https://rotary.de/wirtschaft/wir-bauen-keine-autos-sondern-bruecken-in-die-politik-a-16603.html
Rotary Entscheider

„Wir bauen keine Autos, sondern Brücken in die Politik“

Rotary Entscheider - „Wir bauen keine Autos, sondern Brücken in die Politik“
Hildegard Müller kennt beides, Industrie und Politik. Nun muss die VDA-Chefin verschiedene Interessen zusammenführen. © VDA

VDA-Präsidentin Hildegard Müller spricht über Lobbyarbeit und Transformation und erklärt, weshalb die deutsche Autoindustrie innovativer ist, als viele glauben.

01.09.2020

Frau Müller, Sie sind nicht die erste Frau an der Spitze des VDA, kommen aber in einer Zeit, die gesellschaftlich vom Kampf gegen Diskriminierung geprägt ist. Ist für Sie die Gleichstellung eine Fokusaufgabe?

Ich spreche lieber von Chancengleichheit. Dieser gesellschaftliche Fortschritt ist mir seit vielen Jahren ein großes persönliches Anliegen. Es geht um die Durchlässigkeit der Systeme und Hierarchien, unabhängig von Geschlecht, Religionszugehörigkeit oder ethnischer Herkunft. Eignung, Leistung und Neigung sollten entscheidend sein. Ich wende mich ausdrücklich gegen jede Art von Diskriminierung. Wir dürfen bei der Diskussion im Übrigen nicht nur auf die Spitzenpositionen schauen. Vielmehr ist es aus meiner Sicht notwendig, dass die Chancengleichheit auf allen Hierarchieebenen – in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – als Selbstverständlichkeit begriffen und gelebt wird.

Das gilt auch für meine Aufgabe im VDA. Ich freue mich, dass sich unsere Mitgliedsunternehmen klar zu diesem wichtigen Thema bekennen. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass Unternehmen mit diesem Ansatz in einer Welt, die sich immer schneller wandelt, erfolgreicher sind. Deshalb geht es also nicht nur um eine richtige Idee, sondern auch um unternehmerisches Interesse – und letztlich darum, unabhängig vom Geschlecht gute Talente zu gewinnen, Menschen, die sich mit großem Engagement und herausragenden Leistungen einbringen.

Einige frühere VDA-Präsidenten sorgten mit markanten Aussagen für Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Von Ihnen hört man eher leise Töne. Ist das Ihr persönlicher Stil?

Es gehört zu meiner Grundhaltung, dass ich Dinge klar und deutlich anspreche. Erfolgreiche Verbandsarbeit misst sich aber nicht an der Lautstärke. Es geht darum, die Interessen der Mitglieder zu bündeln und sie gegenüber Politik und Öffentlichkeit erfolgreich zu vertreten.

Die deutsche Industrie hat, ebenso wie andere Organisationen, das Recht, auf wichtige Belange hinzuweisen. An dieser Schlüsselindustrie hängen allein in Deutschland über 2,5 Millionen Beschäftigte. Die Politik muss unabhängig, aber auch bestmöglich beraten, unterschiedliche Interessen abwägen und entscheiden. Wir sind eine der innovativsten Branchen, haben hohe Forschungsausgaben, bewegen uns mitten in einem fordernden Transformationsprozess und haben gute Sozialpartnerschaften. Insofern ist es nicht eine bestimmte Lautstärke, die ich mir vorgenommen habe, sondern das aktive Angehen der Aufgaben.

Sie haben keinen Automobilhintergrund, sondern waren zuvor in der Politik.

