Über die Bedeutung der Deutschen Hanse als Handelsimperium und Vorbild für die EU
»?Ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus?«
Das auf der Autobahn beliebte Spiel „Kennzeichenraten“ gerät regelmäßig ins Stocken, wenn ein Wagen mit den Nummernschildern HRO oder HST auftaucht. Dass Rostock und Stralsund alte Hansestädte sind und stolz wie Bremen, Hamburg oder Lübeck das H für Hanse im Nummernschild tragen, mag immerhin noch bekannt sein. Aber es waren zeitweise über 200 Städte, die im Zenit ihrer Macht zur Hanse gehörten. Der erste nordeuropäische Handelsverbund prägte fast ein halbes Jahrtausend die Welthandelsmärkte des Mittelalters von Russland bis Flandern, baute ein lukratives Handelsnetz auf von Island bis Venedig und schuf ein visionäres Imperium von Kaufleuten und Städten über politische Grenzen hinweg. Die Hanse ist mehr als eine Geschichte von Geld, Gier und Pfeffersäcken, von Piraten, Koggen und Handelskarawanen, ist mehr als eine historische Periode für Geschichts-, Kultur-, Schifffahrts- und Bauwissenschaftler. Die Hanse geht uns heute an, meint Andrus Ansip, der Ministerpräsident von Estland, dem wirtschaftlichen Musterland aus dem hohen Nordosten. Als 17. Land der Euro-Zone hat Estland am 1. Januar 2011 als erste ehemalige Republik der untergegangenen Sowjetunion den Euro eingeführt. Als einziges von neun europäischen Ländern, die sich um den Euro beworben haben. Ansip führt den herausragenden Erfolg seines Landes auf das Vorbild der Hanse zurück. Für ihn ist die EU die neue Hanse.
Welche Rolle spielt das Bild der Hanse heute für Politiker und Ökonomen? Wie modern ist die Idee der „dudesche hense“? Ein Interview mit einem, der hautnah beim politischen Geschehen dabei war, dem Altbürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg Dr. Henning Voscherau:
Inwiefern glauben Sie, dass die Idee der Hanse lebt? Oder erleben wir heute einen verklärten Nostalgietrip?
H. Voscherau: Die Hanse – die große Kaufmannshanse des Mittelalters und die politische Städtehanse – ist ein Vorbild für uns heute. Sie war so stark, weil sie ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus war in ihrer Idee der Freiheit des Handels und Wandels, also des Verkehrs, der Logistik. Die Vorteile der Grenzen überschreitenden Zusammenarbeit zum wechselseitigem Nutzen, heute nennt man das eine „Win-win-Situation“, die erkannten die Alten damals schon. Die Rahmenbedingungen des kontinentweiten Wirtschaftens stimmten. Das Erfolgsmodell funktionierte, weil man gemeinsam (!), von unten wachsend, aus eigener Initiative, die wechselseitigen Vorteile für die Menschen suchte. Dieses müssen wir heute in Europa immer wieder neu lernen und beherzigen.
Estland, das ökonomische Musterland aus dem Norden, beruft sich auf hansische Tugenden?… Eine besonders große Chance ist der Entwurf der Hanse für die hansischen Regionen, die bis 1990 abgeschnitten von Freiheit, Modernität, Innovation, Wachstum, Marktwirtschaft, Privatinitiativen hinter dem Eisernen Vorhang lagen. Unterdrückt durch das sowjetische Planwirtschaftssystem. Von Estland bis Polen, aber auch in Russland selbst, ist man stärker und konkreter engagiert bei der Vorstellung von „Hanse heute“ als wir verwöhnten Westler, die ja die ökonomische Idee der Hanse schon vor 1990 zwischen Ostsee und Mittelmeer hatten: Man nannte sie EWG. Die europäische Landkarte heute zeigt, dass ein Großteil der Hansestädte hinter dem Eisernen Vorhang lag, hier herrscht ein immenser Nachholbedarf in hansischen Tugenden. Die ehemaligen Ostblockländer sind sich dieser wunderbaren Perspektive bewusst. Viel stärker als wir sehen sie das Erbe der Hanse als Chance zur Integration in Europa, für den wirtschaftlichen Aufschwung in Freiheit. Mit diesem überproportionalen ökonomischen Wachstum haben wir im Senat schon vor 20 Jahren gerechnet aufgrund des hohen Nachholbedarfs östlich des Eisernen Vorhangs. Die Wachstumsraten von Estland sind ja umwerfend. Der Zusammenbruch der Sowjetunion als Voraussetzung zum Erbe der Hanse?
