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Erkenntnis und Empathie

Das Kaiserreich mit anderen Augen betrachten

Mit seinem Buch »Die Schlafwandler« hat der Historiker Christopher Clark einen Nerv getroffen. Seine These, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs weniger deutschem Großmachtstreben geschuldet war als vielmehr einer komplizierten Mächtekonstellation, die während der Juli-Krise 1914 zu einer Verkettung fataler Entscheidungen geführt hat, wird im In- und Ausland breit diskutiert. Die Beiträge des März-Titelthemas hinterfragen, was diese neue Sicht für das Verständnis der jüngeren Geschichte bedeutet.

Ulrich Sieg14.03.2014

Der Erste Weltkrieg zählt zu den grundstürzenden Ereignissen der Geschichte. Insgesamt kamen über neun Millionen Soldaten ums Leben, das waren mehr als sechstausend Menschen jeden Tag – nach einem Jahrhundert ohne größere Kriege in Europa eine gewaltige Zahl von Opfern. Das technisierte Massensterben an der Westfront sprengte die Grenzen der Vorstellungskraft und beendete eine Epoche, die trotz aller Konflikte von Vertrauen in den Fortschritt geprägt war. Rückblickend konstatierte der Philosoph Hans-Georg Gadamer: „Das stolze Kulturbewußtsein des liberalen Zeitalters und sein auf Wissenschaft gegründeter Fortschrittsglaube sind in den Materialschlachten des Stellungskriegs [...] zugrunde gegangen.“ Und die amerikanische Historikerin Barbara Tuchmann stellte zu Beginn der 1960er Jahre lakonisch fest, dass sich der Erste Weltkrieg „wie ein breiter Streifen verbrannter Erde zwischen uns und die Zeit davor geschoben“ habe.

Bereits unmittelbar nach seinem Ende beschäftigte der „Große Krieg”, wie ihn die Zeitgenossen nannten, die durch nationale Perspektiven bestimmte Geschichtsschreibung. Gegenüber den Kriegsgegnern ging es um die Zurechnung von Schuld und die Verteilung der gewaltigen Kriegslasten. Umfassende Akteneditionen wurden in Auftrag gegeben, welche die Makellosigkeit der „eigenen Sache“ erweisen sollten. Im Innern beherrschten schon bald politische Konflikte die Auseinandersetzung um das Erbe des Weltkriegs. Die Deutung der Vergangenheit war umstritten, und es ist bezeichnend für das verbitterte Zeitklima, dass die radikal-nationalistischen Kräfte im Kampf um die Erinnerung besonders erfolgreich waren. Die NSDAP stilisierte Hitler zum unbekannten Gefreiten, der besser als jeder andere um die Tapferkeit des Feldheeres wisse und den Versailler Vertrag revidieren werde.

Nach 1945 dauerte es eine Weile, bis man sich erneut mit den Ursachen des Ersten Weltkriegs beschäftigte. Jahrzehntelang wurde die Diskussion durch die Thesen des Hamburger Historikers Fritz Fischer bestimmt, der 1961 den Weltkrieg als Resultat zielgerichteter deutscher Außenpolitik, als „Griff nach der Weltmacht” interpretierte. Doch ironischerweise hat gerade seine intentionalistische Gedankenführung zu einem vertieften Verständnis der unübersichtlichen Vorkriegslage geführt, in der Ängste eine wichtige Rolle spielten. Dies passte schwerlich zu Fischers gravitätischer Vorstellung einer alleinigen deutschen Kriegsschuld, deren Wurzeln im autoritären Charakter des Wilhelminischen Kaiserreichs liegen sollten.

Genau hier setzt Christopher Clark an, dessen Buch „Die Schlafwandler“ offenkundig einen Nerv getroffen hat. Es betont die internationalen Abhängigkeiten und zufälligen Faktoren in der Vorgeschichte des Weltkriegs. Im Unterschied zu Fischer behandelt Clark auch die anderen europäischen Mächte, die ihre Machtinteressen verfolgten und ihren je eigenen Anteil am Zustandekommen der Katastrophe hatten. Jede einseitige Zurechnung der Kriegsschuld wirkt vor dem Hintergrund des entgleisenden europäischen Staatensystems und seinen überforderten Akteuren eigentümlich unterkomplex. Von der Theorie eines „deutschen Sonderwegs“, der das Kaiserreich substantiell von Westeuropa unterscheidet, hat sich die Fachwissenschaft ohnehin seit längerem verabschiedet.

Zerrbilder des Kaiserreichs

Nach wie vor setzen die Massenmedien jedoch auf eine holzschnittartige Darstellung der deutschen Vergangenheit. So wird der Mythos einer umfassenden deutschen Kriegsbegeisterung hingebungsvoll gepflegt. Immer wieder sieht man die Bilder jubelnder Massen, die einst zu Propagandazwecken eingespielt wurden, und hört kaum etwas von den großstädtischen Antikriegsdemonstrationen. Auch die Sorgen der Landbewohner, die im August 1914 schlicht die Ernte einzubringen hatten, oder die Hamsterkäufe der verängstigten Bevölkerung werden nur selten erwähnt. Statt dessen äußern sich Experten, die das Kaiserreich als autoritäre „Untertanengesellschaft“ oder gar als „Schurkenstaat“ bewerten.

