Gastbeitrag von Gisela Graichen
Revolutionen in der Archäologie
Die Verbindung von Archäologie und Astrophysik mag auf den ersten Blick seltsam erscheinen. Doch sie ist eine Erfolgsgeschichte, die neue Entdeckungen generiert.
Am 19. Januar 1936 stößt der britische Archäologe Walter Bryan Emery auf ein unbekanntes mysteriöses Objekt: eine im Durchmesser 61 Zentimeter große kreisrunde Scheibe mit drei hochgebogenen Laschen wie bei einer Schiffsschraube, in der Mitte eine Bohrung von acht Zentimetern. Von oben sieht es aus wie ein modernes Lenkrad. Freigelegt nördlich der Nekropole von Sakkara in der 5000 Jahre alten Grabanlage des altägyptischen Prinzen Sabu, wohl ein Sohn des Pharaos Anedjib. Ein Objekt, das der Wissenschaft bis heute Rätsel aufgibt.
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Der verstorbene Prinz, lag nicht, wie man hätte erwarten können, in der Mitte des Grabes. Dort, genau im Zentrum der Grabkammer, fand Emery dieses merkwürdige Ding, das Prinzenskelett seitlich daneben. Das futuristisch aussehende Objekt musste also eine immense Bedeutung haben. Nie zuvor waren Archäologen auf so etwas gestoßen und auch nie danach. Ein vergleichbarer Gegenstand wird weder in Bildern noch Texten erwähnt. Es handelt sich hier also ganz offensichtlich nicht um einen schnöden Gebrauchsgegenstand. Also was dann? Ein Rotationskörper? Ein Speichenrad? Das Bauteil eines unbekannten Antriebsaggregats?
Der Ägyptologe und Ausgräber des Fundes, Walter B. Emery, hielt damals fest, das Wunderding habe ein „kurioses Design“, für das es keinerlei Erklärung gäbe. Sein Kollege Cyril Aldred, seinerzeit Direktor am Royal Scottish Museum in Edinburgh, vermutete, dass das Objekt aus fein geschliffenem Schiefer „möglicherweise eine ursprünglich aus Metall hergestellte Form imitiert“. Nach seinem Fundort wird das mysteriöse Teil „Sabu-Scheibe“ genannt. Verwendung unbekannt.
Die riesige Gemeinde der Präastronautiker ist fasziniert. Für Ufologen ist klar: Die Sabu-Scheibe ist der Nachbau eines vor langer Zeit gesehenen Raumschiffs einer fremden Zivilisation, zumindest eines Teils davon. Doch könnte die Scheibe tatsächlich der Form nach Auf- und Antriebseffekte haben? Ingenieure der verschiedensten Fachrichtungen der Firma Airbus in Hamburg und Bremen versuchten, das Rätsel zu lösen. Das Ägyptische Museum in Kairo, wo sich das Original befindet, lieferte die präzisen Daten für einen 3D-Nachbau.
Flugzeugingenieur Peter Sander und sein 15-köpfiges Team aus Spezialisten für 3D-Druck, Proto-Space, Flugphysik und Windkanalmessungen machten sich an die Arbeit. Die Airbus-Tüftler stellten in ihren zwei Millionen Euro teuren 3D-Druckern präzise Kopien der Scheibe in verschiedenen Größen und Materialien her, von Titan bis Plastik, und testeten den Nachbau im Windkanal. Sie wollten herausfinden, welche Funktionen das Ding tatsächlich haben könnte.
Die Ergebnisse der Messungen sind eindeutig: Ein Triebwerk ist ausgeschlossen, weil die Schaufeln beidseitig symmetrisch sind. Dadurch gleichen sich die Effekte aus. Vielleicht eine Öllampe, meinte die Abteilung Kabinenbeleuchtung. Aber dann wäre es ja nichts Außergewöhnliches, und man hätte mehr Exemplare davon entdeckt. Zumindest wäre die Form wohl irgendwo in Zeichnungen vorgekommen. Vielleicht offenbart uns die Zukunft noch weitere Erklärungsmöglichkeiten. Bis dahin ist die Funktion des Wunderdings eines der bestgehüteten Geheimnisse der Archäologie.
Doch es ist nicht der einzige ungelöste Fall. Astrophysiker Harald Lesch und ich haben in unserem Buch verschiedene „unmögliche“ Fälle dargestellt und nach Lösungsmöglichkeiten geforscht. Dabei geht es unter anderem um bekannte Fälle wie die Bagdad-Batterie, die vor 2000 Jahren schon Strom erzeugen konnte, die Reliefs im Hathor Tempel von Dendera, die vermeintlich Glühbirnen darstellen, um einen erschossenen Neandertaler oder um den 2200 Jahre alten ominösen hölzernen Vogel, der 1898 in der Nähe der Stufenpyramide von Sakkara gefunden wurde. Angeblich der verkleinerte Nachbau eines Segelflugzeugs, mit dem der Pharao um die Pyramide segeln konnte. Mohamed Ali Fahmy, dem stellvertretenden Direktor des Ägyptischen Museums in Kairo, wo das Original liegt, wurde der ganze Trubel zu bunt. Selbst die Nasa und Astronauten begannen schon, sich für das Objekt zu interessieren. Fahmy wollte den Spekulationen ein Ende bereiten und erlaubte die Fertigung von 3D-Scans, die 2021 am Institut für Aerospace Technology in Bremen untersucht wurden. Mit den exakten Daten können die Luft- und Raumfahrttechniker Strömungsmodelle und Computersimulationen erstellen – und damit die entscheidende Frage klären: Hätte ein solches Objekt wirklich fliegen können? Ja, grundsätzlich ist das Ding flugfähig und auch in Flugversuchen mit einem größeren Nachbau segelt der „Vogel von Sakkara“ tadellos durch die Lüfte.