Gerade die Esten haben es in der Erbschaft der Hanse besonders gut gemacht. Sie haben bewusst an dieses Erbe angeknüpft – übrigens schon vor dem Zusammenbruch des Comecon. Ich erinnere mich genau, wir hatten 1989 hier im Hamburger Rathaus den sogenannten 9. Hansetag der Neuzeit. Viele Vertreter von Hansestädten aus ganz Europa waren da. Für die Westeuropäer, die freien Europäer, war der Hansetag eher eine nostalgische Veranstaltung. Aber es erschien aus Tallinn der stellvertretende Ministerpräsident Estlands, Mitglied des Obersten Sowjets in Moskau, und hielt eine Festrede, eine so optimistische, eine das Erbe der Hanse vereinnahmende Rede, mit dem Anspruch, wir gehören dazu. Die Zuhörer aus den Hansestädten waren hin und weg. Und natürlich forderte er Freiheit, Demokratie, Marktwirtschaft. Und wenn die anwesenden Vertreter der Sowjetunion protestierend aufstanden und drohten den Saal zu verlassen, dann äußerte er sich plötzlich in seiner Eigenschaft als Mitglied des Obersten Sowjets, zitierte deren Beschlüsse, und da mussten sie sich wieder hinsetzen. Es war eine so wunderbare Aufbruchsrede – vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion – dass er eine Standing Ovation bekommen hat von diesen Hansestädtevertretern, so lang anhaltend, das habe ich weder vorher noch nachher erlebt.
Wie hat die Regierung praktisch dieses Wirtschaftswunder geschafft?
Sie hat in Estland den russischen Rubel knallhart abgelöst, die estnische Krone eingeführt mit Ankoppelung an die D-Mark. Und hat damit das Fundament gelegt für das estnische Wirtschaftswunder unter dem Dach der Ideen der alten Hanse. Die Eigenverantwortung freier selbstbewusster Bürger, die sich selbst ernähren können, die wissen, dass jeder zunächst für sich selbst verantwortlich ist und die nicht auf eine Hängematte schielen, auch das sollte eine Lehre aus der Hansezeit für uns sein. Bürgerstolz,
faire Wahrung des gegenseitigen Vorteils, Austausch von Waren, Ideen, Kultur, Zusammenarbeiten und Respektieren über Grenzen hinweg, Verständnis für den anderen, voneinander lernen, dieses hansische Denken hat sich in der Gründung der EG und der EU Bahn gebrochen – insofern ist die Hanse ein Vorbild für das Zusammenwachsen in der Europäischen Gemeinschaft, der Grundgedanke der europäischen Integration von heute.
Gisela Graichen (RC Hamburg-Dammtor) konzipierte als Fernsehautorin für das ZDF zahlreiche Filmreihen, darunter "Humboldts Erben" und die preisgekrönten Reihen "Schliemanns Erben" und "C 14" über die Forschungsergebnisse der Archäologie. Zuletzt erschienen u.a. "Die Bernsteinstraße. Verborgene Handelswege zwischen Ostsee und Nil" (Rowohlt 2012) und "Geheimbünde. Freimaurer und Illuminaten, Opus Dei und Schwarze Hand" (Rohwolt 2013).
Copyright: Holste von Mensenkampff
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