Dies ist jedoch ein Zerrbild und sorgt dafür, dass die tieferen Gründe des Weltkriegs gar nicht erst in den Blick kommen. Das Kaiserreich war eine dynamische Gesellschaft, die um ihre Balance rang. Den Weg zur Partizipation breiter Bevölkerungsschichten hatte man begonnen, doch wusste niemand, wann es zu einer Lösung der Sozialen Frage oder einer umfassenden Parlamentarisierung kommen würde. Als Resultat verfehlter Außenpolitik war Deutschland international isoliert, und als Folge des gewaltigen wirtschaftlichen Erfolgs herrschten in den Nachbarländern beträchtliche Ängste. Gleichzeitig wurden das deutsche Bildungswesen und die reiche städtische Kultur allgemein bewundert. Schließlich sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass auch Großbritannien mit seinen scharfen Klassengegensätzen und der ungelösten Irland-Frage oder das vom Dreyfus-Skandal erschütterte Frankreich vor gravierenden Problemen standen. An einen gesamteuropäischen Krieg dachten selbst nach dem Attentat von Sarajewo nur wenige.

Im Sog der Propaganda

Ein tiefschwarzes Bild der deutschen politischen Kultur vor 1914 führt auch zu einer Verzeichnung des Kriegs selbst. So lässt sich der propagandistische Einsatz von Intellektuellen nur als internationales Phänomen angemessen verstehen. In Deutschland überwogen anfangs keineswegs schroffe Feindbilder, sondern herrschte das Gefühl, für die Behauptung der eigenen Kultur zu kämpfen. Fritz Fischer sitzt der britischen Propagandamaschinerie auf, wenn er einem mediokren Militärschriftsteller wie Friedrich Bernhardi symptomatische Bedeutung zuweist. Vielmehr dominierte in Deutschland die Vorstellung eigener Überparteilichkeit, die in einem erbittert geführten Krieg nicht eben klug war und kaum verfangen konnte. Insbesondere verfehlte der Aufruf von 93 renommierten Gelehrten sein Ziel, die am 4. Oktober 1914 die Doppelmoral der Entente anprangerten. Mit bestem Gewissen beschworen sie die Tradition Goethes, Kants und Beethovens für die „deutsche Sache“ und verstärkten im Ausland doch nur den Eindruck selbstgerechter Borniertheit.

Mit der Zeit gerieten immer mehr Intellektuelle in den Sog des Propagandakriegs. Max Scheler sah in der englischen Lebensart den Geist des Ressentiments und kalkulierende Berechnung am Werk. Der medienerfahrene Nationalökonom Werner Sombart warnte vor der drohenden „Verameisung“ des Menschen, falls die kapitalistische Wirtschaftsordnung des Westens allgemein siegreich sein werde. Noch charakteristischer für die akademische Welt waren die Gedanken Rudolf Euckens, der als Literaturnobelpreisträger über beträchtliches internationales Ansehen verfügte. Der Jenaer Ordinarius verherrlichte die idealistische Tradition und folgerte aus dem geschichtsphilosophischen Auftrag der deutschen Nation einen glücklichen Kriegsausgang.

Zur entscheidenden ideenpolitischen Auseinandersetzung kam es im Hungerwinter 1916/17, als die mentalen Ressourcen erschöpft waren und der 1914 verkündete Burgfrieden seine Überzeugungskraft verloren hatte. Nun diskutierte man im Kaiserreich darüber, ob Juden überhaupt in der Lage seien, einen vaterländischen Denker wie Fichte zu verstehen, während gleichzeitig die an der Front durchgeführte Konfessionsstatistik den jüdischen Patriotismus prinzipiell in Frage stellte. So ungerechtfertigt und infam dies war, sollte man jedoch den Zäsurcharakter der „Judenzählung“ nicht überbetonen. Denn die vor 1933 verfassten Erinnerungen scheinen zu belegen, dass die Mehrheit des Judentums noch mitten im Krieg auf die Kraft des Rechtsstaats vertraute und sich mit der deutschen Nation identifizierte.

Ringen mit der Niederlage

Im Umgang mit der Kriegsniederlage zeigten sich in der Weimarer Republik die verheerenden Folgen der Sonderwegs-Ideologie. Sie begünstigte nationalistische Überhöhungen auf der radikalen Rechten und verhinderte, wie jüngst Ernst Piper betont hat, ein angemessenes Betrauern der „verlorenen Generation“. Ein Großteil der zwei Millionen gefallenen Soldaten lag auf französischem Boden, und vor 1926 war den Deutschen nicht einmal der Besuch dieser Soldatenfriedhöfe gestattet. Dies musste zu Verbitterung in der Bevölkerung führen, die den Kriegsschuldparagraphen des Versailler Vertrags empört abgelehnt hatte. Vermutlich ist die lang anhaltende Damnatio memoriae auch ein Grund dafür, warum die Identifikation mit den Opfern des Ersten Weltkriegs in Deutschland noch heute schwer fällt.

Ein Gespür für die vielfältigen Dimensionen der Niederlage besaß hingegen Joseph Roth. Der „Große Krieg“ werde mit Recht „Weltkrieg“ genannt, so heißt es in seinem Roman „Die Kapuzinergruft“, „nicht etwa, weil ihn die ganze Welt geführt hatte, sondern weil wir alle infolge seiner eine Welt, unsere Welt, verloren haben.“ Gerade weil diese Äußerung ebenso menschlich ergreifend wie unmittelbar nachvollziehbar ist, sollte sie zu denken geben. Wenn wir die Zeit vor 1914 lediglich als Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs behandeln, werden die Menschen, die ihn erleben mussten, um einen Teil ihrer Geschichte gebracht. Letztlich geht es in einem nuancierten Geschichtsbild um Erkenntnis und Empathie. Beides ist nur zusammen zu haben.
Ulrich Sieg
Prof. Dr. Ulrich Sieg lehrt Neueste Geschichte an der Philipps-Universität in Marburg. Zuletzt erschien von ihm „Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus“ (Hanser 2013). www.uni-marburg.de