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Zwischen Stolz und Unsicherheit

Titelthema - Zwischen Stolz und Unsicherheit
STRATEGEM 19 - Unter dem Kessel das Brennholz wegziehen. © Illustration Claudia Lieb

Chinas patriotische Jugend ist das Rückgrat der KP. Sie hat bisher nur Wirtschaftsboom und den Aufstieg ihres Landes erlebt. Doch die Krise um das Coronavirus zeigt, dass die Loyalität zur autoritären Führung Risse bekommen kann.

Harald Maass01.03.2020

Jedes Jahr Anfang Juni steht China für zwei Tage still. Die Straßen in der Nähe von Schulen, und manchmal ganze Stadtviertel, werden für den Verkehr gesperrt. Polizisten achten darauf, dass keine laute Musik ertönt oder Maschinen rattern. Vor manchen Schulen vertreiben Eltern Vögel aus den Bäumen, damit diese nicht zwitschern. Möglichst ruhig soll es sein, wenn die rund zehn Millionen Schüler den „gao kao“ absolvieren, das jährliche Zentralabitur.

Das Streben nach Wohlstand

Der „hohe Test“, so die wörtliche Übersetzung, ist mehr als eine Abschlussprüfung. Für viele Chinesen sind die zweitägigen Tests ein einschneidendes Lebensereignis. Denn das Prüfungsergebnis – maximal 750 Punkte sind möglich – entscheidet nicht nur, ob und auf welche Universität man kommt. Weniger als ein halbes Prozent der Prüflinge schaffen es auf eine der Elitehochschulen in Peking oder Shanghai. Der „gao kao“ ist auch eine Vorentscheidung über den Karriereweg und oftmals für den künftigen Erfolg im Leben. Die jährliche Prüfung ist ein Spiegel der Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die so widersprüchlich ist wie das Riesenreich.

Kein Volk hat in den vergangenen Jahrzehnten einen so radikalen Wandel erlebt wie die Chinesen – ein atemraubender ökonomischer und gesellschaftlicher Umbruch. Seit dem Beginn der Öffnungspolitik Ende der 1970er Jahre hat sich die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung mehr als verdreißigfacht. Das einst bettelarme Land hat heute nach den USA die zweitmeisten Dollar-Milliardäre. China kann innerhalb kürzester Zeit modernste Flughäfen, Schnellzugverbindungen und ganze Städte errichten – eine Fähigkeit, um die es selbst westliche Industrienationen beneiden. Gleichzeitig herrscht bei vielen Chinesen jedoch eine tiefe Unsicherheit. Wer kann, bringt sein Vermögen ins Ausland, schickt seine Kinder zum Studium nach Übersee. Es ist ein Land, in dem die Regierung den Menschen misstraut. Millionen von Überwachungskameras kontrollieren immer größere Teile des öffentlichen und privaten Lebens. In der Region Xinjiang in Westchina werden bis zu eine Million Menschen in Umerziehungslagern festgehalten.

Ein Grund für Chinas enormen wirtschaftlichen Erfolg ist der „gao kao“, der auch ein Symbol für den Aufstiegswillen vieler Chinesen ist. In kaum einer anderen Kultur hat Bildung und das Streben nach Wohlstand einen so hohen Stellenwert. Chinesen geben einen Großteil ihrer Ressourcen – Unmengen an Geld, Zeit und Beziehungen –, nur damit der Sohn oder die Tochter eine gute Ausbildung bekommt. Dabei zählt weniger die persönliche Einzelleistung, sondern das Kollektiv, in diesem Fall die Familie. Dort wird die Vorbereitung für die Abschlussprüfung meist generalstabsmäßig vorbereitet – von der Auswahl des richtigen Kindergartens über eine ganze Industrie an Nachhilfelehrern bis zu Online-Kursen. Für viele Chinesen besteht die Kindheit praktisch nur aus Lernen. Selbst in der Krise um das Coronavirus macht der Bildungswettbewerb keine Pause. In der abgeschotteten Metropole Wuhan, wo Hunderte Menschen an der Krankheit gestorben sind und Millionen unter häuslicher Quarantäne stehen, schicken Lehrer weiter Übungsaufgaben und Lehrmaterial an die Schüler. Auch in der Krise wird weitergebüffelt.

