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Verschiebung der Kräfte

Titelthema - Verschiebung der Kräfte
© Prognos AG/Handelsblatt (alle)

Ost-West, Nord-Süd, Stadt-Land: Schlaglichter auf neue regionale Trends in Deutschland, auf Annäherungen und erneutes Auseinanderdriften

Christina Schenten01.11.2019

Wer Ausschau nach flächendeckenden "blühenden Landschaften" hält, sollte seinen Blick heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, in Richtung Süden richten. Demografische, ökonomische und politische Faktoren haben die Regionen in Deutschland auf sehr verschiedene Wachstumspfade geführt. Das Ost-West-Gefälle hat sich in vielen Bereichen zu einem Nord-Süd-, aber auch zu einem Stadt-Land-Gefälle entwickelt.
Wie gut es sich für jeden Einzelnen in einer Region – ob Nord, Süd, Ost oder West, Stadt oder Land – tatsächlich leben lässt, kann keine wissenschaftliche Studie beantworten. Zu unterschiedlich ist das Empfinden der individuellen Lebenswelten. Mit dem "Zukunftsatlas", der seit 2004 alle drei Jahre erscheint und Stärken und Dynamik der 401 Kreise und kreisfreien Städte bewertet, sowie dem "Deutschland Report", der seit 1964 regelmäßig die gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in den Blick nimmt, verfügt Prognos jedoch über erprobte Instrumente, die einen tiefen Einblick in die Zukunftsperspektiven der Regionen und Bundesländer erlauben.

Annäherung seit fast 20 Jahren
Die gute Konjunktur und der damit einhergehende Beschäftigungsaufbau haben seit den frühen 2000er Jahren tendenziell eine leichte Annäherung der Wirtschaftsleistung je Einwohner in den 16 Bundesländern ermöglicht. Die gute wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands hat die Arbeitslosenquoten bundesweit flächendeckend sinken lassen. Unterschiede zwischen den Bundesländern bestehen zwar weiterhin – so liegen bei kleinräumiger Betrachtung neun von zehn Kreisen und kreisfreien Städten mit Vollbeschäftigungsniveau in Bayern und Baden-Württemberg – doch die positive Entwicklung der strukturschwächeren Regionen, beispielsweise im Ruhrgebiet, in Thüringen und Sachsen, hat das Gefälle in den letzten Jahren leicht abgeflacht.
Dies ist allerdings eher eine Momentaufnahme: Mit fortschreitendem demografischem Wandel werden regionale Unterschiede wieder zunehmen. Zwar altert die Bevölkerung in ganz Deutschland – bis 2030 steigt die Zahl der Senioren überall schneller als die Anzahl der 15- bis 64-jährigen Bewohner – doch von Alterung und Abwanderung sind schon jetzt insbesondere die ostdeutschen Flächenländer betroffen. In ohnehin schon strukturschwächeren Regionen stehen damit potenziell immer weniger Arbeitskräfte zur Verfügung. Insbesondere Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg sind hiervon betroffen.
Hinzu kommt die unterschiedliche Wirtschaftsstruktur. So sind außergewöhnlich viele Unternehmen aus technologieorientierten Branchen mit überdurchschnittlichem Wachstum in den südlichen Bundesländern, insbesondere in Bayern und Baden-Württemberg, angesiedelt.
Die Folge: Das Wohlstandsgefälle zwischen einkommensstarken und einkommensschwachen Ländern wird wieder größer. Gemäß "Prognos Deutschland Report" wird die Wirtschaftsleistung pro Kopf in den fünf einkommensschwächsten Bundesländern im Jahr 2045 nur halb so groß sein wie in den fünf Bundesländern mit den höchsten Einkommen. Altbekannte regionale Muster treten dadurch wieder deutlicher hervor: Konnten die Einkommen im Osten gegenüber dem Westen zuletzt zulegen – von etwa zwei Drittel des West-Niveaus auf knapp drei Viertel – erwartet der Deutschland Report für 2045 ein steileres Ost-West-Gefälle als kurz nach der Wiedervereinigung im Jahr 1995. Das bedeutet: Bei einer Fortsetzung der bisherigen Politik werden sich die materiellen Lebensverhältnisse zwischen Ost und West nicht angleichen, sondern wieder auseinanderdriften.

