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Spurensuche

Stalingrader Impressionen

Gisela Graichen11.01.2013

Stalingrad – Massengrab“, so schallte es unablässig aus den Propagandalautsprechern der Roten Armee, als sich der Kessel immer enger um die Soldaten der eingeschlossenen 6. Armee zog. Eine der entscheidenden Schlachten des Zweiten Weltkriegs stand kurz vor ihrem Ende, eine Tragödie von epochalem Ausmaß nahm ihren Lauf. Stalingrad steht nicht nur für hunderttausende tote Soldaten auf beiden Seiten, Stalingrad wurde zu einem Symbol für den sinnlosen, verbrecherischen „totalen Krieg“ auf deutscher Seite und zu einem Symbol der Hoffnung auf der russischen Seite. Stalingrad zeigte den Angegriffenen, dass sie ihre Heimat verteidigen konnten. Die Opfer dafür waren auch bei der Roten Armee ungeheuer.

Im Felde

Galina Oreshina ist früh aufgestanden. Die Lehrerin an einer Dorfschule bei Gumrak – hier war vor 70 Jahren ein lebenswichtiger Flugplatz der deutschen Luftwaffe zur Versorgung der eingekesselten 6. Armee – leitet eine Brigade der Vereinigung Memorial. Ein eisiger Wind peitscht über die Steppe, als sie ihre Mitstreiter am russischen Ehrenmal von Rossoschka trifft. Gleich gegenüber ist der Soldatenfriedhof der deutschen Kriegsgräberfürsorge. Auf seinen Granitwürfeln stehen 120.000 Namen. Doch Galina und ihren Männern geht es um die zigtausend namenlosen Gefallenen, die noch irgendwo unter dem Steppengras liegen. Anhand von Kriegstagebüchern und Generalstabs-Dokumenten suchen sie nach fundträchtigen Stellen in der eintönigen Landschaft. Sie wollen archäologische Befunde der Schlacht sichern, den menschlichen Schicksalen der Soldaten auf beiden Seiten näherkommen und nicht zuletzt den Gefallenen die letzte Ehre erweisen und sie anständig bestatten.

Am Suchort angekommen teilt Galina die Zweier-Trupps ein. Mit Metalldetektoren und Spaten ausgerüstet stapfen sie los. Wenn die Sonde eine verdächtige Stelle mit einem lauten Pieps meldet, wird exakt an dieser Stelle gegraben. Und immer mit Erfolg. In kurzer Abfolge finden die Männer MG-Munition, Handgranaten, Teile von Stacheldrahtverhau, Granatsplitter. Schnell ist klar, hier haben intensive Kämpfe stattgefunden. Dann wieder ein Piepsen, wieder Metall. Diesmal ist es ein Koppelschloss. Nur wenige Zentimeter unter der Oberfläche. Nebenan legt Suchtrupp 2 einen Stahlhelm frei. Russisches Modell. Die Männer werden schweigsam, graben behutsam weiter. Sie sind auf mindestens zwei Individuen gestoßen. Nach einer halben Stunde liegen zwei Skelette mit den Resten ihrer Ausrüstung im eisigen Steppenwind. Die Unterschenkelknochen stecken in den noch gut erhaltenen Stiefeln. Der Stahlhelm ist von einer Kugel durchlöchert. Als der Stahlhelm vorsichtig gehoben wird, kommt darunter ein Schädel zutage, mit dem Einschuss. Soldaten der Roten Armee, die anscheinend während des Kampfes verletzt in eine schützende Kuhle geschleppt wurden. Beide sind hier gestorben.

Memorial-Mann Denis ist jedes Mal von diesem Anblick tief berührt. Sein Großvater ist in Stalingrad vermisst. Vielleicht ist er einer von denen, die er hier ausgräbt. Er sagt: „Das war hier die Hölle. Und diese Männer haben hier für ihr Vaterland gekämpft. Und gezeigt, dass sie fähig sind, es zu verteidigen. Ich weiß nicht, ob ich den Mut dazu gehabt hätte. Für mich sind das Helden, und sie verdienen ein würdiges Grab.“ Deshalb sind sie hier, so der einhellige Tenor. Den Toten Ehre zu erweisen, egal ob Russen oder Deutsche, und damit den heutigen Generationen zu sagen: Nie wieder Krieg.

Galina Oreshina schaut sich im Memorialbüro einige unscheinbare Fundstücke aus den Grabungen des Tages genauer an. Ein dunkles längliches Metallstück entpuppt sich nach vorsichtiger Reinigung als Taschenmesser. Der einstige Besitzer hatte seinen Namen eingeritzt. Für die Forscherin ein wertvoller Hinweis auf die Identität der gefundenen Gefallenen. Noch besser ist es, wenn sie kleine dunkle Kapseln findet. Die wurden den Soldaten der Roten Armee mitgegeben, um darin auf einem schmalen Streifen Papier ihren Namen, ihr Geburtsdatum, ihre Herkunft und ihre Einheit zu vermerken. Sie ist hochkonzentriert, als sie die Kapsel aufschraubt und den Zettel entrollt: Mit Bleistift geschrieben, die Identität eines 20jährigen Infanteristen aus dem asiatischen Altai-Gebirge. Er wurde wahrscheinlich direkt nach der Einberufung an die heißumkämpfte Stalingrad-Front geschickt und ist hier gefallen. „Leider finden wir bei den Gefallenen nur selten diese Kapseln, die uns bei der Identifikation sehr helfen“, sagt Galina, „denn die Soldaten dachten, diese Dinger bringen ihnen Unglück und haben sie deshalb oft weggeworfen. Die Deutschen waren da viel disziplinierter. Bei ihnen finden wir fast immer Erkennungsmarken.“ Diese leitet Memorial dann an die deutschen Stellen weiter, denn auch nach 70 Jahren wollen die Angehörigen der Vermissten von Stalingrad Gewissheit.