2020, entscheider, hildegard müller, september,

Mit Technologieoffenheit und Freude am Denken will Hildegard Müller neue Mobilitätskonzepte vorantreiben © VDA

Mein beruflicher Lebensweg ist durch beides geprägt: unternehmerische Erfahrung und Politik. Insofern kenne ich beide Welten. Einerseits die Sorgen und Nöte der Wirtschaft und deren industrielle Bedeutung für Deutschland. Aber ich weiß auch, wie politische Entscheidungsprozesse ablaufen, und kenne das Spannungsfeld, in dem die Politik steht. Der VDA arbeitet an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik. Als Verband bauen wir selbst keine Autos, sondern Brücken in die Politik und Gesellschaft. Die aktuellen Herausforderungen, auch schon vor Corona, zeigen, wie wichtig es ist, die verschiedenen Bereiche und Notwendigkeiten besser miteinander zu verbinden. Bislang finden zu viele Gespräche in Zirkeln statt, die einer Meinung sind. Das ist nicht wirklich zielführend. Ein offener Diskurs, auch mit Kritikern, der auf beiden Seiten die unterschiedlichen Argumente abwägt, bringt uns weiter. Ich bin überzeugt: Wenn der eine dem anderen etwas mehr zuhören würde, würden wir in unserer Gesellschaft mehr erreichen.

Der Lockdown im Zuge von Corona hat die Automobilindustrie hart getroffen – auch deshalb, weil internationale Lieferketten zum Erliegen kamen. Hat das zu einem Umdenken geführt, in Zukunft wieder lokaler zu agieren? Internationale Arbeitsteilung ist ein hoher Wert an sich. Ich bin eine überzeugte Befürworterin eines freien und fairen Welthandels, von offenen Märkten und von Freihandelsabkommen. Mit großer Sorge verfolge ich daher die Diskussionen, die in vielen Ländern über neue Abgrenzungen und Zölle geführt werden. Gerade Deutschland und Europa haben bewiesen, wie sinnvoll eine internationale Arbeitsteilung ist, wie sie den Wohlstand auf allen Seiten steigern kann, weil sich jedes Land auf seine Kompetenzen konzentriert. Ich bin begeisterte Europäerin. Auch deshalb hat es mich betrübt, wie in Europa Grenzen geschlossen wurden. Da hätte es unter den EU-Staaten sicher bessere Abstimmungsmöglichkeiten geben können. Die Tatsache, dass die Grenzen nicht mehr durchlässig waren, hat die Lieferketten für einige Wochen zum Erliegen gebracht. Das ist Gott sei Dank vorbei. Aktuell analysieren wir die Lage sehr genau und schauen uns an, ob es, etwa beim Gesundheitsschutz und den Masken, Produkte und Dienstleistungen gibt, die man im eigenen Land haben sollte. Allerdings: Das nur in einer Region und für eine Region gebaute Automobil wird es nicht geben. Das macht auch wirtschaftlich keinen Sinn – wir produzieren für den Weltmarkt.

Der VDA vertritt nicht nur die Automobilhersteller, sondern auch die Zulieferer. Haben sich diese auf die Globalisierung eingestellt?

Die deutschen Zulieferer, ob groß oder klein, sind international sehr gut aufgestellt und liefern weltweit qualitativ hochwertige Komponenten. Wir haben neben den großen Unternehmen viele kleine Unternehmen mit vergleichsweise wenigen Beschäftigten, aber großer Kompetenz. Diese Unternehmen sind in ihrem Bereich oftmals Weltmarktführer. Und viele kleine und mittelgroße Zulieferer sind international präsent, sie haben Werke in zahlreichen Ländern. Es gibt in Deutschland eine unglaubliche Kreativität, Innovationskraft und Flexibilität, um diese Aufgabe auch zu meistern.

Geht es um Themen wie autonomes Fahren oder Cloud-basierte Dienste, hat man den Eindruck, andere wären die Vorreiter. Deutsche Hersteller scheinen von Auflagen und Gesetzgebung gehandicapt. Muss der VDA in der Politik nicht energischer darauf dringen, eine investitionsfreundliche Landschaft zu schaffen?

