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Titelthema

Leben in ständiger Bewegung

Titelthema - Leben in ständiger Bewegung
Porträt Alexander von Humboldts von Friedrich Georg Weitsch aus dem Jahre 1806. Es zeigt den damals 37-jährigen Naturforscher in einer idealisierten Urwaldlandschaft, in den Händen die Blüten der Rhexia speciosa auf den Knien ein Herbarium. © bpk / Nationalgalerie, SMB / Jürgen Liepe

Wie Alexander von Humboldt durch die Erkundung und Veranschaulichung der Welt zu einem Vordenker der Moderne wurde

Ottmar Ette01.09.2019

Nähern wir uns dem Leben und Schaffen Alexander von Humboldts an, so stehen wir zunächst vor einem Oeuvre von gigantischen Ausmaßen: ein dreißigbändiges Reisewerk, Dutzende von Monographien, Hunderte von Aufsätzen, Abertausende handschriftlicher Seiten seines Nachlasses, etwa fünfzigtausend Briefe lassen uns staunen angesichts einer Schaffenskraft, die bis in die letzten Wochen seines Lebens anhielt. Doch so gewaltig sein Werk auch sein mag, so leicht ist schon eine erste Bekanntschaft mit dem großen Natur- und Kulturforscher, dessen zweihundertfünfzigsten Geburtstag wir in diesem Jahr feiern.

„Fremdling zwischen den Wissenschaften“
Denn Humboldts Biographie gliedert sich auf geradezu wunderbare Weise in drei jeweils knapp dreißig Jahre umfassende Perioden. Während der ersten Phase war der am 14. September 1769 im Zeichen eines Kometen zu Berlin Geborene zu dem geworden, was er selbst einen „Nomaden“, einen „Fremdling zwischen den Wissenschaften“ bezeichnete. Denn der junge Preuße beschäftigte sich mit Chemie und Mathematik, mit Botanik und Geographie, mit Geschichte, Physik und jener Kameralistik, welche er an der Viadrina in Frankfurt „an den frostigen Ufern der Oder“, wie er es selbst nannte, nach dem Willen der Mutter studiert hatte. Diese Vielzahl an Disziplinen hatte er, seinem älteren Bruder Wilhelm folgend, an der damals neugegründeten Spitzenuniversität Göttingen noch um die Anthropologie, die Kraneologie oder Schädelkunde, die Philologie und gewiss auch die Philosophie erweitert. Hinzu kam seine Studienzeit an einer Hamburger Handelsakademie, wo er einen ersten Einblick in die weltweiten Verkehrs- und Handelsströme gewann. In Windeseile schloss er sein montantechnologisches Studium an der berühmten Bergakademie im sächsischen Freiberg in einem Drittel der vorgesehenen Zeit ab und startete eine Blitzkarriere im preußischen Bergdienst. Rasch wurde er zu einem Teil jener jungen „Wilden“, welche die technologische Modernisierung Preußens beherzt vorantrieben. Humboldts weitere Aufstiegschancen in Preußen waren, ganz wie es die Mutter geplant hatte, herausragend. Doch der junge Alexander wollte mehr.
Kurze Zeit nach dem Tod seiner Mutter kehrte Alexander von Humboldt Preußen den Rücken und setzte sein gesamtes beträchtliches Erbe für seine wissenschaftlichen Ziele ein. Er setzte alles auf diese Karte und quittierte seinen Dienst. Wie der Weltumsegler Georg Forster, mit dem er nach England und ins revolutionäre Paris gereist war, sehnte er sich nach einer großen Reise in außereuropäische Regionen. Doch es wurde zunächst eine Reise mit Hindernissen. Eine Weltumsegelung unter Kapitän Baudin oder doch die Begleitung französischer Forscher im Schlepptau des napoleonischen Feldzuges nach Ägypten? Eine riskante Überfahrt nach Tunis und die Erforschung des Maghreb? Oder noch besser vielleicht in den Hohen Atlas und von dort weiter nach Mekka, um über Kairo, und das südliche Europa nach Hause zurückzukehren? Alle Pläne scheiterten. Doch der Gescheiterte wurde dadurch nur gescheiter. Seine Reise durch Spanien an den spanischen Hof führte ihn ins Glück. Denn so wurde eine Reise in die spanischen Kolonialgebiete Amerikas möglich, eine Reise gemeinsam mit Aimé Bonpland durch die heutigen Länder Venezuela, Kuba, Kolumbien, Ecuador, Peru, Mexiko und erneut Kuba, die ihn zwischen 1799 und 1804 in einen internationalen Star der Wissenschaften verwandelte. Damit hatte die zweite Phase seines Lebens begonnen.

