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Die Bernsteinstraße

Tränen der Götter

Bernstein ist ein von Sagen und Mythen umwobener magischer Stein – begehrt und verklärt bis heute. Als „Tränen der Götter“ wird das fossile Harz gern bezeichnet. Dass Bernstein einst ein äußerst wichtiges Handelsgut war, zeitweilig wertvoller als Gold, das schon vor Tausenden von Jahren auf Handelswegen quer durch Europa transportiert wurde, zeigen neueste archäologische Funde.

Gisela Graichen12.09.2012

Als Howard Carter im November 1922 die Grabkammer des jugendlichen Pharaos Tutanchamun entdeckte, fand sich neben der berühmten Totenmaske und Mengen an Gold etwas für das alte Ägypten außerordentlich Seltenes, Exotisches. Carter identifizierte das dunkle Harz, aus dem ein wunderschöner Skarabäus geschaffen ist, als Bernstein.

Gold gab es im benachbarten Nubien reichlich, aber Bernstein? Womöglich noch von unseren Küsten? Vor über 3300 Jahren? Das würde bedeuten, dass Kontakte und Handelswege zwischen den Enden der damals bekannten Welt existierten, Verbindungen vom fernen Nebelland durch Urwälder, Sümpfe, Moore und über den eisigen Riegel der Alpen hinweg zum Mittelmeer. Von den Fischern des Baltikums zum Pharao von Ägypten?

Doch es gibt Indizien. Ohrringe aus Bernstein gelangten als Brautgeschenk an den Hof des Pharao. In Qatna, der einstigen Handelsmetropole im heutigen Syrien, entdeckten Tübinger Archäologen in einer Königsgruft ein kleines Gefäß in Form eines Löwenkopfes. Die Laboruntersuchung ergab: Das Köpfchen ist aus baltischem (!) Bernstein. Aus einem vor 3300 Jahren vor der türkischen Küste bei Uluburun gesunkenen Lastensegler holten Taucher Waren ans Tageslicht, die den regen Austausch zwischen Afrika und Europa belegen. Mit an Bord: Perlen aus baltischem Bernstein! Im griechischen Mykene, Drehscheibe des Fernhandels, legte Heinrich Schliemann in den Fürstengräbern neben der berühmten „Agamemnon“- Goldmaske Ketten mit tausenden von besonders großen Bernsteinperlen frei – aus baltischem Bernstein! Zu „bewundern“ sind sie neben den Totenmasken im Athener Nationalmuseum, stumpf, brüchig und dunkel geworden über die Jahrtausende.

Goldene Zeiten

Ein Quantensprung zur Identifizierung gelang der Büchi Labortechnik in Essen. Dessen Fingerabdrücke des Bernsteins enthüllen eine Indizienkette, verblüffender als ein Krimi.

Wir befinden uns in der sagenumwobenen Bronzezeit (sehr grob 2200 bis 800 v. Chr.). Ein neuer Werkstoff gab ihr seinen Namen: Bronze, ein Gemisch aus etwa 90 Prozent Kupfer und 10 Prozent Zinn, hart, leicht zu schmieden, recycelbar. Während man sich in Nordeuropa noch mit Steinbeilen die Köpfe einschlug, wurde der Trojanische Krieg mit Bronzeschwertern geführt. Alle Welt gierte nach dem neuen Werkstoff und damit nach den Rohstoffen, wie wir heute nach Erdöl.

Und es geschah etwas Erstaunliches in unserem Land vor unserer Zeit: Im rohstoffarmen Nord- und Mitteldeutschland wurden tausende von reichen Metallfunden und Fürstengräber mit üppigen Beigaben wie Bronzeschwerter und Gold frei gelegt. So der 3000 Jahre alte Schatzfund aus dem brandenburgischen Eberswalde, der 1945 zusammen mit dem „Schatz des Priamos“ von Berlin nach Moskau entführt wurde, bestehend aus 2,6 Kilo purem Gold. In Syke/Gessel, südlich von Bremen, stießen Archäologen im vorigen Jahr auf einen 1,8 Kilo schweren Goldhort aus dem 14. Jh. v. Chr. Im mecklenburgischen Neustrelitz enthielt ein Hort neben hunderten von Perlen aus baltischem Bernstein auch Perlen aus blauem ägyptischem Glas.

Wogegen wurden all die Kostbarkeiten eingetauscht? Die vermuteten „Waren“ wie blonde Sklavinnen, Felle und Salz sind vergangen. Nachzuweisen ist jedoch ein magischer Stein, der schwimmt (besser: im Salzwasser schwebt, auf Grund seines geringen Gewichts), ein Stein, der brennt (Harz!), ein Stein, der übernatürliche Kräfte hat (elektrische Anziehungskraft nach Reiben, das griechische Wort für Bernstein ist elektron). Begehrt auch zu Zeiten des Deutschen Ordens in Ostpreußen, der hatte ein Monopol auf Bernstein. Die Nachfrage für die Herstellung von Rosenkränzen war groß. Wer das an den Küsten angeschwemmte Harz unterschlug, wurde aufgehängt. Weithin sichtbar standen die Galgen.

