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„Eine der hässlichsten Thiernaturen“

Titelthema - „Eine der hässlichsten Thiernaturen“
Ein junger Wolf des Altengrabower Rudels nach erfolgreicher Jagd © Axel Gomille

Die Angst, die uns der Wolf heute bereitet, kommt auch daher, dass die Kulturgeschichte ihn schon immer zum Unhold erklärt hat.

Petra Ahne 01.01.2019

In einem Tierlexikon vom Ende des 19. Jahrhunderts findet sich folgender Satz: „In der Reihe der tierischen Individualitäten nimmt er eine tiefe Stufe ein; selbst unter den Raubthieren ist er eins der widerwärtigsten. (...) Tölpischer als der Fuchs, dabei aber tückisch und höchst misstrauisch, ist er tollkühn ohne Schlauheit, in seinem ganzen Wesen ohne alle Schönheit und wohl überhaupt eine der hässlichsten Thiernaturen.“

Es ist der Wolf, der da so beschimpft wird, und für ein Werk, das den Anspruch auf Sachlichkeit erhebt, wirkt der Ton reichlich voreingenommen. Der Wolf wird nicht nur in diesem Buch so unsympathisch dargestellt – man kann eigentlich jede beliebige Naturgeschichte des 17. bis 19. Jahrhunderts zur Hand nehmen und merkt: Es gibt keine neutrale Darstellung des Wolfs. Das Urteil über ihn stand immer schon fest, und es war nicht gut.

Herauszufinden, woran das liegt, hilft zu verstehen, warum der Wolf heute, da er wiederkommt, erneut solche Angst macht – mehr, als man tatsächlich vor ihm haben muss. Es gibt den Wolf da draußen und es gibt den Wolf der Geschichten, Märchen, der Phantasie – und der eine hat mit dem anderen nicht unbedingt viel zu tun. Nur muss der echte Wolf all die Assoziationen, Ängste und Urteile mit sich herumtragen, und an denen hat er ziemlich zu schleppen.

Gedenksteine wie dieser in der Laußnitzer Heide in Sachsen, wo 1740 ein Wolf niedergestreckt wurde, erinnern an die Ausrottung des Wolfs in früheren Zeiten. © Axel Gomille/Frederking & Thaler Verlag 

Auch Bär und Luchs lebten in früheren Jahrhunderten in Europa – und kehren heute genauso wie der Wolf zurück – doch sie galten nicht in gleichem Maße als unheilvoll. Dass dies gerade dem Wolf passierte, hat mit einer ganz realen Eigenschaft zu tun: Er überschritt und überschreitet recht unverfroren die Grenze zu dem Bereich, den der Mensch als den seinen betrachtet. Seit es Nutztiere gibt, also seit etwas 10.000 Jahren, leben Menschen mit einem Konzept von kultiviertem, nutzbar gemachtem Raum einerseits und ungestalteter, unkontrollierbarer Wildnis andererseits. Mehr als etwa Bär und Luchs unterläuft der Wolf aber diese Grenze. Dass er so anpassungsfähig ist, keine besonderen Ansprüche an seinen Lebensraum stellt, macht ihn jetzt zu einer solchen Erfolgsgeschichte des Artenschutzes.

Zudem hat der Wolf ein paar Eigenheiten, die bedrohlich wirken können: Er tritt meist zu mehreren auf, im Rudel. Er tötet auch manchmal mehr Tiere als er fressen kann; ein Verhalten, dass bei einigen Beutegreifern vorkommt, und beim Menschen den Eindruck von Blutdurst erweckt. Außerdem frisst der Wolf Aas, und es ist nicht schwer vorstellbar, welches Grauen es in früheren Zeiten hervorgerufen hat, wenn etwa auf einem Schlachtfeld Wölfe gesehen wurden, die sich über Leichen beugten.

Wie ein Bote aus einer anderen Welt

Solche Eigenschaften sorgten mit dafür, dass der Wolf wie ein Bote aus einer anderen Welt wirkte, der die hiesige Ordnung ins Wanken brachte. Er war die dunkle Seite, dort wollte man nicht hin und sollte es auch nicht. Diese Seite des Daseins sollte er in Märchen, Mythen, Folklore verkörpern.

