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Ökosoziale Marktwirtschaft als Schlüssel für Europas Zukunft

Wachstum für einen müden Kontinent

Die ökosoziale Marktwirtschaft als Schlüssel für Europas Zukunft

30.09.2015

Fast jedermann in Europa – egal ob Holländer, Grieche, Deutscher, Spanier oder Franzose – stellt heute eine gewisse Verdrossenheit über „sein“ Europa fest. Die Euphorie der Anfangszeit, als sich sechs zuvor in zwei Weltkriegen verfeindete Nationen die Hand reichten und eine Familie gründeten, der inzwischen 28 Mitglieder angehören, ist längst verflogen. Wann immer ein Problem auftritt, sagt man heute in Holland, in Griechenland, in Deutschland, in Frankreich, in England usw.: „C´est la faute à l´Europe“ – sprich: „Europa ist an allem Schuld!“. An der Überverschuldung, an der Deflation, an der Austeritätspolitik, an der zu laschen Einwanderungspolitik, an der Arbeitslosigkeit etc. Dagegen kümmere sich die Euro-Zentrale Brüssel bürokratisch, ja pedantisch um Dinge, die sie im Grunde gar nichts angehen sollten: um die Qualität französischer Käsesorten, um gleiche Marktchancen für europäische Biere etc.


Dieser Unmut über ein vermeintlich bürokratisches Monstergebilde von mehr als 50.000 „Eurokraten“ bildet den Nährboden für den Zuwachs zahlreicher europaskeptischer oder gar extremistischer Parteien. Populismus und Nationalismus bekommen wieder Oberwasser. Sind sechzig Jahre gemeinsamer Aufbauarbeit passé? Sind die Horror-Visionen aus dem Zweiten Weltkrieg bereits so weit entrückt, dass ein Europa der Gemeinsamkeit nicht mehr die alles beherrschende Attraktivität besitzt?


Dabei könnte Europa zwischen Ost und West eine fulminante Zukunft haben. Dafür müsste sich jedoch der Kontinent insgesamt von alten Denkschablonen aus dem vorigen Jahrhundert befreien, die uns – wie zuletzt in der Ukraine-Krise – immer wieder zurück­fallen lassen in Situationen, die an den Kalten Krieg erinnern. Auch sollten wir uns fragen, wie nach der Gründung des vereinten Europas in den fünfziger Jahren und der Einführung der gemeinsamen Euro-Währung in den neunziger Jahren der weitere Ausbau Europas vorangehen könnte, um damit der Übergang von der anfänglichen Nachkriegs-Interessengemeinschaft hin zu einer zukunftsfähigen gemeinsamen Wertegemeinschaft gelingen kann. Und nicht zuletzt sollten wir überlegen, wie wir – zum Beispiel durch die Einführung einer gemeinsamen, sozialen, die Umwelt respektierenden Marktwirtschaft – Europa auch ökonomisch wieder neuen Schwung verleihen. Insbeson­dere zu letzterem sollen nachfolgend einige Gedanken formuliert werden.


Die letzten 200 Jahre waren ökonomisch beherrscht vom quantitativem Wachstum, von einem „immer mehr“ auf allen Gebieten. Gerade die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und die mit ihnen einhergehenden enormen Zerstörungen ermöglichten es, das quantitative Wachstum bis zum Exzess auszubauen. Doch seit Jahren schon dümpelt das Wachstum in den westeuropäischen Ländern (der Osten bildet aufgrund des großen Nachholbedarfs nach 40 Jahren Kommunismus immer noch eine Ausnahme) bei rund 1 Prozent p.a. herum. Das reicht nicht aus, um die derzeit 25 Millionen Arbeitslosen in der EU wieder in eine Beschäftigung zu bringen. Europa hat also nur dann eine Chance, nachhaltig neue Prosperität zu entwickeln, wenn es versteht, das quantitative Wachstum von gestern durch ein neues qualitatives Wachstum zu ersetzen.


Abschied vom quantitativen Wachstum
Ein Ansatz dazu ist der Übergang zum „Cradle-to-Cradle-Prinzip“, bzw. zur Kreislaufwirtschaft. Das Konzept „von der Wiege zur Wiege“ (Cradle to cradle) ist ein begrifflicher Rahmen für die Restrukturierung der Grundbeziehung zwischen menschlicher Tätigkeit und der ihn umgebenden Umwelt. Diese Idee, zu deren Grundlagen eine intelligent angewandte Wissenschaft und qualitätsvolles Design gehören, geht über das Bemühen um „Nachhaltigkeit“ hinaus und bewegt sich hin zu einem neuen positiven Paradigma, bei dem Wachstum positiv konnotiert ist. Das Cradle-to-Cradle-Konzept ist ein Spiegelbild der gesunden, regenerativen Produktivität der Natur. Sein Ziel besteht nicht einfach nur darin, den herkömmlichen Materialstrom „von der Wiege bis zur Bahre“ zu verringern oder zu verzögern, sondern zyklische Metabolismen (Stoffwechselkreisläufe) zu erzeugen, die eine naturnahe Produktionsweise ermöglichen und Materialen immer wieder neu nutzen.