In der Innenstadt von Wolgograd, dem einstigen Stalingrad, zwischen dem Hauptpostamt und einem Kaufhaus, sind wir mit Roman X. verabredet. Wir stehen vor einer schmucklosen Stahltür. Hier ist der Eingang zum letzten Gefechtsstand von Feldmarschall Friedrich Paulus, dem Befehlshaber der 6. Armee, der am 31. Januar 1943 kapitulierte. Der Bunker ist heute als kleines Museum ausgestaltet. Doch darum geht es nicht. Roman will uns weiter hinein in die Unterwelt von Wolgograd führen, denn die Kanalisation, Keller und Tunnelsysteme von Stalingrad waren ebenso Schauplätze von erbitterten Kämpfen. Und noch heute sind viele Zugänge vermint. Roman ermahnt uns, immer hinter ihm zu bleiben und nichts anzufassen. Und dann geht es in die Dunkelheit – mit einer Ausnahmegenehmigung. Das Sammeln von Relikten des Großen Vaterländischen Krieges ist in Russland offiziell verboten und in den Tunnelsystemen von Wolgograd nicht ganz ungefährlich. Unsere Taschenlampen werfen ein gespenstisches Licht an die Wände der Katakomben des Krieges. Hier sind auf der Suche nach Militaria die „Schwarzen Arbeiter“ unterwegs, wie die Raubgräber in Russland genannt werden. Roman beteuert, nicht dazu zu gehören.

Nach dem Marsch durch ein wahres Labyrinth gelangen wir in einen großen Kellerraum, der am Boden mit feinem Sand bedeckt ist. Roman deutet mit seiner Lampe auf ein rostiges Etwas. Es ist eine Handgranate, um die wir einen großen Bogen machen. Und dann schon der nächste Fund: ein Gasmaskenbehälter, das deutsche Standardfabrikat. Daneben liegt die dazugehörige Maske im Sand. Sie ist gut erhalten, genauso wie die Munitionskiste eines MG-42. „Hier hatten sich deutsche Landser versteckt“, sagt Roman und fährt fort, „was nämlich die wenigsten wissen, nach der offiziellen Kapitulation von Paulus haben etliche deutsche Soldaten im Untergrund auf eigene Faust weitergekämpft.“ Bis in den März 1943 soll es bei der Roten Armee in Stalingrad noch zu Verlusten gekommen sein. Roman schüttelt den Kopf: „War das Weiterkämpfen bis zur letzten Patrone blinder Fanatismus, Glaube an den Führer, oder hatten die Soldaten einfach nur Todesangst vor ihren Gegnern?“ Neben den Waffen finden wir ein deutsches Essbesteck, Löffel und Gabel. Ein Anblick, der einen schaudern lässt, wenn man die Berichte über die verheerende Versorgungslage der 6. Armee kennt. Soldaten, die Gras und Rinde verzehrt haben, einige Berichte sprechen sogar von Kannibalismus.

Im Panorama-Museum in Wolgograd ist davon nichts zu sehen oder zu lesen. Hier wird die offizielle Geschichtsschreibung der Roten Armee ausgestellt. „Die Archäologie bringt uns mit ihren Funden den einzelnen Menschen näher“, sagt Galina Oreshina. Für sie ist die Steppe, das ehemalige Schlachtfeld, das authentischere Museum. Doch auch im Panorama-Museum gelingt uns ein sehr berührender Fund: In den Magazinen des Museums wurden deutsche Feldpostbriefe entdeckt, um die sich jahrzehntelang niemand gekümmert hat. An die 500, die allermeisten noch nie veröffentlicht. Jetzt liegen sie vor uns, und das Besondere ist, dass diese Briefe ihre Adressaten nie erreicht haben. Es sind die allerletzten Briefe aus und nach Stalingrad, die nicht mehr aus dem Kessel herauskamen, bzw. die nicht mehr an die Soldaten verteilt wurden. Nach 70 Jahren lesen wir erstmals die erschütternden Zeilen der verzweifelten, eingekesselten und aufgegebenen Soldaten von Hitlers 6. Armee. „Mein Allerliebstes...“, heißt es da. Oder: „Lieber Vater, unsere Lage ist ernst...“.


TV-Tipp

"Die letzten Minuten. Archäologie auf Schlachtfeldern" in der Reihe Terra X, ein Film von Gisela Graichen und Peter Prestel. Sonntag, 17.02.2013 um 19.30 Uhr im ZDF.

Gisela Graichen

Gisela Graichen (RC Hamburg-Dammtor) konzipierte als Fernsehautorin für das ZDF zahlreiche Filmreihen, darunter "Humboldts Erben" und die preisgekrönten Reihen "Schliemanns Erben" und "C 14" über die Forschungsergebnisse der Archäologie. Zuletzt erschienen u.a. "Die Bernsteinstraße. Verborgene Handelswege zwischen Ostsee und Nil" (Rowohlt 2012) und "Geheimbünde. Freimaurer und Illuminaten, Opus Dei und Schwarze Hand" (Rohwolt 2013).

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