Ausgeprägter Familiensinn

Auch wenn viele Chinesen den Bildungswettbewerb in ihrem Land mittlerweile kritisch sehen, verbindet der „gao kao“ zwei Stärken der chinesischen Kultur: das Streben nach Bildung sowie einen ausgeprägten Familiensinn. Sie sind eine wesentliche Grundlage für den enormen wirtschaftlichen Aufstieg Chinas in den vergangenen Jahrzehnten. In nur wenigen Generationen ist es der Volksrepublik gelungen, von einer armen Agrarnation zu einer mächtigen Industrie- und Wissensgesellschaft aufzusteigen. Hunderte Millionen Bauern wurden zu Stadtbewohnern, und viele davon zu Akademikern. Eine riesige gesellschaftliche Aufstiegsmaschine, angetrieben vom Fleiß und Ehrgeiz der Familien. Es ist dieser Aufstieg, sowohl im eigenen Leben als auch kollektiv als Nation, der viele Chinesen besonders geprägt hat. Wer heute unter vierzig Jahre alt ist, hat praktisch nur den Wirtschaftsboom erlebt. Jedes Jahr gab es etwas mehr Wohlstand. Während die Generationen der Eltern und Großeltern noch die politischen Exzesse und Hungersnöte der Mao-Zeit erlebten, kennen jüngere Chinesen nur Aufschwung. Vom Fahrrad zum ersten eigenen Auto. Vom einfachen Wohnheimzimmer zur modernen Hochhauswohnung. Fernreisen, Luxusartikel, gute Restaurants – vor einer Generation hätten die meisten Chinesen von solchen Dingen nicht einmal zu träumen gewagt. Heute sind sie Alltag.

Das Vertrauen in die KP

Ist es da verwunderlich, dass das Versprechen vom „Chinesischen Traum“, mit dem Staats- und Parteichef Xi Jinping für ein starkes China wirbt, bei vielen verfängt? Chinas heutige Generation ist so wohlhabend wie keine andere in der Geschichte des Landes. Und sie ist patriotisch. Seit den Studentenprotesten von 1989, als die Kommunistische Partei mit Panzern gegen die jungen Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens vorging, hat die Regierung die ideologische Kontrolle an den Schulen und Universitäten immer weiter ausgebaut. Wer heute als junger Chinese ins Berufsleben startet, hat mehr als ein Jahrzehnt systematischer Indoktrinierung und stramm nationalistischer Erziehung hinter sich. Die KP hat es geschafft, dass sie in den Köpfen der Chinesen als alleiniger Garant für die enormen wirtschaftlichen und politischen Erfolge steht. Stolz auf das Vaterland zu sein, so lernen es die Kleinen schon im Kindergarten, heißt, stolz auf die Kommunistische Partei zu sein.

Die Essenz des Patriotismus ist die vereinigte Liebe für das Land, die Partei und den Sozialismus“, sagt Xi Jinping.

Wie kein Führer seit Mao Zedong hat er den Personenkult um sich befeuert. Wenn der „Vorsitzende Xi“ ein Restaurant besucht, reißen sich anschließend die Menschen darum, dort zu speisen. Das Dorf Liangjiahe, in dem Xi während der Kulturrevolution lebte, ist heute eine Pilgerstätte mit täglich mehreren Tausend Besuchern. Xi Jinpings Gedanken haben offiziell Verfassungsrang. Vergangenes Jahr gab Peking eine App heraus, mit der die Menschen die Slogans des Präsidenten auswendig lernen sollen. Mit mehr als 100 Millionen aktiven Nutzern war sie zeitweise die populärste App in China.

Führerkult, plärrende Propaganda, staatliche Überwachung – gesellschaftlich bewegt sich China mit großen Schritten zurück in eine Zeit, die ältere Chinesen an die Kulturrevolution erinnert. Risse und Widersprüche in der Gesellschaft werden mit Nationalismus gekittet. Wenn Chinas Fußballnationalmannschaft gegen Japan spielt, bis heute von der Propaganda als Erzfeind verschrien, kann man im Internet Kommentare wie „Köpft die japanischen Teufel!“ lesen. Ausländische Firmen werden attackiert und mit Boykottaufrufen unter Druck gesetzt, wenn sie auf ihren Webseiten Taiwan nicht als Teil Chinas markieren. Als die dänische Zeitung Jyllands-Posten vor Kurzem eine Karikatur abdruckte, bei der in einer chinesischen Flagge die gelben Sterne durch Viren ersetzt waren, sah die chinesische Botschaft sofort eine „Beleidigung Chinas“. Die Zeitung, so die Forderung der Diplomaten, müsse „ihren Fehler bereuen und sich öffentlich beim chinesischen Volke entschuldigen“.

Bei vielen Chinesen kommt Pekings selbstbewusstes Auftreten in der Welt gut an. Jedes Kind kennt die Geschichte von der „Erniedrigung Chinas“ vor der Gründung der Volksrepublik. Jeder Student hat gelernt, dass die USA und der Westen ihr Vaterland klein halten wollen. Was ist mit den gravierenden Menschenrechtsverletzungen? Gibt es in anderen Ländern doch auch, erklären die jungen Patrioten. Demokratie und Freiheiten? Bringen nur „luan“ – Chaos. Für viele ist der wirtschaftliche Erfolg der Beweis, dass Chinas System der Einparteienherrschaft den westlichen Demokratien überlegen ist. Die USA unter einem Präsidenten Donald Trump sind für sie eine Großmacht im Niedergang. Europa sehen sie als gespalten und schwach.