Mohamed Ali Fahmy hat längst seine persönliche Meinung zum „Vogel“, und die ist sicher nicht Mainstream: „Dass die alten Ägypter das Objekt in ein Grab legten, zeigt, dass sie dabei waren, ein Flugzeug zu erfinden. Das war eindeutig kein Vogelmodell, sie wollten ein flugfähiges Gerät erfinden, wenn sie es nicht schon erfunden hatten.“ Nun ja, das wird Widerspruch auslösen.
Wissenschaftlich ungleich spannender ist die Revolution in der Geschichte der Archäologie durch den Einsatz (astro)physikalischer Methoden. Viele neue Fragen an alte Zeiten können erst jetzt durch den Einsatz moderner Techniken gestellt – und beantwortet – werden. Die Verwendung überirdischer Technologien in den letzten zehn bis 15 Jahren lieferte einen Quantensprung an erstmaligen Erkenntnissen – auch ohne einen einzigen Spatenstich. Ein enormer Fortschritt, denn jeder Eingriff in die Erde zerstört den Fund- und Befundzusammenhang unwiederbringlich.
Über Grabungsflächen kreisen heute Drohnen und GPS-gestützte Vermessungsgeräte liefern genaueste Daten. Geoinformationssysteme können Grabungsergebnisse digital verknüpfen. Dazu kommt die zerstörungsfreie Prospektion mit Geomagnetik, Radar und Geoelektrik. Selbst dichte Urwälder können am Bildschirm künstlich entlaubt werden und geben so frei, was sie unter dem Blätterdach verbergen. Der Einsatz physikalischer Methoden wie Georadar oder „LiDAR“ und die satellitengestützte Weltraumarchäologie sind längst nicht mehr nur die Zukunft des „Ausgräbers“, große Ausgrabungen sind ohne sie heute nicht denkbar. Besonders das Airborne Laserscanning, kurz ALs oder „LidAR“ (Light Detection and Ranging, Lichterkennung und Raumvermessung) bringt verblüffende Ergebnisse durch künstliche Entlaubung und hilft auch das Rätsel des Maya-Untergangs zu lösen. Die Lasertechnologie an Bord ermöglicht es, ein exaktes Modell der Erdoberfläche zu erstellen, zentimetergenau. Ohne störende Vegetation sind die Spuren des vergangenen Reiches jetzt deutlich zu sehen.
In den Urwäldern Mittelamerikas offenbarten Laserscans die Existenz von über 60.000 bisher unbekannten versunkenen Ruinen. Darunter eine riesige Metropolregion der Maya im Dschungel von Guatemala, ein gewaltiges Netzwerk aus miteinander verbundenen Städten, in denen Millionen von Menschen lebten. Doch große Zivilisationen gehen vor allem an sich selbst zugrunde. So auch die Maya, durch Überbevölkerung, unmäßigen Energieverbrauch durch Abholzung, Aufstände und einen Zusammenbruch der Gesellschaft.
Die Verbindung von Archäologie und Astrophysik mag auf den ersten Blick seltsam erscheinen. Doch sie ist eine Erfolgsgeschichte, die neue Entdeckungen generiert, aber auch Verschwörungstheorien entlarvt.
Denn die üben eine gefährliche Faszination aus, nicht nur in der Archäologie. Es geht um nichts weniger als um die einzig wahre Wahrheit – die eigene. Die Welt ist voller unerklärlicher Dinge, für die die Wissenschaft erst im Laufe der Zeit Erklärungen liefern konnte, Erklärungen, die eine Generation später im Lichte neuer Erkenntnisse schon wieder revidiert werden müssen. Unser jetziger Wissenstand ist nicht die letzte Erkenntnis – ein fruchtbarer Boden für Verschwörungstheorien.
Ein schönes Zitat von Wilhelm Busch heißt: „Glaubenssachen sind Liebessachen, es gibt keine Gründe dafür oder dagegen.“ Wir wollten es in unserem Buch trotzdem versuchen.
Lesetermine:
Mittwoch, 30. November, 19 Uhr:
Buchpremiere in der Treppenhalle des Neuen Museums auf der Berliner Museumsinsel, Bodestr. 1-3, 10178 Berlin
Gisela Graichen und Harald Lesch im Gespräch mit Matthias Wemhoff, dem Museumsdirektor des Museums für Vor- und Frühgeschichte
Eintritt frei, Anmeldung erbeten.
Sonntag, 4. Dezember, 11 Uhr:
Buchvorstellung mit Gisela Graichen und Harald Lesch im Planetarium Hamburg, Linnering 1 (Stadtpark), 22299 Hamburg
Eintritt: 15 Euro, ermäßigt: 13 Euro. Dauer: etwa 90 Minuten
Gisela Graichen (RC Hamburg-Dammtor) konzipierte als Fernsehautorin für das ZDF zahlreiche Filmreihen, darunter "Humboldts Erben" und die preisgekrönten Reihen "Schliemanns Erben" und "C 14" über die Forschungsergebnisse der Archäologie. Zuletzt erschienen u.a. "Die Bernsteinstraße. Verborgene Handelswege zwischen Ostsee und Nil" (Rowohlt 2012) und "Geheimbünde. Freimaurer und Illuminaten, Opus Dei und Schwarze Hand" (Rohwolt 2013).
Copyright: Holste von Mensenkampff
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