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Der Niedergang des Fachs Geschichte

»Nie was von gehört«

Das Unterrichtsfach Geschichte scheint langsam auszusterben. Die Altvorderen hatten noch ein paar Daten im Kopf. Für die Heutigen ist sogar der Vietnamkrieg mit seinem weltweiten Jugendaufstand Altertumskram. Die Lage wird immer verzweifelter – als stünde die Rote Armee schon in den Müggelbergen.

Josef Joffe07.02.2012

Dieser Autor unterrichtet zurzeit US-Außenpolitik in Stanford, wo die allerschärfste Auslese herrscht. Wer diese Politik verstehen will, muss den großen Bogen schlagen: Warum die Gründerväter Europa verachteten, woher Isolationismus und Interventionismus kommen. Oder Bushs „regime change“. Die Studenten, im vierten Jahr, rätseln; sie wissen auch nicht, wann die Verfassung entstand, das Fundament der amerikanischen Demokratie (Antwort: 1787).

In Deutschland, berichten Profs, sei es kaum anders. Wenn die Studenten Talleyrand hören, denken sie an ein Pariser Drei-Sterne-Restaurant. In England ist Geschichte ab 14 nicht mehr Pflicht; im Saarland soll das Fach in der 10. Klasse abgewählt werden können. Wenn Geschichte noch gelehrt wird, dann verhackstückt: „Industrialisierung“ oder „Krisen des Kapitalismus“. Was vorher und nachher war, lässt sich scheibenweise nicht lernen.

Und doch droht Geschichte das Schicksal von Latein und Griechisch; cool ist Chinesisch. Das Genom ist heute Pflichtwissen, gewiss. Wer aber Geschichte nicht „draufhat“, kann nicht einmal die Zeitungen verstehen. Warum läuft der Krieg in Afghanistan nicht? Dort hat schon Alexander auf Granit gebissen, von dort wurden die Briten im 19. und die Sowjets im 20. Jahrhundert vertrieben. Wieso kommt der Arabische Frühling so spät? Der Würgegriff der Tyrannei ist älter als Gadhafi; den Boden haben 400 Jahre türkischer Herrschaft bereitet.

Lieber was „Handfestes“ wie Wirtschaft oder Jura? Leider ist Geschichte das Gerüst, das Fachwissen von Erkenntnis unterscheidet. Weltwirtschaftskrise I und der „Tulpenwahn“ des 17. Jahrhunderts lassen auch einen Ökonomen die gegenwärtige Misere besser verstehen. Das sei nicht karrierefördernd? Doch! Wer Geschichte lernt, kann recherchieren, analysieren und die Spreu vom Weizen trennen. Wer tausend Einzelheiten verständlich zusammenführen kann, wird weiterkommen als einer, der bloß PowerPoint und Excel beherrscht. Warum klagen Personalchefs zwischen Wuppertal und Washington, dass den Jungen solche Fertigkeiten fehlen?

Wie kann ein junger Mensch rasanten Wandel begreifen, wenn er nicht weiß, was vorher war? Wenn er über den „kleinen Napoleon“ Sarkozy liest und den richtigen nicht kennt? Wie die Konflikte zwischen den Eingesessenen und den Neuen verstehen, ohne die Geschichte der Einwanderung zu kennen? In Europa wie Amerika.

Schließlich ist Geschichte „echt spannend“, wie es auf Neudeutsch heißt. Sie ist das Verzeichnis der Abenteuer der Menschheit, ihrer Tragödien und Triumphe. Sie ist faszinierender als der Blockbuster aus Hollywood. Packender sogar als die Bibel. Aber die wird auch nicht mehr gelernt.

 

Der Artikel erschien ursprünglich in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Josef Joffe
Dr. Josef Joffe ist Herausgeber der „ZEIT“. Von 2001 bis 2004 war er gemeinsam mit Michael Naumann auch ihr Chefredakteur. Zuletzt erschienen „Früher war alles besser. Ein rücksichtsloser Rückblick“ (2010) sowie „Schöner Denken. Wie man politisch unkorrekt ist“ (2010, jeweils bei Piper und gemeinsam mit Dirk Maxeiner, Michael Miersch und Henryk M. Broder). www.zeit.de

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