Im Schleswiger Landesmuseum Schloss Gottorf hält unser rotarischer Freund Claus von Carnap-Bornheim im Hochsicherheitstrakt zwischen all dem glänzenden Gold ein unscheinbares gelbes Teil in die Höhe, Bernstein: „Diese kleinen Stücke sind der Motor der Entwicklung in Alteuropa.“

Die Karte der Bernstein-Fundorte lässt die Handelsrouten erkennen. Auffällig ist die Häufung bei Halle, in der Nähe wurde auch die Himmelsscheibe von Nebra gefunden. Es wurden eben nicht nur Waren ausgetauscht, sondern auch Wissen, Ideen, Technologien, Kulte. Handel macht reich – damals wie heute. Eine neue gesellschaftliche Hierarchie entstand, die ersten Eliten im Herzen Europas. Die „global player“ der Bronzezeit beherrschten die Handelswege und -zentren. Der Handel vollzog sich vermutlich im Staffelprinzip von einer Station zur anderen. Der Verkäufer an der Bernsteinküste wird den mykenischen Abnehmer oder gar den syrischen oder ägyptischen Käufer wohl nie gesehen haben. Nur eins ist sicher: Von Station zu Station wurden die „Tränen der Götter“, wie die Griechen das Harz nannten, teurer. Bis das Gold der Ostsee tatsächlich mit Gold aufgewogen wurde.

Indizienkette

Zwei der wichtigsten aktuellen Grabungen in Deutschland helfen, die Indizienkette zu schließen. Eine im 19.Jh. aufgezeichnete Sage berichtet von einer versunkenen, unermesslich reichen Stadt bei Bernstorf in der Nähe von Freising. Der Münchner Arzt und Hobbyarchäologe Manfred Moosauer nahm die Sage als historisch wahr, so wie einst Heinrich Schliemann Homer auf der Suche nach Troja. Tatsächlich fand er im angegebenen Gebiet ungeheure Schätze aus dem 14.Jh.v. Chr., der Zeit des  Tutanchamun: u.a. das älteste Krondiadem Mitteleuropas aus purem Gold, wie es in dieser Reinheit in den nubischen Minen vorkommt. Doch das Spannendste sind neben 30 unbearbeiteten Bernsteinstücken zwei gravierte Bernsteine. Das eingeritzte Gesicht ähnelt verblüffend der „Agamemnon“- Maske. Ein Siegel wiederum trägt die im Bayerischen kaum zu erwartende mykenische Linear B-Schrift.

Das Büchi Labor erklärt sich bereit, die Herkunft zu bestimmen. Projektleiter Rüdiger Krause reist mit den Originalen nach Essen. Krause und unser Fernsehteam halten die Luft an, als die Stücke vom NIRMaster bestimmt werden. Das Spektrometer bringt zerstörungsfrei die organischen Moleküle zum Schwingen: Auf dem Monitor erscheint nach wenigen spannenden Momenten das Ergebnis: baltischer Bernstein! Der Beweis ist erbracht für eine Verbindung zwischen unseren Küsten – überwiegend der Ostsee – und dem Mittelmeerraum vor 3300 Jahren. Bernstorf war ein Zentrum des Fernhandels mit Gold und Bernstein. Bernsteinfunde auf den Alpenpässen zeigen die Routen zum Mittelmeer.

Mit Holzkeulen gegen Bronzepfeile

Wo genau die Handelsstraßen verliefen, enthüllen Fundkarten, Reste von bronzezeitlichen Wegen und vielleicht auch ein neu entdecktes Schlachtfeld. Am Ufer der Tollense stieß man auf die Spuren einer wochenlangen brutalen Auseinandersetzung. Das Flüsschen mündet bei Demmin in die Peene, und die wiederum führt zur Ostsee. In einer dünn besiedelten Gegend fanden sich tausende von z.T. bös zugerichteten Menschenknochen und auch gleich die Waffen dazu: aus Flintstein und der High Tech-Erfindung Bronze. Die Knochenanalyse zeigt, dass die Eindringlinge Hirseesser waren. Hirse gab es aber vor 3200 Jahren in Mecklenburg und Pommern nicht, sondern z.B. im Alpenvorland. Dazu wurden Reste von Pferden freigelegt, inzwischen auch Bronze und Gold. Eine mögliche Interpretation: Zeitgleich zum Trojanischen Krieg machten sich die Hirseesser von der Donau auf den Weg Richtung Ostsee. Sie hatten Pferde und moderne, effektivere Waffen dabei. An einer Furt trafen sie auf Einheimische mit Holzkeulen…

Ob hier an der Tollense ein Knotenpunkt im Bernsteingeschäft lag, wissen wir – noch – nicht. Und auch die ägyptische Antikenverwaltung hat den schönen Käfer des Tutanchamun noch nicht auf seine Herkunft untersuchen lassen. Spannend bleibt es allemal: Erst ein Bruchteil der in der Erde verborgenen Schätze sind geborgen, 90 Prozent, so wird spekuliert, ruhen noch unentdeckt im Boden.



Filmtipp
Die Bernsteinstraße

In ihrem Film "Die Bernsteinstraße - Verborgene Handelswege zwischen Ostsee und Nil" und dem gleichnamigen Begleitbuch zeigt Gisela Graichen, welche Rolle Bernstein damals spielte im Austausch von Waren und Wissen, Rohstoffen und Ideen. Sie beschreibt die Spuren eines florierenden Welthandels in der Bronzezeit und die Geschichte eines magischen Steins, der weitaus mehr war als ein schöner Schmuck: ein Stein für Könige.

Der Zweiteiler "Die Bernsteinstraße" von Gisela Graichen und Peter Prestel ist im ZDF in der Reihe „Terra X“ am 14. und 21.10. jeweils um 19.30 Uhr zu sehen.


Gisela Graichen

Gisela Graichen (RC Hamburg-Dammtor) konzipierte als Fernsehautorin für das ZDF zahlreiche Filmreihen, darunter "Humboldts Erben" und die preisgekrönten Reihen "Schliemanns Erben" und "C 14" über die Forschungsergebnisse der Archäologie. Zuletzt erschienen u.a. "Die Bernsteinstraße. Verborgene Handelswege zwischen Ostsee und Nil" (Rowohlt 2012) und "Geheimbünde. Freimaurer und Illuminaten, Opus Dei und Schwarze Hand" (Rohwolt 2013).

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