Auf jeden Fall können wir noch bessere Aufklärungsarbeit leisten. Ich höre immer wieder einmal, die deutsche Automobilindustrie habe diesen oder jenen Megatrend „verschlafen“. Aber die These stimmt nicht. Denn wenn wir uns die Fakten anschauen, sind wir in vielen Punkten weltweit führend. So kommen vier von zehn Patenten für E-Autos von deutschen Zulieferern und Herstellern. Beim autonomen Fahren liegt die Quote ebenso hoch, bei Patenten auf Batterietechnik sind es 30 Prozent – ebenfalls die Spitzenposition. Unsere Unternehmen investieren jährlich rund 45 Milliarden Euro weltweit in Forschung und Entwicklung, 60 Prozent davon in Deutschland. Damit ist Deutschland im internationalen Vergleich Spitzenreiter – vor Japan und den USA. Wir sind in vielen Gebieten auf der Pole-Position, das wollen wir noch deutlicher betonen. Generell gilt für unser Land: Wir sollten aufgeschlossen sein und die vielen Veränderungen, die anstehen, mutig angehen.

Gibt es vielleicht zu viel Technikfeindlichkeit in Deutschland?

Deutschland hat sehr gute, kreative Ingenieure, gerade in der Automobilindustrie. Sie sind, in Kombination mit den hohen FuE-Investitionen, die Motoren der Innovation. Wichtig ist zudem, die inhaltlichen Themen ernst zu nehmen, sie engagiert weiterzutreiben und für die Menschen gute Lösungen anzubieten. Mir ist aber auch klar: Unsere gesellschaftlichen Ziele – Klimaschutz, eine starke Wirtschaft und nachhaltige Mobilität – werden wir nur mit einer klugen, dem Klimaschutz verpflichteten, modernen Industriepolitik schaffen. Und dazu gehören nicht Verbote, sondern Technologieoffenheit und die Freude am Denken. Dafür will ich auch ganz persönlich werben.

Schon vor der Coronakrise hatten Automessen einen schweren Stand. Wie stellt sich der VDA als Veranstalter der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) die Zukunft der Automesse vor? Mobilität ist ein Grundbedürfnis der Menschen – es in allen seinen Facetten zu erfüllen wird eine immer größere Aufgabe. Deshalb wird die IAA neue Wege zeigen, wie Mobilitätsaufgaben miteinander verbunden werden können. Die IAA versteht sich als Treiber. Es wird kein „Entweder-oder“ geben, sondern ein vielfältiges „Und“. Daher wird die IAA in München mehrere Veranstaltungsformate anbieten. Zum einen das Summit, ein Branchentreffen für die Fachwelt und Kongressveranstaltung, und vielleicht noch am ehesten mit einer klassischen Messe vergleichbar. Zudem gibt es die Blue Lane – eine Teststrecke für nachhaltige Mobilität: eine Verbindung vom Messegelände in die Münchner Innenstadt, auf der man neue Antriebstechnologien selbst testen und erleben kann. Und es gibt den Open Space für die breite Öffentlichkeit im Herzen der Stadt, an zentralen Plätzen. Überall wird der Dialog über Innovationen stattfinden. Diese Kombination ist einzigartig. Und es gibt keine Messe, die wir damit kopieren.

Was bedeutet Ihnen Rotary?

Ich verstehe Rotary als eine Gemeinschaft, die branchenübergreifend interessante Menschen aus den unterschiedlichsten Berufsgruppen zusammenführt. Politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Fragen werden bei Rotary aus den verschiedensten Perspektiven behandelt – das öffnet Horizonte. Meine Präsenz bei den Veranstaltungen und Treffen ist aufgrund meines Amtes als VDA-Präsidentin eingeschränkter als zu früheren Zeiten. Allerdings kann ich feststellen, dass das Netzwerk und die vielen persönlichen Kontakte weiterhin gut sind. Und: Trotz Corona findet ein reger Meinungsaustausch statt.

Das Gespräch führte Wolfgang Hörner.