Dabei soll die zweihundert Jahre alte lineare Wirtschaftsweise, bei der ein Produkt von A nach B entwickelt, verkauft, genutzt und am Ende unter Belastung der Umwelt weggeworfen wird, durch eine Kreislauf- Wirtschaftsweise ersetzt werden, bei der ein Produkt so konzipiert ist, dass es am Ende seiner Verwendung neu und in anderer Form und ohne Umweltbelastung gestaltet werden kann.


Ein gutes Beispiel für einen neuen Ansatz in Wirtschaft und Politik ist die deutsche Energiewende, die derzeit weltweit große Aufmerksamkeit erlangt. Viele Länder kopieren inzwischen das deutsche Erneuerbare-Energien-
Gesetz (EEG) und senden Delegationen, um diese ehrgeizige Energiepolitik und ihre Konsequenzen zu verstehen. In sehr kurzer Zeit ist es in Deutschland gelungen, mehr als 30 Prozent des Strombedarfs aus erneuerbaren Energieträgern zu decken. Im ersten Halbjahr 2014 war es aufgrund guter Sonneneinstrahlung und guter Windverhältnisse zum ersten Mal möglich, die 30-Prozent-Grenze zu übersteigen.


Doch das bisher Erreichte und die Frage, wie die europäischen Nachbarn mit der neuen Energiepolitik des größten EU-Partnerlandes umgehen, stellen Deutschland auch vor große Probleme. Zum einen ist die Energiewende leider nur eine Stromwende und geht an den beiden anderen großen Sektoren Mobilität und Wärme weitestgehend vorbei. Zum anderen bringt die Energiewende im globalen Maßstab wenig, wenn Länder wie Frankreich und England nicht von ihrem Primat der Kernenergie lassen wollen, Polen weiter von einer Renaissance der Kohle träumt und Österreich schönes Geld mit uralten schmutzigen Ölkraftwerken verdient, die für die deutsche Energiewende die Absicherung liefern. Klimaschutz sowie Risiken und Kosten scheinen bei diesen Nationalismen keine Rolle zu spielen. Auch die USA sind als Fracking-Paradies kein Vorbild für eine nachhaltige Energiepolitik. Das macht es nicht gerade einfacher, eine konsequente Politik für Wind, Sonne und Biomasse durchzuhalten.


Die Energiewende als Chance?
Dabei belegt eine Fraunhofer-Studie aus dem Jahr 2013 die Kostenneutralität einer kompletten Energiewende inklusive Strom, Wärme und Mobilität. Der Studie zufolge generiert ein regenerativer Energiemix inklusive Speicher und Netze Jahreskosten von ca. 120 Mrd. Euro. Dies entspricht in etwa den derzeitigen Kosten für Importe fossiler Energien nach Deutschland. Unter Hinzunahme der erneuerbaren Elektromobilität ermitteln die Forscher von Fraunhofer sogar eine noch bessere Bilanz von 173 Mrd. Jahresvollkosten gegenüber derzeit 210 Mrd. auf fossiler Basis.


Die Investitionen in Erneuerbare Energien sind eine Investition in die langfristige Sicherung des Industriestandortes Deutschland. Doch auch und gerade für andere europäische Länder ist die Energiewende eine interessante Option. Ein interessanter Standort dafür ist zum Beispiel Griechenland. Warum errichten wir nicht auf den unzähligen Inseln in der Ägäis Solarparks und gewinnen dort ein Übermaß an Öko-Strom? Die meisten Inseln sind unbewohnt, niemand würde sich also daran stören. Natürlich wäre dies mit hohen Investitionen verbunden. Doch ist dieses Investment in eine reale Perspektive nicht allemal besser als das ständige Verhandeln immer neuer „Rettungspakete“, bei denen nicht klar ist, ob das kleine Land das ständig wachsende Kreditvolumen überhaupt noch tragen kann? Griechenland, bei dem zurecht festgestellt wurde, das es kaum über zukunftsfähige Industrien verfügt, könnte so zu einem wichtigen Akteur auf dem europäischen Energiemarkt werden. Ähnliche Optionen böten sich auch für Spanien, Portugal und Italien.


Die Zeit ist jedenfalls günstig. Zum einen ist das Geld für Investitionen am Kapitalmarkt so günstig wie nie zuvor. Zum anderen sollte die Tatsache, dass die Europäer seit über fünf Jahren Krise immer noch ohne Lösung auf der Stelle treten, die Bereitschaft für neue Wege schaffen.