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Titelthema

Die Zukunft der Ethnologie

Titelthema  - Die Zukunft der Ethnologie
Prof. Dr. Carola Lentz ist Seniorforschungsprofessorin der Johannes-GutenbergUniversität Mainz und Präsidentin des Goethe-Instituts. Das Bild zeigt sie mit Isidore Lobnibe und Stanislas Meda (r.) im Wissenschaftskolleg zu Berlin, 2018. © Maurice Weiss/Ostkreuz

„Forschen mit“ statt „forschen über“: Multiperspektivität heißt, Kooperationen mit Wissenschaftlern vor Ort zu suchen.

01.09.2021

Vor einiger Zeit konnte ich ein Jahr lang mit zwei afrikanischen Kollegen aus Ghana und Burkina Faso am Wissenschaftskolleg zu Berlin arbeiten. Unser Thema: Familiengeschichte und Familienerinnerung am Beispiel einer global vernetzten ghanaisch-burkinischen Großfamilie. Aus unserer Zusammenarbeit sollten ein gemeinsames Buch und ein Film entstehen. Für den Filmessay, für den schon viel Material vorliegt, sucht unser burkinischer Filmemacher noch eine geeignete Finanzierung. Das Buch, über dessen Korrekturfahnen mein ghanaischer Koautor und ich gerade sitzen, erscheint nächstes Frühjahr in den USA. Der lange Weg zu diesem Text und zum Drehbuch war durch intensive Diskussionen geprägt. Wir haben uns immer wieder über unsere unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema Familie, Verwandtschaft und Erinnerung auseinandergesetzt; in der Schlussphase ließen wir unser Buchmanuskript auch von den porträtierten Familienmitgliedern begutachten, was nochmals neue Aspekte aufwarf.


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In einem Gespräch mit der Wissenschaftsjournalistin Manuela Lenzen zu Beginn unserer Arbeit skizzierten wir unsere Ausgangsüberlegungen. „Für mich ist die Familie vor allem definiert durch einen Gründungsahn, von dem viele abstammen. Durch Heiraten wächst die Familie. Und diese vielen Personen sind miteinander verbunden und auf dieselbe Art und Weise unterwegs in die Zukunft“, sagte Stanislas Meda, Filmwissenschaftler und ehemaliger Staatssekretär im Kulturministerium in Burkina Faso. „Für mich ist die Familie ein Prozess, eine soziale Erfahrung. Dabei werde ich ständig an meine Position in der Familie erinnert – definiert durch

Lineage-Zugehörigkeit, Alter, Geschlecht“, meinte Isidore Lobnibe, mein ghanaischer Koautor und Professor für Ethnologie in den USA. Meine eigene Position lag dicht bei der meines ethnologischen Kollegen: „Familie ist für mich ein Netzwerk möglicher Beziehungen. Sie werden über Abstammung oder Ehe begründet, müssen aber aktiviert werden. Familie ist beides: Struktur und Prozess.“

Ähnlichkeiten und Unterschiede

Das Besondere an unserer Gruppe am Wissenschaftskolleg: Alle drei sind wir Mitglieder der westafrikanischen Großfamilie, die wir erforscht haben. Ich wurde Ende der 1980er Jahre von dieser Familie adoptiert; Stanislas ist mein jüngerer Bruder, Isidore mein Neffe. „Familiengeschichte als Familienunternehmen“ – so hat Manuela Lenzen ihren Artikel über uns betitelt. Und in der Tat: Unsere Arbeit war und ist nicht nur distanzierte Forschung, sondern beeinflusst auch die Familienpolitik und Familienerinnerung selbst, ob wir das wollen oder nicht. Die gemeinsame Arbeit an diesem Thema hat mich auch zu neuem Nachdenken über meine eigene, deutsche Familiengeschichte angeregt. Dabei war eine der Überraschungen, wie ähnlich die Erinnerungsarbeit in unseren Familien funktioniert. So entdeckten wir etwa: Erzählungen über Familienähnlichkeiten in Physiognomie, Vorlieben und Persönlichkeit dienten in Afrika wie in Europa dazu, den Zusammenhalt der Generationen zu beschwören. Bei anderen Aspekten der Familiengeschichte – wirtschaftliche Krisen, politische Disruptionen von Bildungskarrieren, Konfrontation mit Krankheit und Tod und vieles mehr – waren die Unterschiede zwischen den Herausforderungen einer im globalen Süden und einer in Europa verorteten Familie unübersehbar.

Gemeinsam forschen

Warum erzähle ich von dieser besonderen Forschungskooperation? Weil sie ein Beispiel dafür ist, wie wir in einer postkolonialen Welt ethnologisch forschen können. „Forschen mit“, nicht „forschen über“: Dieses Diktum haben sich jüngere Ethnologengenerationen schon seit Längerem zu eigen gemacht. Forschungsthemen entstehen nicht nur durch die Fragen, die die europäische Ethnologin am heimischen Schreibtisch ersinnt. Sie entspringen auch der Auseinandersetzung mit den Interessen und Fragen der Forschungspartner. Ich war im Lauf meiner drei Jahrzehnte Forschung in Afrika immer wieder erstaunt, wie sich meine ursprünglichen Fragen vor Ort verändert haben, wenn meine Gesprächspartnerinnen bestimmte Themen ignorierten und mir andere geradezu aufdrängten. Manchmal wurde ich mit Schweigen und Zugangsbarrieren konfrontiert, die es zu respektieren galt.

Blicke von außen als Bereicherung begrüßen

„Forschen mit“ heißt aber auch: Kooperationen mit Wissenschaftlern vor Ort suchen. Ethnologie gestaltet sich heute nicht mehr als heroische Reise eines Einzelforschers in fremde Welten; häufig arbeiten wir Ethnologinnen in interdisziplinären und internationalen Teams. Das birgt Konfliktpotenzial, aber auch besondere Erkenntnischancen. Natürlich entgehen auch solche Bemühungen um gleichberechtigte Kooperationen nicht den globalen Asymmetrien im Wissenschaftssystem. Dennoch müssen wir immer wieder den Versuch der Kooperation unternehmen. Individuell sind hier Zuhören und Demut notwendig, kollektiv bedarf es des politischen Engagements für eine Veränderung der Rahmenbedingungen.

Doch warum überhaupt Erkundungen jenseits der eigenen Gesellschaft, warum nicht die Erforschung fremder Gesellschaften vollständig deren eigenen Mitgliedern überlassen? Weil wir in unserer globalisierten Welt eine Vielfalt von unterschiedlichen Perspektiven auf unser menschliches Miteinander und seine verschiedenen kulturellen Praktiken mehr denn je brauchen. Erst die Multiperspektivität lässt uns Gewohntes in neuem Licht sehen und erschließt unerwartete Lösungen. Wir sollten uns nicht in unseren je eigenen Gemeinschaften abschotten gegen neugierige Blicke von außen, sondern diese als bereichernd begrüßen. Und umgekehrt kann uns der Blick auf andere Gesellschaften zur Problematisierung eigener Lebensweisen einladen – eine kritische Rückwendung der Erfahrung des „Fremden“ auf die eigene Gesellschaft, die die Ethnologie seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert begleitet hat und die noch heute und auch zukünftig ihr besonderes Potenzial darstellt.

Carola Lenz


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