Ein neues Verständnis von Wissenschaft
Humboldt war ein begnadeter Reisender. Doch nicht nur sein Leben, sondern auch sein wissenschaftliches Arbeiten waren fortan auf Bewegung gestellt. Es entstand eine neue Wissenschaftskonzeption: die Humboldtsche Wissenschaft, die er mit seiner Reise begründete und mit seinen Schriften in den Wissenschaften etablierte. Seine „Amerikanischen Reisetagebücher“, im November 2013 nach Berlin zurückgekehrt, geben uns heute noch Einblick in deren schrittweise Entwicklung. Ein gewaltiges Reisewerk entstand. Und ein weltweites Renommee wie Donnerhall: „Läuten gehört zum Handwerk“, pflegte er zu sagen. Alexander von Humboldt war der Begründer nicht nur von Einzeldisziplinen wie der Pflanzengeographie oder der Altamerikanistik, sondern weit mehr noch der Erfinder der Humboldtschen Wissenschaft. Er wurde zum Mitglied zahlreicher Akademien ernannt: Humboldt war im Olymp der Wissenschaften angekommen.
Die Humboldtsche Wissenschaft entstand aus der Bewegung, aus den sich stets wandelnden disziplinären Perspektiven und Blickpunkten und vor allem aus einer Kombinatorik, welche schon seinem Bruder Wilhelm früh an ihm aufgefallen war. Er dachte quer zu den Disziplinen: Aus dem Nomaden zwischen den Wissenschaften wurde ein transdisziplinär arbeitender Forscher. Und diese neue, innovative Wissenschaftskonzeption arbeitete Alexander von Humboldt in seiner zweiten Lebensphase aus. Dazu wählte er Paris als sein Domizil und sein Labor. Er hatte keineswegs aufgehört, ein Deutscher zu sein, aber war gleichzeitig längst zu einem Franzosen geworden. Um Nationalismen aller Couleur scherte er sich nicht: Humboldt war Europäer.
Auch den Beginn seiner dritten und letzten Lebens- und Schaffensphase markiert eine transkontinentale Reise. Nach verschiedentlichen vergeblichen Versuchen, eine Reisegenehmigung für das britische Kolonialreich zu erlangen – das Empire fürchtete Humboldts spitze Zunge und seinen erklärten Antikolonialismus –, war es eine Einladung des russischen Zaren, die Humboldts asiatische Reisepläne doch noch zur Realität werden ließ. Zweifellos: An entscheidenden Stellen seines Lebens kam Humboldt immer auch das Glück zu Hilfe. Aber ein Glück, das ihm nur aufgrund seiner Beharrlichkeit zuteil wurde und das Glück des Tüchtigen war.

Erkenntnisse über Himmel und Erde
Mit der Russisch-Sibirischen Forschungsreise beginnt 1829 die letzte, wiederum knapp dreißigjährige Phase seines Lebens und Schaffens, die Humboldt erneut aus der Bewegung neue Horizonte seines Verständnisses unseres Planeten eröffnete. Zu der nord-südlich verlaufenden Reise in die amerikanischen Tropen gesellte sich eine west-östliche Reise in die asiatischen Außertropen: Humboldts Bild der Welt rundete sich. Sein großes Werk – wiederum in französischer Sprache – über Zentralasien basierte auf einer wohlorganisierten Reise, die ihn quer durch das russische Reich bis an die Grenzen Chinas führte. Seine asiatische Reise ermöglichte ihm auch, einen seit den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts gehegten Traum zu verwirklichen: die Niederschrift eines Werkes – wie er selbst sich ausdrückte – „über Himmel und Erde“, über „alles Geschaffene“: seinen „Kosmos“. Als er über dem fünften Band dieser Summa seines Lebens, der zu einem wahren Bestseller geworden war, verstarb, war er nahezu neunzig Jahre alt geworden und hatte mit seinen Schriften drei Generationen von Wissenschaftlern tief geprägt.