Die bekannteste Geschichte, in der ein Wolf vorkommt, zeigt das anschaulich: Das Mädchen Rotkäppchen bekommt, als es sich auf den Weg zur Großmutter macht, von der Mutter eingeschärft, auf dem Weg zu bleiben. Dann kommt der Wolf und fordert es auf, doch mal rechts und links zu sehen, die Wiese und die Blumen zu beachten. Rotkäppchen geht auf die Wiese, pflückt Blumen, vergisst alle Zeit und Vorsicht und erzählt dem Wolf, wo seine Großmutter wohnt. Wie das ausgeht, ist bekannt. Der Wolf steht in dem Märchen also für das, was jenseits des buchstäblich rechten Wegs ist – und für das, was passiert, wenn man diesen Weg verlässt.

Gehilfe des Teufels

Wie der Wolf in diese Rolle des Unholds geriet, lässt sich ebenfalls mithilfe von „Rotkäppchen“ zeigen. Das Grimmsche Märchen ist ja nur eine letzte Version einer sehr alten Geschichte. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts, wo diese Geschichte, zunächst mündlich überliefert, ihren Ursprung hatte, traf das Mädchen nicht auf einen Wolf, sondern auf einen Werwolf. Das ist aufschlussreich, denn es war die Figur des Werwolfs, des Mann-Wolfs, die den Wolf in Europa endgültig hinüberzog auf die Seite des Bösen. Wertiere gibt es in vielen Kulturen, auch der Werwolf hat eine lange Tradition, die bis zu Ovids „Metamorphosen“ zurückreicht. Für den Wolf fatal wurde, dass die katholische Kirche sich diese Tradition im Mittelalter zunutze machte. Sie nahm den Werwolf in ihr Personenarsenal auf und machte ihn zum Gehilfen dessen, der das Böse in die Welt brachte: des Teufels.

Der Moment, an dem das geschah, lässt sich ziemlich genau bestimmen: Im späten Mittelalter, ganz genau 1487, vollendete ein Dominikanermönch ein Werk, das er „Malleus maleficarum“ nannte, auf Deutsch: Hexenhammer. Diese dicke lateinische Schrift, im Übrigen auch ein Meilenstein der Frauenfeindlichkeit, wurde zur juristischen Grundlage der Hexenprozesse und sorgte also mit dafür, dass in Europa im 16. und 17. Jahrhundert tausende Menschen starben, unter Folter und auf dem Scheiterhaufen. Das Gefühl, in einer chaotischen, Angst machenden Welt zu leben, in der es Dinge wie Kindstode, Morde, schlechte Ernten gab, wurde durch Schuldzuweisungen in Schach gehalten: Der Teufel war es und die Verbündeten, die er sich unter den Menschen gesucht hatte. Die konnten als „Malefica“ – Unholdinnen, Hexen – Böses tun. Und sich zu dem Zweck, das betraf dann vor allem Männer, auch in Wölfe und andere Tiere verwandeln.

Das Mysterium der Werwölfe

Liest man historische Protokolle von Verhören mit Menschen, die beschuldigt wurden, als Werwölfe ihr Unwesen zu treiben, ist das mehr verwirrend als erhellend. Inwieweit haben diejenigen die Morde begangen, die sie, unter Folter, gestanden haben? Haben sie selbst geglaubt, dass sie Werwölfe sind oder es nur gesagt, um ihre Situation nicht noch zu verschlimmern? Ein Mann gab zu, sich, wenn er zum Wolf würde, mit einer Salbe einzureiben, die ihm der Teufel gegeben habe. Ein anderer, in Wolfsgestalt mehrere Kinder aus Nachbarorten getötet und öfter am Hexensabbat teilgenommen zu haben. Die Protokolle sind ein dichtes Gewebe aus Anschuldigungen und Geständnissen, und man sucht unwillkürlich nach Lücken, hinter denen die Wahrheit aufscheinen könnte: Was ist damals wirklich passiert? Wer wurde getötet und von wem? Und vor allem: Was haben echte Wölfe mit all dem zu tun?

