstelligen Betrag. Aber es gibt auch große 3-D-Titel mit eigenen Welten. Und wenn ich eine Welt gebaut habe, ist es erst die halbe Miete. Ich muss die Welt bevölkern, mit Inhalten und Sinn füllen, damit der Spieler auch eine Begründung hat, warum er dort Zeit verbringt. Die Anforderungen an das visuelle sind schon sehr hoch. Da sprechen wir von 4K.
Wie analysieren Sie vorab den Spielemarkt, ob ein Projekt Chancen auf einen Erfolg hat?
Da gibt es sehr smarte Menschen, die eigene Agenturen führen, die sich auf den Spielemarkt fokussiert haben. Sehr frühzeitig kann ich mit einer Projektidee an eine dieser Agenturen herantreten. Ich brauche dafür noch keinen Prototyp, wenngleich dieser die Analyse vereinfacht. In qualitativen Interviews findet dann eine Prüfung statt. Marktpotenzial, Preisgestaltung, Länge und Plattform – all das spielt eine Rolle. Es ist günstiger mit einer solchen Agentur zusammenzuarbeiten, als ein ganzes Team sechs Monate an einem Spiel arbeiten zu lassen, was dann in der Mülltonne landet.
Wer trifft die finale Entscheidung, ob ein Spiel realisiert wird?
Das hat sich standardisiert. Auch wir als kleines Unternehmen haben einen Green-Light-Prozess eingeführt. Die Entwicklung eines Spiels ist in mehrere Phasen unterteilt, die der Entwicklung eines Filmes gleicht. Ein Komitee erhält am Ende jeder Phase den Stand der Entwicklung präsentiert. Haben wir alle selbstgesteckten Ziele erreicht? Sind die Marktgegebenheiten noch vorhanden? Anhand dieser Fragen entscheidet das Komitee, ob und wie es weitergeht. Wenn wir jetzt eine Idee entwickeln, die in drei Jahren als fertiges Computerspiel auf dem Markt sein wird, gehen wir eine Wette ein, wie in drei Jahren der Zeitgeist aussehen wird. Funktioniert das, was wir uns jetzt ausdenken in drei Jahren auf dem Markt? Das ist die spannende Frage. Spiele sind ein Hochrisikobereich. An dieser Stelle schreckt unsere Industrie etwas ab, das muss ich eingestehen.
Wenn es deshalb mitunter schwierig ist, Investoren für Spieleprojekte zu finden, kann an dieser Stelle der Staat einspringen?
Ja, das kann er. Die Diskussion darüber ist in Österreich in den vergangenen Jahren leider in die falsche Richtung gegangen. Jetzt spreche ich mehr als Interessenvertreter meiner Branche. Der Staat ist nicht dazu da, private Produkte zu finanzieren. Was der Staat kann und soll, ist das Risikokapital am Anfang zur Verfügung zu stellen, um das Risiko für Firmen zu minimieren, einen Prototyp zu entwickeln. Viele junge Spieleentwickler in Österreich glauben, mit der Förderung kann ich ein ganzes Projekt umsetzen. Das ist der falsche Ansatz. Es wird nie genug Geld für ein ganzes Projekt sein. Die staatliche Förderung kann und soll helfen, später das Kapital am Markt zu bekommen, was man für die Realisierung eines Spieles benötigt. So sollte Förderung gedacht werden.
Gibt es diese Förderung im ausreichenden Maße in Österreich?
Gibt es genug Geld? Das ist eine schwierige Frage.
Wieso? Sie können kurz mit Ja oder nein antworten.
Früher hätte ich die Frage mit Ja beantwortet. Da gab es genug Fördergelder, um erste Konzepte umzusetzen. Gerade hier in Wien, Österreich ist ja ähnlich wie Deutschland föderal aufgebaut. Die Stadt Wien sieht unsere Industrie als Zukunftsbranche und darüber sind wir sehr dankbar. Wer nicht in Wien sitzt, hat es da deutlich schwieriger.
Sie dürften Ihren Firmensitz also nicht in Salzburg oder Graz haben?
Nein. Deshalb landen viele Absolventen der Fachhochschule Salzburg später hier in Wien.
Wenn es früher genug Fördergelder gab, warum heute nicht mehr?
Da kommt jetzt die Austria Wirtschaftsservice Gesellschaft ins Spiel. Das ist im Prinzip die hauseigene Bank der Republik Österreich. Die hat sehr stark im Start-up-Segment in den vergangenen Jahren investiert. Über alle Branchen hinweg kann sich niemand über die Start-up-Förderung in Österreich beschweren. Dort wurde das Förderpaket jedoch vor einiger Zeit auf neue Füße gestellt und leider ist der Begriff „Games“ komplett verlorengegangen. Wir hatten zuvor eine Förderschiene, wo immer stand „…und Games“. Man sagt uns zwar, wir sollen trotzdem gerne Förderanträge einreichen, aber die Nichterwähnung schreckt sicherlich einige junge Spieleentwickler ab. Das ist schade.
