Wie die Epigenetik an disziplinären Grenzziehungen rüttelt
Schwellenkunde zwischen Natur und Kultur
In der Zeitschrift Biological Psychiatry berichteten 2010 Isabelle Mansuy und ihre Arbeitsgruppe (Uni Zürich) von der Vererbung ängstlichen Verhaltens, das sie bei Mäusen über drei Generationen hinweg beobachten konnten. Da sie zugleich eine veränderte Aktivität der Gene in den Hirnzellen feststellten, lag die Vermutung einer transgenerationalen Übertragung nahe. Sechs Jahre zuvor hatten kanadische Forscher um Micheal Meaney und Moshe Szyf ähnliches beim Nestpflegeverhalten von Ratten beobachtet. Beim Nachwuchs, der das Pflegeverhalten der Muttertiere nachahmte, war ebenfalls eine veränderte Aktivität der Gene im Gehirn zu beobachten. Das sind starke Argumente für die Annahme einer durch Lernen und Verhalten vererbten Aktivität der Gene.
Noch vor gar nicht langer Zeit wäre eine solche These von den meisten Biowissenschaftlern mit Vehemenz zurückgewiesen worden. Doch seit der Enttäuschung vieler weitreichender Versprechungen, die sich mit dem Humangenomprojekt verbanden, hat sich die Lage verändert. Im selben Jahr, als die Sequenzierung des menschlichen Genoms veröffentlicht wurde, 2001, widmete Science dem Thema Epigenetics einen Schwerpunkt – nach nahezu einem Jahrhundert, in dem epigenetische Forschungen als unwissenschaftlich galten. Denn die Lebenswissenschaften des 20. Jahrhunderts waren vom Neodarwinismus beherrscht; und hier galt das Dogma, dass biologische Vererbung sich allein über die Gene überträgt. „Weiche“ Vererbungsfaktoren waren, mit Berufung auf Mendel und Darwin, aus der Biologie verbannt, die Idee einer Vererbung erworbener Eigenschaften als Lamarckismus verpönt. Die Entgegensetzung von Darwin und Lamarck führte dazu, dass viele Hinweise auf die Komplexität und Plastizität biologischer Entwicklung in den toten Winkel der Lebenswissenschaften gerieten.
In jüngster Zeit wachsen Zahl und Bedeutung von Forschungen, welche die Wechselwirkungen zwischen biologischer Umwelt oder soziokulturellen Faktoren und DNA aufzuklären beabsichtigen. Im Zentrum steht die sogenannte Methylierung bzw. Genregulation, d.h. die Funktion von an die DNA angelagerten Methyl- und Histonmolekülen für die Genaktivität – sowie deren Störungen bzw. Defekte. Und dabei spielt die Umwelt der DNA eine wichtige Rolle, so etwa Mikro-RNA und andere in den Zellen flottierende Kleinstmoleküle, deren Mechanismen vor allem aus der Reproduktionsmedizin, der Krebsforschung und der Pflanzengenetik seit Jahrzehnten bekannt sind. Weil das An- oder Abschalten einzelner Genaktivitäten während der Embryonalentwicklung stattfindet, kommt der Embryologie eine besondere Bedeutung zu. Weitgehend unerforscht ist, wie weit der Begriff einer „Umwelt“ im epigenetischen Sinne reicht: von der zellulären DNA-Umwelt und die biologische Umwelt während der Embryogenese über die immunologische Umwelt des Kleinkindes bis zur Nahrungs- und Klima-Ökologie? Und inwieweit gehören auch nicht-biologische Faktoren, wie Verhalten und psychische Bedingungen, zur epigenetisch relevanten Umwelt? Besonders die brisante Frage, ob und wie eine veränderte Aktivität der Gene an nachfolgende Generationen weitergegeben wird, ist unter Epigenetikern kontrovers diskutiert.
Da man Verhalten und Gene mehrerer Generationen nur an Labortieren erforschen kann, ist die epigenetische Forschung hinsichtlich der menschlichen Vererbung auf Beobachtungen angewiesen, die über die Grenzen des Labors – und damit auch über das Wissen der Biologie – hinausreichen. Hier setzen Soziologen und Anthropologen an, indem sie z.B. nach den Effekten von Rauch- und Nahrungsverhalten der (Groß-) Eltern auf die nachfolgenden Generationen fragen und dabei auf Quellen und Daten angewiesen sind, für deren Nutzung man auf die historischen und hermeneutischen Methoden der Geisteswissenschaften angewiesen ist.