Nord-Süd-Gefälle bildet sich aus
Weniger ausgeprägt, aber tendenziell ebenfalls zunehmend, ist das wirtschaftliche Gefälle zwischen Nord und Süd. Derzeit beträgt die Wirtschaftsleistung je Einwohner im Norden durchschnittlich rund 75 Prozent des Süd-Niveaus.
Doch auch in Nord-Süd-Richtung vergrößern demografischer Wandel und wirtschaftliche Strukturen perspektivisch die Abstände.
Und auch unter den wirtschaftlichen Spitzenreitern deutet sich ein Führungswechsel an: Die Stadtstaaten Hamburg, Berlin und Bremen liegen im Durchschnitt aktuell noch vor Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. Langfristig werden die südlichen Flächenländer jedoch auch hier auf- oder überholen. Zum einen aus dem einfachen Grund, dass in den Stadtstaaten die Bevölkerung schneller wächst – die Wirtschaftsleistung je Einwohner verteilt sich in den Stadtstaaten also auf mehr "Köpfe". Zum anderen wird das relative Mehr an potenziellen Arbeitskräften in den Stadtstaaten, in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen von einer höheren durchschnittlichen Produktivität überkompensiert. Die industriell geprägten südlichen Länder federn den Bevölkerungsschwund durch technologischen Fortschritt ab. Die in den Stadtstaaten dominanteren Wirtschaftszweige, Baugewerbe und Dienstleistungen, haben ein vergleichsweise geringeres Potenzial für Produktivitätsgewinne.
Lässt man die Bundesländergrenzen hinter sich und blickt tiefer in die einzelnen Regionen – also die 401 Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland – ergibt sich ein differenzierteres Bild. Auch hier zeigt sich rückblickend ein Annäherungstrend: Im Zukunftsatlas 2019 ist der Abstand zwischen den Top-Regionen und den Schlusslichtern zum ersten Mal seit dem Prognos Zukunftsatlas 2010, der stark von der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 und 2009 beeinflusst war, kleiner geworden. Vom wirtschaftlichen Aufschwung und dem damit einhergehenden Beschäftigungsaufbau konnten nahezu alle Regionen profitieren.
Aber auch auf kleinräumiger Ebene offenbart sich mit Blick auf den Status quo das Bild des starken Südens: 21 der 25 Regionen mit der höchsten Zukunftsfestigkeit liegen in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. Aus den nördlicheren Bundesländern landen lediglich Wolfsburg, Düsseldorf, Hamburg und Münster unter den Top-25-Standorten Deutschlands. Aus den ostdeutschen Regionen schafft es keine einzige in die Top-25-Gruppe.
Regionen, in denen Zukunftsrisiken überwiegen, finden sich in Süddeutschland lediglich in den nördlichen und östlichen ehemaligen Grenzlandkreisen zu Thüringen sowie zu Tschechien. Der Großteil der Regionen mit Zukunftsrisiken liegt im Osten sowie Norden und Westen Deutschlands. In Westdeutschland sind Gebiete mit Strukturproblemen, insbesondere altindustrialisierte Standorte im nördlichen Ruhrgebiet, betroffen, außerdem periphere ländliche Räume in Rheinland-Pfalz, im Saarland und in Teilen Niedersachsens.