Einheit von Natur und Kunst
Einen „Totaleindruck“ seines komplexen Denkens – auch dies eine bei den Humboldt-Brüdern eigene Wortfügung – verschafft uns noch heute sein spektakuläres „Tableau physique des Andes et Pays voisins“, das sicherlich zu den berühmtesten Wissenschaftsdarstellungen des gesamten 19. Jahrhunderts zählt. Auch wenn es den Stand seiner Wissenschaft um 1807 repräsentiert und sich an diesen bei Humboldt ein halbes Jahrhundert wissenschaftlicher Tätigkeiten anschloss, ist es doch von grundlegender Bedeutung für das gesamte Opus Americanum.
Denn in diesem Tableau physique entwickelte er eine beeindruckende Einheit von Natur und Kunst, wie sie auch in seinem Begriff des „Natur-Gemäldes“ selbst zum Ausdruck kommt. Bei dieser einzigartigen Verquickung von Wissenschaft und Ästhetik, bei welcher Ästhetik nicht als „Schmuck“ oder „Zierrat“, sondern als das eigentliche, künstlerisch gestaltete Verbindungswissen zwischen allen Bereichen des Wissens und der Wissenschaft verstanden werden sollte, gelang es dem preußischen Forscher und Gelehrten, gleichsam modellhaft sein Bild vom Planeten Erde – wir würden heute sagen: vom System Erde – herauszuarbeiten. Hier zeigt sich, was Humboldtsche Wissenschaft ist: ein transdisziplinäres, ökologisches Zusammendenken der unterschiedlichsten Faktoren von Natur und Kultur.
Alles ist in diesem Schnitt durch die Anden in Bewegung. Zum einen ist es der Festlandssockel, zu dem Humboldt schon früh festgestellt hatte, dass sich die Umrisse Südamerikas sehr präzise in die Umrisse Afrikas einfügen ließen und daher eine Wanderung des Subkontinents nach Westen wahrscheinlich sei; und zum anderen ist es auch die gesamte dargestellte Geologie, deutet der rauchende Schlund des Vulkans doch an, dass das die Vulkankegel aufbauende Gestein in ständiger Bewegung begriffen ist. Humboldt war in Südamerika zum Plutonisten geworden. In ständiger Bewegung sind aber auch die Pflanzen, ist die von Humboldt begründete Pflanzengeographie doch eine der Pflanzenmigrationen an der Oberflächte der Erde. Auch die verschiedenen Höhenstufen befinden sich in ständiger Bewegung, liefert Humboldt doch Angaben zur Abnahme ihrer jeweiligen Höhe hin zu den Polen.

„Alles ist Wechselwirkung“
Doch in diese Migrationen sind nicht nur verschiedenste Phänomene der Natur, sondern auch der Kultur, der Tiere und vor allem der Menschen miteinbezogen. Im „Naturgemälde der Tropen-Länder“ sind nicht nur die Europäer vermerkt, die Amerika einst eroberten und kolonisierten, sondern auch die afrikanischen Sklaven, welche aus ihrer Heimat verschleppt und in den tropischen Plantagen Amerikas eingesetzt wurden. Mit Vehemenz und Spott wandte sich Humboldt, auch in diesem Tableau, gegen alle Formen von Sklaverei. Die Humboldtsche Wissenschaft war ohne die Humboldtsche Ethik nicht zu denken. Doch auch hier gilt Humboldts auf der amerikanischen Reise gefundenes Axiom: „Alles ist Wechselwirkung.“ Sein ökologisches Denken ist zugleich auch ein Zusammendenken von Natur und Kultur – und der fundamentalen Verantwortung des Menschen für seinen Planeten.

Ottmar  Ette
Prof. Dr. Ottmar Ette ist Professor für Romanistik und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Er ist Herausgeber des 2018 bei J.B.Metzler erschienenen Alexander von Humboldt-Handbuchs. Zuletzt erschien „Alexander von Humboldt und die Globalisierung“ (Suhrkamp 2019). avhumboldt.de