Jenseits der Grenzen des Labors
Auch als Gedächtnis des verdrängten und vergessenen epigenetischen Wissens früherer Zeiten wären Kulturwissenschaftler und Wissenschaftshistoriker jetzt dringend gefragt – wenn sie denn gefragt würden. Doch die Forschungspolitik beschränkt sich bislang weitgehend auf die mikrobiologische Ebene epigenetischer Zusammenhänge. Geistes- und Kulturwissenschaften könnten hier dazu beitragen, die Implikationen der Figuren und Konzepte (wie Prägung/Imprinting, Reprogrammierung, In-/Aktivierung, Gengedächtnis etc.), die die molekularbiologische Dateninterpretation und Erkenntnisproduktion leiten, zu untersuchen. Denn es ist erstaunlich, wie oft die Metaphern aus vergangenen Theorien in der Gegenwart eine materialisierte Gestalt annehmen. 1870 entwickelte Ewald Hering in einem Vortrag „Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie“ die Vorstellung, dass der Embryo in der Gebärmutter gleichsam das Echo des ihn umgebenden Organismus aufnimmt, und sprach von einem „kleinen Erbe“, das er sich als Veränderung in der neurologischen Organisation des Organismus vorstellt. Auch wenn man sich im Feld des psychischen Traumas auf wissenschaftsgeschichtliche Spurensuche begibt, stößt man schon früher auf eine ähnliche Annahme wie die der eingangs skizzierten Mäuse- und Rattenstudien, die DNA-Methylierung stelle eine Einlagerung von Erfahrung in die Gehirnzellen dar, die die neuronale Regulation des Stress-Hormon-Systems beeinflusst. So führte Hermann Oppenheims Schrift „Die traumatischen Neurosen“ (1894) psychisch verursachte Lähmungen, die nach einem schweren Unfall ausgelöst wurden, auf „eine directe moleculare Umlagerung“ im peripheren Nervensystem zurück. Im selben Jahr erklärte auch Sigmund Freud in „Die Abwehr-Neuropsychosen“ hysterische Lähmungen als „Verlegung“ von „Erregungssummen in die Körperinnervation“. Das sind ungehobene Schätze aus der Geschichte, die für die aktuellen Fragen der Neuroepigenetik, die das Zusammenspiel von neuronalen Netzwerken und Genaktivitäten untersucht, hoch aktuell sind.
Auch der begriffsgeschichtliche Vorläufer der Epigenetik, die Epigenesis, ist aufschlussreich. Deren Begründer Caspar Friedrich Wolff formulierte in seiner Schrift „Theoria Generationis“ (1759) eine Entwicklungstheorie, die zwischen Fortpflanzung, Wachstum und Ernährung unterscheidet. In der Wirkungsgeschichte von Wolffs Theorie spielt der Begriff der Epigenesis bei Herder, Humboldt, Goethe, Schopenhauer u.v..a. eine herausragende Rolle. Wolffs Vorstellung von einer inneren Lebenskraft, die die Entwicklung steuere, ist bekannter unter dem Namen Bildungstrieb, den der von Goethe besonders geschätzte Johann Friedrich Blumenbach in seiner Schrift „Über den Bildungstrieb“ (1791) benutzte. Über die Verknüpfung mit der ästhetischen Idee der (Ein)Bildung hat sich um 1800 das für die deutsche Ideengeschichte spezifische Konzept der Bildung entwickelt.
Mit der Frage nach den Verschränkungen von biologischer Vererbung und anderen Formen transgenerationaler Übertragung rüttelt die Epigenetik an den disziplinären Grenzziehungen im Bereich der Wissenschaften vom Lebendigen. Wollen wir die Erkenntnis ernst nehmen, dass Kultur- und Lebensweise nicht nur passive Auswirkungen auf unsere Biologie haben, sondern aller Wahrscheinlichkeit diese mit hervorbringen, ist eine Schwellenkunde gefragt, die sich auf die Übergänge zwischen Natur und Kultur konzentriert. Hierfür bräuchte es auch psychologische, ethnologische, anthropologische, kulturwissenschaftliche und wissenschaftsgeschichtliche Expertisen. Hierfür bräuchte es ein Max-Planck-Institut für Epigenetik, in dem Biowissenschaftler mit Kulturwissenschaftlern zusammenarbeiten, um eine Lebenswissenschaft von der Epigenetik im umfassenden Sinne zu schaffen.
Prof. Dr. Sigrid Weigel ist Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Zu ihren Büchern gehört u.a. „Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften“ (Wilhelm Fink 2009). Dr. Vanessa Lux ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt Kulturelle Faktoren der Vererbung am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. www.zfl-berlin.org