Jetzt müssen Sie in der Wiener Hofburg wieder ein paar Klinken putzen?
Wir bemühen uns redlich.
Ihr Unternehmen hat mit der deutschen Spielentwicklerfirma Ubisoft Blue Byte zusammen Spiel „The Settlers“ gearbeitet. Was kann Ihre Firma, was Ubisoft Blue Byte nicht kann?
(lacht) Gute Frage. Sie sprechen eines unserer Geschäftsmodelle an. Bei dem Spiel haben wir unsere Expertise im technischen Bereich gezielt zur Verfügung gestellt. Bei „The Settlers“ lag der Fokus auf User Interface und User Experience. In dem Fall ging die Zusammenarbeit so weit, dass wir auch den Lead übernommen haben.
Lead bedeutet, sie haben in dem Bereich die Hauptverantwortung übernommen?
Das ist korrekt. Gerade bei Spielen dieser Art ist das viel Arbeit. Die Kunst ist es, die Grafik nicht mit Elementen vollzustellen, die man aber benötigt, um das Spiel zu steuern. Das macht es in der Gestaltung so schwierig. Man möchte die Schönheit des Spieles zeigen, aber man muss dem Spieler die Funktionalität geben, damit er das Spiel steuern kann. Das ist immer eine Gradwanderung.
Nun haben wir über die Kooperation mit einer anderen Firma gesprochen. Zugleich gibt es aber auch den Konkurrenzkampf. Was hätten Sie gerne entwickelt, was von der Konkurrenz stammt?
Ich sehe die anderen Entwicklerstudios nicht als Konkurrenten, das möchte ich vorwegschicken. Gerade nicht in Österreich, aber auch nicht in Deutschland. Wir helfen uns gegenseitig, es gibt einen großen Austausch auf Geschäftsführerebene. Der eine freut sich über den Erfolg des anderen.
Dann stelle ich die Frage anders: Können Sie mir bitte ein Spiel empfehlen, welches Sie selbst gerne spielen und welches nicht von Ihrer Firma stammt?
Es gibt ein cooles Spiel, welches in Österreich produziert wurde. Es heißt „Path out“. Es stammt von einem syrischen Flüchtling, der ein Spiel entwickelt hat, um seine Flucht darzustellen. Er hat damit mehrere Preise gewonnen und es wird im Bildungsbereich in Europa eingesetzt. Darüber hinaus kann ich ein Spiel der Firma Broken Rules empfehlen. Die Österreicher sind bekannt für sehr schöne Spiele und sie haben vor kurzem ein Spiel auf den Markt gebracht, das heißt „Old man’s journey“. Dabei wird das gesamte Leben eines Charakters abgehandelt. Man spielt einen alten Mann, der sich an seine Jugend zurückerinnert und sich dann auf den Weg macht, in die Vergangenheit zurückzureisen. Man spielt die Lebensgeschichte dieses Mannes. Die Spielidee ist klasse und es ist von der Grafik hübsch umgesetzt. Das Spiel beeindruckt mich und daran hätte ich gerne mitgearbeitet, das gebe ich zu.
Können Sie zum Schluss ein Vorurteil bestätigen? Bei einer Spieleentwicklerfirma arbeiten nur männliche Nerds mit Brille.
Danke schön. Ich wollte bis 50 mit der Brille warten, mich hat es mit 45 erwischt. Ohne Brille am Arbeitsplatz geht es bei mir nicht mehr. Ich verwehre mich aber gegen den Begriff des Nerds. Der geht mir wirklich gegen den Strich. Wir haben bei Mipumi eine Akademikerquote von 85 Prozent. Unsere Branche hat mit den höchsten Ausbildungsgrad in ganz Österreich, wie eine Studie belegt. Der Begriff Nerd kommt aus der Vergangenheit und ist negativ behaftet. Wir haben extrem intelligente Menschen, die voll im Leben stehen, Familie haben und Kunstbeflissen sind, ins Theater gehen und das sehe ich in der Gesamtgesellschaft in dem Maße nicht. Was ich annehme, und daran arbeiten wir sehr hart, ist, die Ratio zwischen Männer und Frauen sowie non-binären Personen, zu ändern. Wir sind noch männerlastig, aber wir arbeiten daran. In Wien gibt es eine Initiative, die nennt sich Töchter-Tag, wo einmal im Jahr junge Mädchen und Frauen, in Technikberufe hineinschnuppern können, und da machen wir seit mehreren Jahren mit. Wir versuchen, die Profession von Spieleentwicklung positiv zu gestalten und Menschen einzuladen, in die Branche zu kommen. Das ist eine emotionale Branche, weil wir emotionale Produkte realisieren. Wir verkaufen Emotionen an den Spieler.
Martin Filipp ist Managing Director bei der Spieleentwicklerfirma Mipumi, die ihren Sitz in Wien hat. Er hat Publizistik und Politik studiert, dann im Eventbereich gearbeitet, ehe er in die Gaming-Branche einstieg.