Liest man wissenschaftliche Arbeiten, die sich damit beschäftigen, bekommt man den Eindruck, dass auch die Werwolf-Forschung sich hier nicht ganz leicht tut. Sicher ist, dass von Werwölfen nur dort berichtet wurde, wo es auch Wölfe gab, in Frankreich, Deutschland, der Schweiz. Aus England, wo der Wolf schon im 16. Jahrhundert ausgerottet war, sind auch fast keine Werwolfs-Sichtungen überliefert. Sicher ist aber auch, dass das Verhalten dieser beschriebenen Werwölfe nicht so richtig zu echten Wölfen passt. Sie greifen sehr selten Menschen an – es sei denn, sie sind tollwütig. Es ist also möglich, dass tollwütige Wölfe den Glauben an vom Teufel besessene Werwölfe untermauert haben, und möglich, dass einige der Beschuldigten die Krankheit hatten. Es gibt noch andere Versuche, für die Werwolfs-Fälle eine solide medizinische Erklärung zu finden: eine unheimliche Krankheit namens Porphyrie etwa, die die Betroffenen unter anderem extrem lichtempfindlich macht und die Zähne rötlich-braun färbt. Drogen, die das Gefühl erzeugen, ein Fell zu tragen, Schizophrenie und andere Veränderungen des Gehirns. Die große Zahl der Anklagen lässt sich so aber nicht begründen.

Von der Angstfigur zum Sinnstifter

Aufschlussreicher scheint da zu sein, dass es sich bei denen, die ihrer zweiten Existenz als Werwolf überführt wurden, eher nicht um angesehene Bürger der jeweiligen Gemeinde handelte. Oft waren es Einsiedler, Heiler, Zugezogene, ärmste Bauern. Es waren Menschen, die ohnehin am Rand der dörflichen Gemeinschaft lebten, nun war die Gelegenheit, sich ihrer ganz zu entledigen. Die Verurteilung als Werwolf war eine reinigende Maßnahme: Indem man schwer zu ertragende Seiten im menschlichen Zusammenleben, Niedertracht, Rachsucht, Mordlust dem sowieso gehassten Wolf zuschrieb, ersparte man sich die unangenehme Frage, wie sehr der Mensch selbst möglicherweise noch triebhafte Natur ist.

Der Werwolf hat auch lange nach dem Ende der Werwolfsprozesse weiter Karriere gemacht, bis in die Popkultur von heute, weil er so ein prägnantes Bild bietet für das, was den Menschen an sich selbst gruselt. Der „böse“ Wolf ist auch durch ihn Teil des kulturellen Gedächtnisses geworden. Doch auch dieses kann sich erneuern. Der Wolf kehrt nicht nur buchstäblich zurück nach Deutschland und Europa, sondern auch in Geschichten, Romane und Filme. Da ist ein Roman wie „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ von Roland Schimmelpfennig, erschienen 2016, in dem ein Wolf so orientierungslos durch Brandenburg und Berlin irrt wie die Protagonisten. Oder ein Film wie „Wild“ von Nicolette Krebitz, in dem die zufällige Begegnung mit einem Wolf eine junge Frau dazu bringt, sich von ihrem alten Leben zu lösen.

Die neue Aneignung des Wolfs durch die Kunst beginnt erst, aber es sieht ganz so aus, als ob er diesmal eine andere Rolle zugewiesen bekommt. Er wird nun zum Sinnstifter, zum Versprechen auf ein authentischeres, naturnäheres Leben. In einer solchen Rolle steckt eine neue Gefahr für den Wolf, nämlich die, dass er romantisiert und idealisiert wird. Doch es besteht zumindest die Chance, dass das Bild, das von ihm entsteht, mit dem echten Wolf etwas mehr zu tun hat als bisher. Vielleicht gelingt es sogar, ihn irgendwann so zu sehen, wie er ist: weder gut noch böse, weil diese Kategorien nicht weiterhelfen im Umgang mit der Natur. Wenn der Mensch das begreift, hat er nicht nur den Wolf etwas besser verstanden. Sondern auch die Natur an sich.

Petra Ahne

Petra Ahne ist Redakteurin des Magazins der Berliner Zeitung. 2016 erschien bei Matthes & Seitz „Wölfe. Ein Porträt“.

© Robert-Bosch-Stiftung / Max Lautenschlaeger

 

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