Dynamische Städte auch im Osten
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber auch: Unterschiede sind nicht allein eine Frage der Himmelsrichtung, sondern zunehmend von Stadt und Land. Die Beliebtheit der Städte zeigt sich am ausgeprägten Bevölkerungszuwachs: In Leipzig, Potsdam, Landshut, Frankfurt/Main, Offenbach und Regensburg wuchs die Bevölkerung zwischen 2011 und 2017 um über zehn Prozent. Mit schwindender Bevölkerung sehen sich dagegen insbesondere ländliche Kreise in Ostdeutschland und strukturschwache Regionen in Westdeutschland konfrontiert. Wie auf Ebene der Bundesländer, ist Bevölkerungswachstum auch regional eine wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung. So haben sich die ostdeutschen Leuchtturmstandorte Dresden, Jena, Potsdam, Berlin und Leipzig im Gesamtranking des Zukunftsatlas sehr positiv entwickelt und fest in der zweiten Reihe der führenden Regionen etabliert.
Noch deutlicher zeigt sich diese Entwicklung, wenn man nicht nur die aktuelle regionale Stärke, sondern die Dynamik – also die wirtschaftliche und demografische Entwicklung über die letzten Jahre – betrachtet: Drei der zehn dynamischsten Regionen Deutschlands liegen in Ostdeutschland. Leipzig führt das Feld an, dicht gefolgt von Berlin. Nur wenig dahinter, auf Platz sieben, landet der Landkreis Teltow-Fläming. Der südlich von Berlin und Potsdam gelegene Landkreis schnellte innerhalb von drei Jahren um 117 Plätze nach oben auf Platz 170 von 401 Regionen. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Spill-Over- und Tripple-Down-Effekte aus den Großstädten, von denen schwächere Regionen im Umland profitieren. Denn die Beliebtheit der starken und dynamischen Städte führt zunehmend dazu, dass ihre Aufnahmefähigkeit an Grenzen stößt. Urbanes Umland und ländliche Regionen werden dadurch insbesondere als Wohn- und teilweise auch als Arbeitsstandorte wieder interessant – nicht zuletzt aufgrund des erschwinglicheren Wohnraums und der Erweiterungsflächen.

Zukunftschancen und Dynamik nach Regionen

Die Gesamtkarte (links) zeigt aktuelle Zukunftschancen und -risiken der Regionen im Deutschlandvergleich auf Basis der 29 makro- und sozioökonomischen Indikatoren des Prognos-Zukunftsatlas auf. Auffällig ist die Stärke Süddeutschlands: 21 der 25 Regionen mit der höchsten Zukunftsfestigkeit liegen in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen.
Die Dynamikkarte (rechts) zeigt die regionale Entwicklung der Kreise und Städte auf Basis der Dynamik-Indikatoren aus dem Zukunftsatlas. Schaut man auf die demografische und wirtschaftliche Entwicklung wird deutlich, dass sich das klassische Ost-West-Gefälle in ein Nord-Süd-Gefälle wandelt. Drei der zehn dynamischsten Regionen Deutschlands liegen in Ostdeutschland – Leipzig, Berlin und der Landkreis Teltow-Fläming.

Städte entlasten, Land stärken
Auf dem aktuell eingeschlagenen Pfad wird sich die Ungleichheit zwischen den einzelnen Regionen sowie den Bundesländern durch wirtschaftliche und demografische Entwicklungen in den kommenden Jahrzehnten wieder verstärken. Das Fazit für die Entwicklung von Deutschlands Regionen muss dennoch keineswegs lauten: Blühende Landschaften und explodierende Wohnraumkosten im Süden, karge Brachen im Norden und Osten. Prognosen dienen als Wegweiser, sie geben Orientierung. Ein Gegensteuern zu ungewollten Trends ist jederzeit möglich.
Seit der Jahrtausendwende haben sich zahlreiche Regionen – insbesondere im Osten – auf beeindruckende Art und Weise weiterentwickelt. Obwohl die Deutschlandkarte auch im Jahr 2019 keine flächendeckenden "blühenden Landschaften" vorweisen kann, liegt insbesondere in der Entlastung von Städten und der Stärkung ländlicher Regionen ein großes Potenzial für regionale und überregionale Trendwenden. Denn: Unsere Zukunft wird nicht von Modellen bestimmt – sondern von Menschen gemacht.

Christina Schenten
Christina Schenten ist Volkswirtin mit den Schwerpunkten Stadt- und Umweltökonomik und bei der Wirtschaftsberatung Prognos AG in der Unternehmenskommunikation tätig. prognos.com