Kaum gesellschaftlicher Diskurs

Natürlich gibt es auch andere Stimmen. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich in China auch eine wachsende Zivilgesellschaft herausgebildet. Junge Menschen, die sich für Umwelt- und Klimaschutz engagieren, die für mehr gesellschaftliche Toleranz und Sozialstaat eintreten. Manche sind in die Provinzen gezogen und haben Kommunen gebildet, als Alternativen zu dem allein auf Konsum orientierten Lebenswandel in China. Doch sie sind eine verschwindende Minderheit. Unter der Führung Xi Jinpings sind die Freiräume für Kritik so klein geworden, dass der gesellschaftliche Diskurs fast zum Erliegen gekommen ist. Korrespondenten in Peking berichten, dass sie kaum noch Interviewpartner finden. Jeder hat Angst, etwas Falsches zu sagen. Ein Hinterfragen der Staatsmeinung, selbst bei unpolitischen Themen, ist kaum noch möglich. Das einzige Ventil für die Gesellschaft ist der Nationalismus. Als in Hongkong die Studenten und Bürger auf die Straßen gingen, kritisierten Festlandchinesen die Demonstranten in Internetforen als „undankbar“ und „Anti-Patrioten“. Manche forderten die Regierung auf, mit Militärgewalt gegen die Hongkonger vorzugehen.

Hinter den oft reflexartigen nationalistischen Parolen steckt jedoch nicht nur vermeintliche Stärke, sondern auch eine tiefe Unsicherheit. Trotz des rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs fehlt vielen Chinesen das Gefühl von Stabilität. Die Ausbildung der Kinder, ein gutes Auskommen im Alter, eine gute medizinische Krankenversorgung – all das ist in China teuer. Wer heute vergleichsweise wohlhabend ist, kann morgen alles verlieren, weil man an einen korrupten Kader gerät oder ein naher Angehöriger eine teure Operation braucht. „Auch wenn wir auf dem Papier reich sind – wir haben eine Wohnung in Peking –, habe ich ständig das Gefühl, dass alles zusammenbrechen könnte“, sagt eine junge Familienmutter.

Möglicherweise ist die Unterstützung des Volkes für die KP nicht so stark, wie es oft den Anschein hat. Als Anfang des Jahres das Coronavirus ausbrach, schien die Regierung die öffentliche Meinung zunächst hinter sich zu haben. Stolz verfolgte das Volk die Berichte im Staatsfernsehen, wie die Behörden innerhalb weniger Tage ein komplettes Krankenhaus aus dem Boden stampften. Als später jedoch herauskam, dass die Regierung den Ausbruch der Krankheit vertuscht hatte und Ärzte durch die Sicherheitspolizei einschüchtern ließ, drehte sich die Stimmung. „Das derzeitige System wirkt so dynamisch, und doch bricht es unter der Regierungskrise völlig zusammen“, zitierte die New York Times aus einem Weibo-Post. „Wir haben unsere Rechte aufgegeben im Gegenzug für Schutz. Aber was für ein Schutz ist das? Wohin wird uns die andauernde politische Apathie führen?“ Die Nachricht wurde 7000-mal geteilt, ehe Zensoren sie löschten. Ein Reporter einer Staatszeitung in der Provinz Hubei, die von dem Virus besonders betroffen ist, forderte den „sofortigen Austausch der Führer“ der Provinz. Ein in China unerhörter Vorgang.

Familie als erste und letzte Instanz

In der Krise zeigt sich, wo die wahre Loyalität der Chinesen liegt. Statt auf den Staat zu vertrauen, ziehen sich die Men- schen in die Familie zurück und helfen sich gegenseitig. In Wuhan, seit Wochen von der Außenwelt abgeschottet, gehen die Bewohner nur noch für die notwendigsten Dinge aus dem Haus. Um die Angst und auch die Langeweile zu zerstreuen, so zeigen es Videos im Internet, sitzen sie abends im Familienkreis auf dem Balkon und unterhalten sich über die Häuserdächer hinweg mit den Nachbarn. Andere stehen vor dem geöffneten Fenster, singen gemeinsam Lieder und sprechen sich gegenseitig Mut zu. Oft hört man in den Hochhausschluchten den Ruf „Wuhan, jia you!“ – frei übersetzt: „Wuhan, bleib stark!“.


Erklärung zur Illustration STRATEGEM 19

„Unter dem Kessel das Brennholz wegziehen“ ist eine strategemische Umschreibung von unserem „Wehret den Anfängen“. Man will mögliche Gefahren bereits im Keimungs- zustand, ja bevor sie zu keimen beginnen, beseitigen. Viele Maßnahmen wie Überwachung und die eingeschränkte Internetsouveränität dienen zum Abbau innerer Spannungen im Riesenreich. Chinas Regierung sah in ihrem Haushalt jeweils mehr Geld für die innere Sicherheit vor als für die Landesverteidigung.


 

Harald Maass

Harald Maass hat über ein Jahrzehnt als Korrespondent für Zeitungen und Magazine aus China berichtet. Der promovierte Politologe lebt heute als Unternehmensberater und freier Autor in München. Seine Texte wurden mehrfach ausgezeichnet – zuletzt mit dem Deutschen Reporterpreis 2019.

haraldmaass.de