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Titelthema: Tradition

Wohlstand und soziales Gleichgewicht

Seit Generationen steht die deutsche Wirtschaft für eine hohe Innovationskraft und Leistungsstärke. Gedanken zu den wichtigsten Traditionssträngen.

Alfred C. Mierzejewski01.06.2017

Die Wirtschaftstätigkeit ist kein Selbstzweck. Sie ist eine notwendige, aber subsidiäre Funktion auf unserer Suche nach dem guten Leben. Die deutsche Wirtschaft von heute ist das Produkt eines langen Entwicklungsprozesses, der in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg einem grundlegenden Wandel unterworfen war. Nachdem das Hauptgewicht zuvor ­darauf lag, eine starke Nation zu schaffen, die fähig ist, auf der Weltbühne um Macht zu konkurrieren, wurde sie zu einem Mittel der Förderung demokratischer politischer Werte, indem sie für einen respektablen Lebensstandard für alle sorgt und die Zusammenarbeit zwischen den Menschen begünstigt. Die deutsche Wirtschaft änderte sich, da sich die Prioritäten der Deutschen änderten.

Der starke Staat

Das wohl beständigste Merkmal der deutschen Wirtschaftsordnung ist der starke Staat. Die deutschen Regierungen waren immer darum bestrebt, das wirtschaftliche Verhalten zu formen. Schon die Fürsten der deutschen Staaten versuchten, Regeln für Preise und Geschäftspraktiken, die sie für lauter hielten, durchzusetzen. Sie errichteten auch Staatsunternehmen, um ihre militärischen Ambitionen zu unterstützen und Steuereinnahmen zu erzielen. Diese Tradition staatlicher Inter­vention blieb über die Zeit der rasanten Industrialisierung im 19. Jahrhundert ­bestehen. So versuchten die Länder- und Reichsregierungen z. B. den Eisenbahnbau zu lenken. Diese Entwicklungslinie gipfel­te in den Bemühungen der Nazis, bei ihrem Versuch, Europa zu erobern, die industriel­len Ressourcen Deutschlands zu konzentrieren.

Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland änderte sich nach 1949 der Zweck der Wirtschaftstätigkeit. Konrad Adenauer führte Westdeutschland mit ­Un­terstützung seines Wirtschaftsministers Ludwig Erhard in die westliche Werte­gemeinschaft. Dadurch verschob sich das Ziel der Wirtschaftstätigkeit hin zur Befriedigung der Verbraucherbedürfnisse. In jün­gerer Zeit muss die Wirtschaftstätigkeit zudem Umweltziele verfolgen. Die Wirtschaft könnte ohne die allgemeine Akzeptanz der Rechtsstaatlichkeit nicht reibungslos funktionieren. Die Wirtschaftstätigkeit findet im Rahmen bestimm­ter Regeln statt. Einige sind als Gesetze kodifiziert, andere sind ungeschrie­bene moralische Wertmaßstäbe, die von den meisten Wirtschaftsakteuren akzeptiert werden. Diese Regeln hindern sowohl die Regierung als auch die Unternehmen daran, ihre Stellung auf Kosten der Bürger zu missbrauchen.  Einige der wichtigsten dieser Regeln schützen das Privateigentum. Ohne die Unantastbarkeit des Eigentums würde nicht nur die Wirtschaft viel von ihrer Stärke einbüßen, auch eine Reihe anderer Bürgerrechte würde erodieren, was Armut und Gewaltherrschaft zur Folge hätte.  

Das Eigentumsrecht gilt jedoch nicht unbegrenzt. Deutschland hat keine – und hatte nie eine – Laissez-faire-Wirtschaft.  Seit 1949 erlegt das Grundgesetz der Wirtschaft ausdrücklich eine soziale Verantwortung auf.

Vorsprung durch Innovation

Eine der stärksten Traditionen der deutschen Wirtschaft ist der Wille zur technologischen Innovation. Nachdem es im späten 19. Jahrhundert eine Position auf technisch höchstem Stand einnahm, fiel Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in zahlreichen Technologien auf eine Ver­folgerposition zurück. Dennoch haben die deutsche Tradition der Qualitätsarbeit, die bei den mittelalterlichen Zünften ihren Ursprung hat, und die spätere Befürwortung des Freihandels dazu geführt, dass deutsche Firmen neue Technologien, die im Silicon Valley oder in Asien entwickelt wurden, schnell in traditionelle industrielle Produkte wie Autos integrieren. Insbesondere seit den 1950er Jahren arbeiten kleine und mittlere Unternehmen – der Mittelstand – eifrig daran, neue Technologien in ihre Produkte zu integrieren und mit ausgezeichnetem Kundenservice zu verbinden, um sich auf internationalen Märkten als Marktführer zu etablieren.

Ein weiteres Merkmal der deutschen Wirtschaft ist die private Organisation der Unternehmen. Von den Kartellen, die in den 1880er Jahren entstanden, bis hin zu den Nachkriegsverbänden haben sich deut­sche Unternehmen zusammengeschlossen, um den Wettbewerb zum Schaden der Verbraucher zu beschränken. Ludwig Erhard versuchte, dieses Verhalten mit sei­nem Wettbewerbsgesetz von 1957 zu been­den. In jüngerer Zeit hat die Europäische Kom­mis­­sion die deutsche Wirtschaft dazu auf­­gefordert, um die Gunst der Verbraucher zu konkurrieren.

Alfred C. Mierzejewski
Alfred C. Mierzejewski ist Professor am Department of History an der University of North Texas. 2005 erschien seine Biographie „Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft“ (Siedler). history.unt.edu